Kurztrip nach Brandenburg: Guten Morgen, Eberswalde
Reggae und Brombeeren satt, erschwingliche Mieten, eine nachhaltige Hochschule. Im Barnim lässt sich der Aufschwung besichtigen.
Wer mit dem Zug aus Berlin ankommt, schlappe 35 Minuten von Hauptbahnhof zu Hauptbahnhof, und auf den öden Vorplatz von Eberswalde tritt, dann an Dönerladen und Billigshops vorbei ins Zentrum fährt, der fragt sich, ob er womöglich das Beste schon hinter, vor oder neben sich hat: all die Wälder, das Biosphärenreservat, den Werbellinsee und den Schwärzesee, das Kloster Chorin. Wobei, ein wenig stutzig könnte man schon werden. Beim Anblick all der Fahrradständer am Hauptbahnhof, bei der Fahrt im hybriden Oberleitungsbus – und da, was ist das, dieser über und über mit Fotos bedruckte Kubus? (So viel sei schon verraten: die Hochschulbibliothek der Stararchitekten Herzog & de Meuron, die Drucke außen stammen vom Fotokünstler Thomas Ruff).
Zora Pepita Pitz und Sebastian Weiß ist es dennoch passiert: Sie haben sich bei der ersten Begegnung in Eberswalde verliebt. Eigentlich wollten sie nur eine Freundin zum offenen Tag der Hochschule begleiten. Aber die Köchin und der Krankenpfleger waren gleich hin und weg. Strahlend stehen Pitz und Weiß in ihrem Café KoBaMugasmus – Pitz in der offenen Küche, Weiß am Tresen. Es gibt internationale Tapasteller, jeden Mittag aus einer anderen Region, würzigen Flammkuchen mit Bergkäse, vegane Mohntorte, alles mit Biozutaten aus der Region. Das Glas Wasser und das Lächeln dazu gibt’s gratis.
Ein Café eröffnen? Joh joh, hieß es auf dem Amt
Den Traum vom eigenen vegetarischen Café, schon lange gehegt, hätten sie sich in Berlin nicht erfüllen können. Abgesehen von den Mieten, allein die Ablösesumme für die Lokaleinrichtung hätte Zehntausende gekostet. In Eberswalde hat Pitz klein angefangen, erst Törtchen für die „Krumme Gurke“, den Bioladen in derselben Straße, gebacken, dann Catering, Weihnachtsmarkt, schließlich Crowdfunding. Die heutigen Räume, ein paar Minuten von der Hochschule entfernt, standen drei Jahre lang leer, zuletzt war eine Shisha-Bar drin. Pitz und Weiß haben alles selbst renoviert, die Wände gelb und rot gestrichen. Viele der Omma-Wohnzimmermöbel bekamen sie geschenkt, genau wie die Blümchenteller; das Sofa hat das Altenheim von gegenüber gespendet.
Das im Oktober eröffnete Café, sagen Gäste, hatte Eberswalde noch gefehlt. Die kulinarische Entwicklung hat bisher nicht ganz mit dem generellen Aufschwung der Stadt mitgehalten. Immerhin gibt es jetzt einen Burgerladen, den „Brandenburger“, eine exzellente Eismanufaktur, „Uckerland“, und eine hippe Pizzeria, „Tradizionale me Gusta“. Und seit 25 Jahren einen Biosupermarkt, „Globus“.
Pitz, 24, und Weiß, 36, schwärmen davon, wie freundlich die Menschen seien, wie willkommen sie sich fühlten und wie unbürokratisch alles über die Bühne ging. Ein Café? Joh joh, hieß es in der Behörde. Und bei der Anmeldung im Einwohnermeldeamt gab’s zur Begrüßung einen Jutebeutel mit der Aufschrift „Allet Jute in Eberswalde“.
Eberswalde ist bekannt. Für seine Spritzkuchen, die den Reisenden einst als Souvenirs bis zum Bahnhof gebracht wurden. Für seine Würstchen, die zu DDR-Zeiten massenhaft produziert wurden. Für sein Schiffshebewerk, ein imposantes Denkmal des Industriezeitalters, das die Stadt zum Boomen brachte. Für den kleinen Zoo. Und für Amadeo Antonio.
