Wohnen auf dem Land: Wie die Provinz mit Großstädtern flirtet
1800 Euro für eine Dreiraumwohnung? Viele Städter finden: Dann lieber gleich aufs Land. Dort wirbt man verzweifelt um neue Bewohner.
Berlin ist sein Sehnsuchtsort, das erzählt der Schriftsteller Jan Brandt in seinem jüngsten Buch „Ein Haus auf dem Land/ Eine Wohnung in der Stadt“. 1998 kommt er in die Stadt, angezogen von dem Versprechen, dass sich hier auch ein freischaffender Künstler locker durchschlagen kann. Aber mit den Jahren lässt Berlin ihn hängen: Alles wird immer teurer, die Freiräume schrumpfen auf ein paar Quadratmeter zusammen. Als ihm sein Vermieter die Wohnung kündigt, versucht er fast ein Jahr lang vergeblich, eine neue bezahlbare Bleibe zu finden. Einer wie er hat hier keine Chance mehr. Schließlich packt er seine Koffer und zieht in ein schleswig-holsteinisches Kaff – in das Haus seines Urgroßvaters.
Wie Brandt ergeht es vielen, die Berlin dafür geliebt haben, dass hier jede Form von Existenz möglich schien. Und die jetzt spüren: Die Liebe wird schal. Die Stadt ist zu voll, zu teuer, zu luxussaniert. Wird die Provinz jetzt zu dem, was die übervolle Metropole nicht mehr sein kann?
Zum sechsten Mal in Folge hat das Land Brandenburg 2018 einen Einwohnerzuwachs ermittelt. Im vergangenen Jahr übertrafen die Zuzüge die Wegzüge um 20 800 Menschen. Drei Viertel von ihnen stammen aus Berlin: Es kamen 15 900 Leute mehr in die Mark als sie Richtung Hauptstadt verließen.
Noch beschränkt sich diese Tendenz auf das Umland der Großstädte. Die Gemeinden in der tiefen Provinz kämpfen weiter mit Abwanderung. Die Bewohner laufen ihnen weg, weil Arbeitsplätze fehlen, ihnen die Wege zu Schulen, Ärzten und Geschäften zu weit und das Internet zu langsam sind. Vor allem die Mobilen, Jungen, Qualifizierten gehen – der berüchtigte Braindrain. Eine Abwärtsspirale, von der in Deutschland Tausende kleiner Gemeinden betroffen sind. Prognosen zufolge könnten manche Landkreise in Brandenburg bis 2035 fast ein Drittel der Bewohner verlieren. Irgendwann macht auch die letzte Gaststätte dicht, die Ortskerne verwaisen.
Doch so schnell geben manche der betroffenen Orte nicht auf. Vielleicht schlägt ja jetzt ihre Stunde? Weil sie genau das im Überfluss bieten, woran es den Metropolregionen mangelt: Natur, Platz, Gestaltbarkeit. Für das gleiche Geld, das man in Berlin für eine Dreizimmerwohnung hinblättert, kann man irgendwo draußen einen alten Hof mitsamt Garten und Nebengebäuden bekommen. Und sich ein Atelier, eine Werkstatt oder einen Proberaum einrichten – ohne dass der Wäscheständer den Träumen im Weg steht.
Damit keiner ihre Reize übersieht, hängen sich die Orte auf dem Land richtig rein: Sie laden Interessenten zum Probewohnen und -arbeiten ein, sponsern jungen Familien ein Quartier während der Elternzeit, unterstützen sie bei Wohnungs- und Kitasuche, verteilen Begrüßungsgelder. Während in Berlin zuletzt eine Zuzugssperre ins Gerede kam, will die Provinz neue Bewohner und deren Ideen für sich gewinnen.
Wittenberge
Die Kleinstadt Wittenberge in der Prignitz hat in diesem Jahr den „Summer of Pioneers“ ausgerufen und 20 Interessierte für sechs Monate zum gemeinsamen Probewohnen eingeladen. Das bedeutet, die Stadt stellt ihren Gästen eine Unterkunft und einen Arbeitsplatz in einem neuen Coworking-Space. Weil es Wittenberge an großen Arbeitgebern mangelt, zielte die Ausschreibung auf Leute, die ihre Jobs gleich mitbringen, also etwa Freiberufler, Kreative, Start-upper oder Computerfachleute. In der Zeit von Juli bis Dezember sind sie nun vor Ort und können in der Alten Ölmühle mit Blick auf die Elbe arbeiten. Die Kosten für Unterkunft und Arbeitsplatz: 150 Euro im Monat bei Unterbringung in einem Zimmer, 300 Euro für eine Wohnung.
