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Sie braucht Schutz. Die Rechte von Kindern müssen endlich gestärkt werden.
© dpa

Kinderrechte im Grundgesetz: Kinderschutz ist die größte soziale Baustelle des Landes

Viel zu oft sind misshandelte Kinder davon abhängig, dass einzelne Erzieher oder Lehrer eingreifen. Es braucht eine flächendeckende Kampagne zum Gewaltschutz. Ein Kommentar.

Auf dem Flur vor dem Lehrerzimmer spricht ein Kollege einen anderen an, irgendwo am Rand von Berlin, im Sommer 2016. Der Schüler A., knapp neun Jahre alt, hat sich ihm anvertraut. Wenn er zu spät nach Hause kommt, schlägt sein Vater ihm mit einem Bambusrohr auf die Fußsohlen. Der Junge kann kaum auftreten, er hat nicht geschlafen. „Misch dich da nicht ein“, rät der Kollege. „Bei denen ist das eben so.“ Es handle sich um eine etwas rabiate türkische „Sitte“. Ginge ein Erwachsener so mit einem anderen um, wäre das skandalös und hätte einen Prozess wegen Körperverletzung zur Folge. Doch nur ein Bruchteil der Taten gegen Kinder kommt vor Gericht. Kinder schweigen in Angst, Lehrer und Ärzte zögern, Jugendämter wollen „kultursensibel“ sein.

Justizminister Heiko Maas will jetzt Kinderrechte ins Grundgesetz schreiben lassen, als Erweiterung des Artikel 6 zu Ehe und Familie. Unnötig, hält die CDU den Sozialdemokraten entgegen, Kinder seien ohnehin Grundrechtsträger, wie alle im Land. Das ist wahr. Zudem gilt heute, was CDU und CSU über Jahrzehnte mit züchtigungsfreudigem Eifer verhindert hatten: der klare Gesetzestext „Kinder haben das Recht auf gewaltfreie Erziehung“.

Erst im Dezember 2000 gelang einer rotgrünen Regierung diese Reform von Paragraf 1631 Absatz 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs. Die Gesetzesgrundlage ist also da. Doch gibt es etwa für das „Kindeswohl“ juristisch keine klare Definition, die Experten wie der Jurist Ludwig Salgo seit Jahren anmahnen. Wie viele Quadratmeter Wohnraum einem Kind zustehen, wird zum Beispiel, anders als für Inhaftierte, mit Vorsatz nicht festgelegt – es hätte Konsequenzen für die Sozialpolitik.

Im politischen Gebüsch heißt es: Misch dich da nicht ein

Vor allem fehlte den Parteien bisher der Wille, mit bundesweiten Kampagnen über den Gewaltschutz für Kinder zu informieren. Denn Eltern, nicht Kinder, sind das Wahlvolk. Obgleich über 90 Prozent der Fälle von Misshandlung und Missbrauch in Familien geschehen, flüstert es noch immer im politischen Gebüsch: Misch dich da nicht ein. In die richtige Richtung geht der gestern von der Bundesregierung verabschiedete Entwurf zu einem Kinder- und Jugendstärkungsgesetz von Familienministerin Manuela Schwesig, der das traumatisierende Gezerre zwischen Pflegefamilien und leiblichen Familien verringern soll.

Um jedoch Eltern flächendeckend zu erreichen, müsste von der Hebamme über Kitas und Schulen, von Kinderärzten über Polizei und Ämter endlich die Kampagne zum Gewaltschutz bundesweit Realität werden, die es seit 2001 nur in Bruchstücken gab. Egal welcher Herkunft und ob ein Kind direkte Gewalt erfährt oder Wohlstandsverwahrlosung: Das staatliche Wächteramt gilt. Doch noch ist der Staat oft ein Nachtwächter, und Gewaltschutz gleicht einer Lotterie. Hier ist eine Kita-Erzieherin aufmerksam, dort nicht, hier greift ein Jugendamt sinnvoll ein, dort nicht.

Warum dem Kind die Verantwortung zuschieben?

Kinderschutz ist die größte soziale Baugrube des Landes. Um ihren Rand scharen sich die Ministerien für Familie, Justiz, Soziales, Gesundheit und Bildung sowie das Deutsche Institut für Menschenrechte, das Empfehlungen für den Bundestag erarbeiten soll. Eine davon ist aktuell der Vorschlag, landesweit „Anlaufstellen“ mit Ombudsleuten einzurichten, an die Kinder Beschwerden richten können. Wozu das? Jahre würden ins Land gehen, ehe solche Stellen existieren.

Um die Konfrontation der zentralen Adressaten, der „Personensorgeberechtigten“, meistens die Eltern, macht die Idee einen Bogen. Wie sollte ein Neunjähriger mit „nach alter Sitte“ zuschlagenden Eltern eine „Anlaufstelle“ suchen? Warum überhaupt dem Kind die Verantwortung zuschieben? Längst sollte sein Lehrer wissen, wie er reagieren muss.

Minderjährige brauchen da, wo sie sind, Erwachsene, die das Gesetz verstanden haben und sich daran halten: im Kindergarten, in der Schule, im Zuhause. Noch oszillieren im Kinderschutz die Rechtsgüter – Grundrechte des Kindes wider Erziehungsrecht der Eltern, falsch aufgefasster Datenschutz versus Meldepflicht bei Misshandlung. Eine unverzagte, landesweite Kampagne zum Gewaltschutz, zur Implementierung geltender Gesetze: Das ist die Antwort.

Caroline Fetscher

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