Der Angolaner wurde 1990 von Neonazis zu Tode geprügelt – der erste rassistisch motivierte Totschlag nach der Wende. Seine jungen Mörder kamen mit ein paar Jahren Haft davon. Damit hatte Eberswalde seinen dumpfen Ruf weg.
Die 90er Jahre waren eine schlimme Zeit, voller Angst vor den Rechten, erzählt Udo Muszynski beim Kaffee auf dem Marktplatz. Der 58-Jährige sieht aus, als würde er hier Urlaub machen. Gestreiftes T-Shirt wie am Meer, ein Strohhut auf dem strubbeligen Haar. Von wegen: Muszynski ist rund um die Uhr im Einsatz für die Eberswalder Kultur. Der Ost-Berliner, gelernter Außenhandelskaufmann, war schon in den 80er Jahren in die Region gezogen, „für ein selbstbestimmteres Leben“, wohnte in einer Kommune auf dem Land, wurde Mitglied der Bürgerrechtsbewegung und schließlich Impresario.
Heute ziehen aus Berlin junge Familien hier
Vor einem Vierteljahrhundert, damals noch in einer Garage, gründete er das internationale Jazzfestival, das jährlich im Frühjahr stattfindet, später kamen Gartenkonzerte hinzu, winters ein kultursatter Weihnachtsmarkt, sommers das Open-Air-Kino im Forstbotanischen Garten, einem Schmuckstück der Stadt, das zugleich als Forschungslabor der Hochschule dient. 180 Leute kamen vor zwei Tagen zu „Gundermann“ ins Freiluftkino, an einem Werktag abends um halb zehn. Zum Reggae-Konzert dort am nächsten Abend werden 350 Zuhörer erscheinen. Stolze Zahlen bei nur 31 400 Einwohnern, Tendenz steigend.
Nach der Wende, mit dem Niedergang der Industrie, liefen die Menschen zu Zehntausenden aus dem „Wuppertal Brandenburgs“ weg. Jetzt ziehen junge Familien hier her, wo sie beides haben, Natur und Kultur, erschwingliche Mieten, kurze Wege, selbst nach Berlin, falls sie dort arbeiten wollen. Studenten bleiben, auch wenn sie mit dem Studium fertig sind.
Den Beginn des Aufschwungs, auch eines anderen Selbstbewusstseins kann man ziemlich genau datieren. 2007 bekam Eberswalde ein neues Zentrum. Das alte war im Krieg schwer zerstört worden, in den letzten Wochen noch hatten die Deutschen selbst Brandbomben abgeworfen, um den Ort nicht heil den Russen zu überlassen. 2007 wurde der Bau der neuen Kreisverwaltung eröffnet, nach Paul Wunderlich benannt, dem in Eberswalde geborenen Künstler.
Der Wunderlich-Komplex besticht weniger durch seine Architektur als durch sein Konzept: eins der energieeffizientesten Verwaltungsgebäude Deutschlands. Und eins der lebendigsten. Neben Arbeiten von Paul Wunderlich (Geschmackssache!) werden auch weitere Ausstellungen gezeigt. Zurzeit finden Kreissitzungen unter den Augen von Beuys statt. Wenn das nichts mit der Politik macht.
Am 1. Juli 2007 wurde das Wunderlich-Haus eingeweiht, am 14. Juli 2007 hieß es zum ersten Mal „Guten Morgen Eberswalde“, eine einzigartige Veranstaltungsreihe, organisiert von Udo Muszynski, der inzwischen schon in andere Städte eingeladen wird, um davon zu erzählen. Jeden Samstagmorgen um halb elf, 52 Mal im Jahr, Theater, Musik, Literatur für alle, Eintritt frei, Spenden willkommen. Je nach Wetterlage auf dem ebenfalls sanierten Marktplatz, im Wunderlich-Haus, in dem im September auch das Filmfestival „Provinziale“ stattfindet oder, wie an diesem Samstag, im Hof.
