Urlaub forever: Wenn die Möwe schreit, sind Sommerferien da
Kek – kriäh – girr – kerreckeckeckeck: Sie sind das Versprechen von Kindheit, Ferien und Sommer. Möwen tricksen Würmer aus und lieben Haribokonfekt. Nur füttern sollte man sie nicht.
Der Knirps kann es nicht fassen. Aufgeregt hüpft der mit Fliege und Weste festlich herausgeputzte Mittelpunkt einer kleinen Familienfeier auf und ab: „’Ne Möwe! Guck mal, ’ne Möwe!“ Der Junge kriegt sich gar nicht wieder ein, hängt sich über die Reling des Ausflugsboots, skandiert im Singsang „’ne Möwe! ’ne Möwe!“ Ungerührt und regungslos bleibt diese auf ihrem Pfahl am Ufer hocken, wie ein Denkmal ihrer selbst: mit aufgeplustertem Körper und eingezogenem Hals auf dünnen Beinchen. Lustiger Vogel.
Es ist, als hätte der Junge mit eigenen Augen das Meer entdeckt. Dabei ist es bloß die Saale, 300 Kilometer von der Ostsee entfernt. Aber was soll’s, es reicht die Verheißung. Denn Möwen sind ein Versprechen: dass die Küste nicht mehr weit ist. Das war schon für die Seeleute so, als es noch kein GPS gab. Man muss nur das Kreischen der Vögel hören, schon fühlt man sich in die Sommerferien versetzt, ans Meer, in die Kindheit. Allein wie sie strahlen, so weiß! Wie elegant sie sich in die Lüfte schwingen und ihre Kurven drehen, als würden sie schweben, die langen, schmalen Flügel weit ausgebreitet.
Gedanken und Erinnerungen fliegen mit, schon ist man wieder in Zandvoort an Zee in den 60er Jahren, in der Bretagne der 80er, im Suffolk der 90er. Urlaub forever: Wahrscheinlich ist das der Grund, warum die Hamburgerinnen sie sich so gern tätowieren lassen. Kein anderes Motiv ist bei ihnen so beliebt.
Auch der alte Brehm war erklärter Möwen-Fan
Bei ihrem Anblick schwebt man im Himmel der Jugend, dreht mit der Möwe Jonathan seine Runden, höher, immer höher, über den Wolken war die Freiheit grenzenlos. Man mag den amerikanischen Bestseller von der „Möwe Jonathan“, die aus dem Clan ausschert, um ihren eigenen Weg zu fliegen, als Hippie-Kitsch abtun. Aber niemand hat den Vogel so anschaulich in Worten und Bildern gewürdigt, wie man es selbst empfand. Dank Jonathan wurde die Möwe in den 70er Jahren zum Inbegriff von Freiheit und Unabhängigkeit. Was sie für die Ureinwohner Amerikas übrigens schon lange war.
Auch der alte Brehm – ja, genau, der von „Brehms Tierleben“ – war erklärter Fan der „Raben des Meeres“, wie er sie nannte. Ansprechend fand er Gestalt und Färbung, anmutig die Bewegungen, anziehend ihr Treiben. Ihre Stellung auf festem Boden nannte er edel und stolz, ihren Gang rasch. „Sie liegen leicht wie Schaumbälle auf den Wogen und stechen durch ihre blendenden Farben von diesen so lebhaft ab, dass sie dem Meer zum wahren Schmucke werden.“ Genau darum ist die Möwe bis heute als Urlaubsfoto- und Kalendermotiv so beliebt: Mit ihrem Schneeweiß macht sie sich prächtig vor blauem Himmel und Meer. Bei ihr denkt man fast automatisch an Sonnenschein.
Bloß die Stimme nannte Brehm „widerlich“, rügte die Tiere dafür, bei der kleinsten Erregung bis zum Überdruss zu kreischen. Und doch hat er selbst darin noch Musik entdeckt. Aus den unterschiedlichen Tönen, die der Zoologe hörte, könnte man eine ganze Comic-Symphonie schreiben: Kek – kriäh – girr – kerreckeckeckeck – dack, dack – ka ka toi – häiä – jeje ...
Rund 55 Arten soll es geben
Für Christian Morgenstern sahen Möwen ja alle aus, als ob sie Emma heißen, wie er in einem Gedicht schrieb. Klingt sympathisch, stimmt aber nicht. Allein die körperliche Spannbreite reicht doch von Dohlen- bis Adlergröße! Da liegt glatt ein halber Meter dazwischen.
