30 Jahre UN-Kinderrechtskonvention: Wie der Fortschritt weltweit bedroht wird
Vor 30 Jahren wurde die UN-Kinderrechtskonvention verabschiedet. Es war eine welthistorische Entscheidung. Manche stellen sie wieder infrage.
„Niemals Gewalt!“ Das war der Refrain der Rede von Astrid Lindgren im Oktober 1978 in der Frankfurter Paulskirche, als sie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt. Millionen lesen bis heute die Bücher der schwedischen Erfinderin von „Pippi Langstrumpf“. 1978 sprach die Autorin, die Kinder so gut verstand, über Frieden als unerreichbar scheinende Utopie. „Ich glaube“, sagte sie, „wir müssen von Grund auf beginnen. Bei den Kindern.“ Im Jahr darauf war Schweden das erste und einzige Land der Erde, das den Schutz der Kinder vor Gewalt ins Gesetzbuch schrieb. In Deutschland trat ein vergleichbares Gesetz erst im Dezember 2000 unter der rot-grünen Regierung in Kraft. Vorher hatten das konservative Kräfte jahrzehntelang verhindert.
1979 war von den Vereinten Nationen (UN) zum „Jahr des Kindes“ erklärt worden, und noch einmal ein Jahrzehnt nach Schwedens damaliger rechtlicher Pionierleistung nahm am 20. November 1989 die Generalversammlung der Uno „Das Übereinkommen über die Rechte des Kindes“ an, die UN-Kinderrechtskonvention, die auf Englisch „Convention on the Rights of the Child“ heißt und UNCRC abgekürzt wird. Es war eine welthistorische Entscheidung, denn hinter den fünf Lettern steckt nichts weniger als die Utopie, von der Astrid Lindgren ihr Publikum überzeugen wollte. Inzwischen haben fast alle Staaten der Erde die Kinderrechtskonvention ratifiziert. Doch in vielen bleiben zahlreiche Seiten der Konvention noch kaum mehr als Papier.
Tierschutzvereine haben achtmal mehr Mitglieder
Als Familienministerin hatte Manuela Schwesig erklärt, worum es der UNCRC im Kern geht: „Alle Kinder – egal wo sie leben, von wo sie kommen, wie alt sie sind, wie sie aussehen oder welcher Religion sie angehören – haben das Recht auf Schutz vor Gewalt, auf Beteiligung, auf Bildung, auf Gesundheit, auf eine eigene Meinung und viele weitere Rechte.“ Gemeint mit den „weiteren“ Rechten sind essenzielle, wie das Recht auf Ernährung und Obdach, das Recht, frei von ökonomischer und sexueller Ausbeutung zu leben, das Recht auf einen Namen, eine Staatszugehörigkeit und Identität, auf freie Wahl und Ausübung eines Glaubens, auf gesundheitliche Versorgung, auf Kenntnis der eigenen Herkunft und Kontakt zu beiden Elternteilen, und – sehr wichtig auch das – ein Recht auf Gehörtwerden, wo es um die eigenen Belange geht, etwa beim Streit um das Sorgerecht vor Gericht.
Vieles erscheint hierzulande selbstverständlich, doch noch immer ist der Zugang zu Kinderrechten teils verteilt wie bei einer Lotterie, je nachdem, ob ein Kind das Glück hat, durch Zufall an Eltern, Ärzte, Lehrer und Erzieher zu geraten, die von der Rechtsposition des Kindes mehr oder weniger verstehen. In Deutschland haben Vereine für Tierschutz achtmal mehr Mitglieder als Vereine für Kinderschutz. Tier- und Naturschutz sind verankert in der Verfassung, Kinderrechte sind es nicht. Für niedliche Kätzchen können sich viele Zeitgenossen mehr erwärmen als für Kinder.
Warum sollten Kinderrechte ins Grundgesetz?
Die Forderung, Kinderrechte ins Grundgesetz aufzunehmen, ist ein zentrales Anliegen der Experten und Organisationen, die jetzt an sie erinnern [kinderrechte-ins-grundgesetz.de], wenn der 30. Jahrestag der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen gefeiert wird. Bekannt zu diesem Ziel hat sich 2018 auch der Koalitionsvertrag der Regierungsparteien. Doch „ein breiteres gesellschaftliches Bewusstsein“ für die Rechtsposition von Kindern muss laut der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen erst noch „geschaffen werden“.