Dass sich Wittenberge, „das Tor zur Elbtalaue“, so großzügig zeigt, hat Gründe. Nach der Wende ist die Zahl der Einwohner von gut 28 000 im Jahr 1990 auf rund 17 000 gesunken. Dabei will die Politik nicht länger zusehen. Und die Stadt stattdessen als „attraktiven Wohn- und Schaffensort für Digitalarbeiter“ ins Gespräch bringen. Daraus spricht neues Selbstbewusstsein – bisher ist Wittenberges Topvorteil, dass es genau zwischen Hamburg und Berlin liegt und der ICE dort hält.
Die Stadt legt Wert darauf, dass sich die „Gastarbeiter“ während ihres Aufenthalts vor Ort engagieren und etwas zurückgeben. „Es soll ein fairer Deal sein“, sagt Frederik Fischer, 38, der das Projekt mitentwickelt hat und nun für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist. So unterstützt ein Teilnehmer zum Beispiel die Stadtverwaltung im Bereich Social Media, und eine andere Probewohnerin, eine Journalistin, bietet Workshops zum kreativen Schreiben an. Auch der Coworking-Space steht während der Projektphase allen Wittenbergern offen. Ob der geplante „Wissenstransfer zwischen Anwohnern und Zugezogenen“ wirklich so einfach ist?
Zwischen der ersten Idee zum Projekt und dem Einzug der Testbewohner sind nicht mal fünf Monate vergangen. Für Fischer der Beweis dafür, was jenseits der urbanen Zentren möglich ist: „Man kann seine Ideen dort kurzfristig umsetzen und erhält dafür Unterstützung und Wertschätzung. In Berlin kann man so ein Leben inzwischen kaum noch führen.“
Und was ist mit dem Internet? Dem Handyempfang? Kein Problem, meint Fischer. Nur im Zug zwischen Spandau und Wittenberge versinke man komplett im Funkloch. Aber irgendwann müssen die Kreativen ja mal auf ihre Ideen kommen.
Görlitz
Görlitz gilt als „schönste Stadt Deutschlands“, die historische Altstadt dient regelmäßig als Filmkulisse. Sogar Hollywood war schon da: Quentin Tarantino hat „Inglourious Basterds“ dort gedreht, einige Sequenzen aus „Grand Budapest Hotel“ sind ebenfalls hier entstanden. Seitdem geht die Stadt auch als „Görliwood“ durch. Die Leute sind trotzdem weggelaufen: Nach der Wende hat der Ort mehr als ein Viertel seiner Bevölkerung verloren. Es gibt zu wenige Jobs, die Arbeitslosigkeit ist hoch.
Wenn die Einwohnerzahl seit 2014 wieder leicht steigt, dann deswegen, weil das pittoreske Stadtbild und die Ruhe vermehrt Senioren anziehen. Die Jungen aber fehlen in „Pensionopolis“. Deswegen hat Görlitz in diesem Jahr bereits zum dritten Mal ein Probewohnen ausgeschrieben, wodurch „junge und gut ausgebildete Menschen“ für die Stadt begeistert werden sollen. Hauptzielgruppe sind auch hier Kreativschaffende, etwa Fotografen, Filmemacherinnen, Künstler und andere Selbstständige, also digitale Nomaden, die überall arbeiten und ihre Arbeit mitbringen können. Diesmal sind es 54 Personen, die für je vier Wochen kostenlos in Görlitz wohnen und arbeiten. Natürlich in einem Coworking-Space, auf einer Industriebrache. Weil der Kreativwirtschaft ein besonderes Potenzial für die Entwicklung einer Stadt zugesprochen wird, begleitet man das Projekt „Stadt auf Probe“ wissenschaftlich. Die Forscher wollen herausfinden, was eine Stadt braucht, damit sich Kreative dort ansiedeln.
Was schon feststeht: Breitband-Internet und gute Erreichbarkeit sind entscheidend. Da steht Görlitz noch nicht so gut da. Aus Deutschlands östlichster Stadt kann man zwar bequem zum Einkaufen nach Polen rüberlaufen, doch an den Rest der Welt ist die Stadt weniger nahtlos angebunden: Wer aus Berlin mit dem Zug dorthin möchte, muss erst den Regionalexpress nehmen und dann in Cottbus in die Regionalbahn umsteigen. Auch die breite Unterstützung der rechten Parteien kratzt am Image. Nach der letzten Kommunalwahl wäre in Görlitz um ein Haar der erste AfD-Oberbürgermeister Deutschlands ins Amt gekommen.