50 Zuhörer bei einer Dichterlesung!
50 Leute sitzen im Halbkreis um den Lyriker Gisbert Amm herum, der im nahen Joachimsthal eine Poesie-Buchhandlung betreibt. 50 Zuhörer bei einer Dichterlesung! Amm ist ein lebendiger Vorleser und Erzähler, aber das konnten die Leute ja nicht vorher wissen. Das ist das Schöne an „Guten Morgen Eberswalde“, sagt Muszynski: dass die Leute sich auch mal schwierigen Sachen, ja, Zumutungen aussetzen, zeitgenössischer Musik zum Beispiel. Wenn es ihnen nicht gefallen hat, kommen sie beim nächsten Mal trotzdem wieder. Ein lässiges Format, eine halbe bis gute Stunde, hinterher erledigt man seine Einkäufe, leiht sich in der Bibliothek Lektüre aus, trinkt Kaffee im Café Gustav oder geht am nahen Finowkanal spazieren.
Dort, am Kanal, stehen zur Linken pralle Brombeerhecken, die Passanten eifrig abernten, zur Rechten Blumenwiesen, alle paar Hundert Meter ein Holzsteg. Auf einem sitzen zwei Jungs. Ob man im Kanal schwimmen kann? Nö. Die Strömung ist zu stark. Aber Bötchen fahren, das geht schon. An der Schleuse, mitten in der Stadt, mietet sich ein junges Paar ein Kanu. Auf dem Treidelweg kann man kilometerlang radeln.
Die Natur in der Stadt und das Wunderlich-Haus sind nicht das ganze Geheimnis von Eberswalde. Schon bei der Lesung konnte man neben Spritzkuchen von Bäcker Wiese auch Kaffee bekommen – Kaffee in grünen Pfandbechern, entwickelt an der Hochschule Eberswalde.
Als sich die Fachhochschule 2010 in Hochschule für nachhaltige Entwicklung umbenannte, war das weit mehr als ein modischer Etikettenwechsel, nämlich eine Neuausrichtung der traditionsreichen Institution. Schon 1830 zog die Forstakademie von Berlin hier raus, in der DDR wurde die Hochschule abgeschafft, nach der Wende neu gegründet. Heute gibt es vier Fachbereiche: Wald und Umwelt, Landschaftsplanung und Naturschutz, Holzingenieurwesen und Nachhaltige Wirtschaft. In den vergangenen Jahren achtet die sehr praxisnahe Hochschule verstärkt darauf, dass das, was hier gelehrt, auch gelebt wird. Darauf, dass man interdisziplinär arbeitet und die Vernetzung mit der Stadt noch enger wird.
Mit dem Lastenrad durch die Stadt
Der grüne Pfandbecher ist ein Beispiel dafür. In den kann man sich in der Mensa Kaffee einschenken lassen und den leeren Becher dann zum Beispiel im Café Gustav einlösen. Denn auch Björn Wiese – alteingesessener Bäcker, schon Vater und Großvater standen in der Backstube – denkt zunehmend ökologisch, setzt auf Sauerteigbrot ohne Zusätze, fährt neuerdings mit dem Lastenrad zur Arbeit und durch die Stadt, ein Werbeträger der Nachhaltigkeit. Der 48-jährige Wiese wird mittlerweile sogar zu Vorträgen an die Hochschule eingeladen, etwa zum Thema Lebensmittelverschwendung. Studenten entwarfen daraufhin einen Brotbeutel, der nun in der Bäckerei gegenüber vom Stadtcampus verkauft wird.
Überhaupt: der Campus. Dort stehen die historischen Gebäude wie selbstverständlich neben neuen, energieeffizienten aus Holz. Der Campus gleicht einer kleinen grünen Oase im Zentrum, offen für alle. So setzt man sich ein bisschen unter den Baum, in dem eine Discokugel hängt, guckt sich die preisgekrönte, mit Fotos bedruckte Hochschulbibliothek an, die innen funktional ist.