Warum aber sollten Kinderrechte, wie sie die UNCRC vorsieht, überhaupt ins Grundgesetz? Reicht es nicht aus, dass das Grundgesetz für alle gilt, die im Land leben? Dazu erklärt Sebastian Sedlmayr, Leiter der Abteilung „Kinderrechte und Bildung“ bei Unicef Deutschland: „Das Signal lautet: Kinder haben Rechte, Kinder sind wichtig, Kinder müssen angehört und in den Angelegenheiten, die sie betreffen, auch beteiligt werden.“
Gewalt gegen Kinder ist nur in 58 Staaten verboten
Über Jahrhunderte galten solche Forderungen als ungeheuerlich und Kinder als sündige, unsittliche, allein durch Repressalien zu formende Geschöpfe. So schrieb der katholische Theologe Sailer 1809 in seinem Werk „Über Erziehung“, diese sei „ein ewiger, doch heiliger Krieg“ wider das Böse im Kind.
Von der Aufklärung und der ersten Erklärung der Menschenrechte durch die Französische Revolution 1789 dauerte es zweihundert Jahre bis zur UNCRC. Noch in der ersten „Kindercharta“ des Völkerbundes, der „Genfer Erklärung“ vom 26. September 1924, gab es kein Recht auf Bildung. Vielmehr sollte „das Kind in die Lage versetzt werden, seinen Lebensunterhalt zu verdienen“. Die UNCRC verlangt immerhin, dass Kinder nur solche Arbeiten leisten dürfen, die keine „Gefahren“ mit sich bringen oder die „körperliche, geistige, seelische, sittliche oder soziale Entwicklung schädigen“. Kinderarbeit ist daher noch zulässig, solange sie nicht dem Schulbesuch im Weg steht. Auch Gewalt gegen Kinder ist bis heute nur in 58 Staaten komplett verboten, also in Schulen, Heimen, Jugendhaftanstalten, Elternhäusern und Pflegefamilien [endcorporalpunishment.org/countdown]. Überall da, wo das Gewaltverbot fehlt, verstößt der Staat gegen die Kinderrechtskonvention, etwa mit Berufung auf „traditionelle Methoden der Erziehung“ oder den Vorrang der „Elternrechte“.
Global gültige Rechtskonzepte werden heute teils diskreditiert
Die universelle Erklärung der Rechte des Kindes der UNCRC will weltweit dazu beitragen, dass Respekt vor Kindern in Gesetz gegossen wird. Umso problematischer ist es, wenn inzwischen die Idee infrage gestellt wird, dass es global gültige Rechtskonzepte gibt. Aktuelle Strömungen in akademischen, politischen wie religiösen Diskursen argumentieren teils gegen universale Rechtskategorien, indem sie sie als „postkolonial“ und „westlich“ diskreditieren. Identitäre Begründungen werden angeführt, von rechts wie links, von Islamisten wie Evangelikalen, um die universelle Geltung von Rechtsfiguren zu bestreiten, wie die UN sie aufgestellt hat. Dass solche Argumente den Fortschritt hemmen und soziale Ungleichheit legitimieren, wird inzwischen jedoch zunehmend erkannt.
In seinem kürzlich erschienenen Buch „Gegen die Gewalt. Warum Liebe und Gerechtigkeit die besten Waffen sind“ (Kösel Verlag) schildert der renommierte Kriminologe Christian Pfeiffer den langen Weg zur Ächtung privater Gewalt und weist auf den hell leuchtenden Horizont, der durch die Veränderung aufscheint. Seit in Deutschland das Recht auf gewaltfreie Erziehung Gesetz ist, begehen Kinder und Jugendliche Jahr für Jahr signifikant weniger Straftaten. Nicht nur die Empathie, auch die Statistik weist nach: Erfahren Kinder Respekt vor ihren Rechten, dann erlernen sie selber Respekt und geben diese Haltung weiter.
Caroline Fetscher
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