Eberswalde
Die Social-Media-Kanäle vibrieren: Auch Eberswalde wirbt um Zuzügler. Vor kurzem endete die Verlosung einiger langer Probewochenenden für je zwei Personen in einer städtischen Wohnung. Zusätzlich erhalten die Gewinner freien Eintritt zu Eberswaldes Hauptattraktionen, beispielsweise für den Zoo, das Schwimmbad oder den Weihnachtsmarkt.
Das Angebot fällt also nicht ganz so üppig aus wie in den entlegeneren Orten: Ein Schnupperwochenende muss reichen. Immerhin geht die Stadt als Berliner Speckgürtel durch; wer hier wohnt, kann zur Arbeit pendeln. Die Bahn verbindet die beiden Städte zweimal pro Stunde, der Regionalexpress schafft die Strecke sogar in 35 Minuten.
Reizvoll ist die „Waldstadt Eberswalde“ etwa für junge Familien, die sich nach mehr Platz und Grün sehnen. Seit 2013 ist die Einwohnerzahl wieder moderat angestiegen, 2018 lebten dort mehr als 41 000 Menschen. Den drastischen Bevölkerungsrückgang nach der Wende kann der gegenwärtige Aufschwung beim Zuzug aber noch nicht wettmachen: Seit 1990 hat die Stadt rund ein Viertel ihrer Einwohner verloren. Entsprechend offen zeigt sich Eberswalde beim Kreis der möglichen Teilnehmer für sein Probewohnen. Jeder über 18 Jahre, der noch keinen Wohnsitz in Eberswalde hat, kann bei der Verlosung mitmachen.
eberswalde.de/start/aktuell/probewohnen
Klein Priebus / Oberlausitz
Klein Priebus ist ein Ort, der bei Städtern leicht Beklemmungen auslösen kann: Er hat rund 80 Einwohner, der Bus fährt nur alle paar Stunden, und einen Bäcker gibt es auch nicht. Selbst diejenigen, die von mehr Ruhe träumen, können da leicht kalte Füße kriegen. Hält man das aus? So viel Gegend, so wenig Zerstreuung? Will man wirklich dieses Hardcore-Landleben – oder doch nur ein bisschen Stadtrand-Idylle?
Arielle Kohlschmidt, 42, und Jan Hufenbach, 57, haben den Schritt gewagt, vor zehn Jahren schon. Sie kamen damals aus Berlin und wissen genau, welche Fragen man hat, wenn man mit dieser Entscheidung ringt. Weil sie selbst so glücklich sind mit ihrem Dasein in der Provinz, dass sie ihre Begeisterung mit der Welt teilen wollen, haben sie vor zwei Jahren die „Raumpionierstation Oberlausitz“ gegründet, eine Anlaufstelle für neugierige Städter. Ihnen beantworten sie alle Fragen, nicht nur nach Jobs, Kitaplätzen und Neonazis, sondern auch, wie die Leute auf dem Land so ticken und wie heftig der Stadtentzug ausfällt. Denn früher oder später schlägt der bei fast jedem zu. Wer in seinem Berliner Kiez zu jeder Tages- und Nachtzeit vegan, vegetarisch oder glutenfrei essen gehen kann, muss sich erst mal daran gewöhnen, für das nächste Lokal ins Nachbardorf zu fahren – und dort Piroggen mit Wurst auf den Teller zu bekommen.
Andererseits: Selber gründen kann man hier so gut wie alles, es gibt ja noch nicht viel. Dafür jede Menge Häuser und Grundstücke, die für kleines Geld zu haben sind. Wer neu hinzukommt, kann hier also tatsächlich Pionierarbeit leisten. Damit die Neuankömmlinge diejenigen finden und kennenlernen, die schon da sind, kümmern sich die „Raumpioniere“ auch um die Vernetzung untereinander. Über ihre Internetseite kann man zum Beispiel Leute finden, die freie Immobilien vermitteln, Schulen gründen oder Start-ups fördern.
Kohlschmidt sagt, das sei für die meisten die wichtigste Frage: Treffe ich da Menschen, die mir ähnlich sind? Kann ich mit denen etwas Interessantes machen in meinem Leben? Auch diejenigen, die schon länger da wohnen, sind oft ganz heiß auf neue Bekanntschaften und Kontakte. Weil die Oberlausitz mit schrumpfenden Einwohnerzahlen und Überalterung kämpft, fördert inzwischen der Freistaat Sachsen die „Raumpionierstation“. Denn Vorreiter können eine Region so entwickeln, dass ihnen bald Nachzügler folgen.
Susanne Grautmann
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