Von hier läuft man durch den dahinterliegenden Park am Weidendamm, am Rande Villen, in denen zum Teil WGs leben, weiter durch den Buchenwald zum Waldcampus. Linda Loreen Loose genießt diesen kurzen, grünen Weg. Sie macht ihren Master in nachhaltiger Unternehmensführung, ist studentische Vizepräsidentin der Hochschule. Am Anfang habe sie sich fremd gefühlt in Eberswalde, gibt die 24-Jährige – lange dunkle Haare, locker fallendes Sommerkleid – zu. Vorbei. Für Loose wie für viele, die in die Stadt gezogen sind, wurde Eberswalde zum Ort eines persönlichen Wandels. „Weil ich hier Anregungen bekomme, Sachen ganz anders zu machen.“
Was brauche ich im Leben? Was nicht? Das sind die Fragen, die sie beschäftigen. Kleidung und Make-up sind ihr wichtig, das ist unter Ökos nicht immer gerne sehen. Aber Loose hat beschlossen: So bin ich. Und kauft ihr Smartphone Second Hand, Obst und Gemüse kriegt sie von Freunden mit Garten. Sie mag den ausgeprägten Gemeinschaftsgeist. Und: Eberswalde ist nicht nur günstiger als Berlin, sondern auch „überschaubarer, gestaltbarer“, sagt Loose.
Den Wandel hat die Stadt selbst zum Motto erklärt. Wandel steht zusammen mit Begriffen wie Toleranz, Wald, Vielfalt, Glück, Familie, Zukunft, auf dem bunten Banner, das vor’m Rathaus hängt. Durch den Mord an Amadeo Antonio wurde man in Eberswalde früher als anderswo sensibilisiert für Rassismus. Dass die Stadtbibliothek seinen Namen trägt, ist eine Mahnung.
Eine zentrale Rolle für die Entwicklung einer Zivilgesellschaft, einer bürgerlichen Mitte, spielt dabei der Bürgermeister: Friedhelm Boginski von der FDP. Als aufrechter Mann ist er allseits geschätzt, seit 13 Jahren im Amt sowie partei- und interessenübergreifend aktiv. Der frühere Schulleiter führte auch das Kulturamt wieder ein, das zuvor abgeschafft worden war.
Dunkelhäutige Bewohner hören jetzt häufiger rassistische Bemerkungen
Bei der Europawahl im Mai hat die AfD in Eberswalde mit 13,3 Prozent exakt so viele Stimmen wie die Linke bekommen; die SPD war mit 14,5 Prozent die stärkste Partei, die Grünen brachten es auf 10,3. Mal sehen, was die Landtagswahl an diesem Sonntag ergibt. Dunkelhäutige Bewohner kriegen jetzt wieder häufiger rassistische Bemerkungen zu hören.
Es besteht schon eine Gefahr der Spaltung der Stadt. In eine Blase einerseits, wie sie die, die drinnen sind, selbst immer wieder nennen. Und den Rest andererseits. Eine Spaltung, die auch geografische Gründe hat. Die Stadt streckt sich zehn Kilometer in die Länge und zerfällt in zwei Teile: Eberswalde und Finow. Ursprünglich getrennte Gemeinden, wurden die beiden 1970 zusammengelegt, nach der Wende fiel Finow als Teil des Namens wieder unter den Tisch. Dort, im Arbeiterbezirk mit dem Plattenbauviertel, in dem viele Wohnungen leer stehen, fern des Zentrums, kann man sich leicht als Bürger zweiter Klasse fühlen.
Da Kultur und Politik in Eberswalde eng verknüpft sind, gibt es nun Bemühungen, auch dort präsent zu sein: Mit der von Impresario Udo Muszynski kuratierten Galerie auf Zeit, „Fenster“. Oder mit dem Kanaltheater, das von der Bürgerstiftung getragen wird, einer Mischung aus Dokumentarischem und Fiktionalem, das sich mit Themen der Region beschäftigt, erarbeitet von Theatermachern und Einwohnern. Gerade wurde der zweite Teil einer Soap aufgeführt: „Mandy kehrt zurück“. Was sie dabei erlebt? Man kann es selbst erfahren, nur 35 Minuten mit dem Zug von Berlin entfernt.
Die Reise wurde unterstützt von Brandenburg-Tourismus.
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Susanne Kippenberger