Rund 55 Arten soll es geben. Neben den geläufigsten, Silber-, Herings-, See- und Lachmöwe, die Spatelraubmöwe zum Beispiel, die Bürgermeistermöwe, die Weißschwingenmöwe, die Schmarotzerraubmöwe, die Gabelschwanzmöwe. Oder die Dominikanermöwe, die keineswegs so fromm ist, wie sie klingt, sondern neuerdings vor der argentinischen Küste ganze Fleischbrocken aus dem Rücken lebender Wale reißen soll. Die Dreizehenmöwen sind in Deutschland eine Helgoländer Spezialität. Die Einzigen, die auf Felsen brüten und selbst im Winter auf hoher See leben.
Und der Arten werden es immer mehr. Wenn sich die Silber- mit der Steppenmöwe mixt, dann sieht der Laie das nicht mal, doch der Wissenschaftler ist fasziniert. „Man muss nicht nach Galapagos fahren, um die Evolution zu studieren“, schwärmt Ronald Klein, Biologe aus Rostock und Möwenexperte. „Das ist Darwin in action, vor der Haustür.“
Möwenterror! Möwenkrieg! Möwenattacke!
In der Lausitz zum Beispiel kann man die neuen Hybriden bewundern. Im ehemaligen Braunkohlegebiet wurden Inseln in den künstlichen Seen angelegt, auf denen die Vögel brüten. Ganze Kolonien lassen sich dort beobachten, wo es vor 30 Jahren noch keine einzige Möwe gab. Und wenn einem ein Exemplar doch so bekannt vorkommt wie Christian Morgenstern, vielleicht hat man es tatsächlich schon mal gesehen. Möwen können nämlich 30 Jahre alt werden, manche sogar mehr. Allein die Jugend dauert einige Jahre, die brauchen die Kleinen. Um so schön weiß zu werden, wie man sie schätzt. Sie kommen nämlich braun oder gefleckt zur Welt.
Und was, wenn den Berliner die Sehnsucht nach Ost- und Nordsee packt? Dann empfiehlt Derk Ehlert, Wildexperte der Berliner Senatsverwaltung, einen Ausflug an die Spree: Urlaubsgefühle, mitten im Regierungsviertel. Möwen als Sommergäste gibt es dort schon länger, aber dass sie auch in der Hauptstadt brüten, das, sagt der quirlige Experte, fing erst so vor zehn Jahren an. In der Nähe des Wassers suchen sie sich Inseln, Inseln im Häusermeer. Vorzugsweise auf Flachdächern, wo ihnen keine Antennen mehr im Weg stehen, auf dem Kanzleramt zum Beispiel, gründen die Tiere ihre Familien. Da kommen Füchse und Waschbären und wer ihnen sonst so feindlich gesinnt ist – laut Ehlert „alles, was laufen kann und Eier isst“ – nicht mehr hoch. Und Futter gibt’s in der Großstadt genug.
Einige Arten wie die Lachmöwe haben sowieso seit jeher am liebsten im Binnenland gebrütet. Statt dem Kutter folgen sie dem Pflug über den Acker: In der frisch aufgewühlten Erde lassen sich Regenwürmer leichter fangen. Die Dichte in den Städten ist ziemlich neu. Gründe finden sich genug, die Industrialisierung der Landwirtschaft, die Insekten und Würmern schlecht bekommt, Überfischung, Klimaveränderung oder das Schließen der offenen Müllhalden 2005. Wieder eine wichtige Nahrungsquelle weniger.
Wehe, sie kommen Feriengäste zu nahe
Eigentlich waren Fische mal ihre Lieblingsspeise. Nur können Möwen zwar gut schwimmen, aber schlecht tauchen; deswegen schmarotzen sie so gern. Doch Beifang, bisher gefundenes Fressen für sie, darf nicht mehr einfach über Bord geworfen werden. Und es kommen weniger Kutter in die Häfen; ein Großteil des Geschäfts, erklärt Derk Ehlert, wird von riesigen Schiffen auf hoher See abgewickelt. So weit raus fliegt nur die Helgoländer Dreizehenmöwe. Die anderen bleiben lieber in Ufernähe.
Immer häufiger werden Möwen allerdings weniger geliebt als gefürchtet und gehasst, müssen sich mit den Tauben den Titel „Ratten der Lüfte“ teilen. Auf Souvenirs und Postkarten haben Feriengäste sie gern. Aber wehe, die echten Tiere kommen ihnen zu nahe. Dann liest man in der Zeitung Überschriften, als würde Hitchcock persönlich in die Tasten hauen: Möwenterror! Möwenkrieg! Möwenattacke! Kannibalen!
Geschrei, noch lauter als das der angeklagten „Seekrähen“. Dabei ist der Mensch doch selbst schuld, wenn die Wildtiere ihm Fischbrötchen und Eis aus der Hand reißen. Warum hat er sie denn gefüttert?! Kein Wunder, dass diese ihre Scheu verloren, sich daran gewöhnt haben, versorgt zu werden. Die Dreistigkeit wurde ihnen antrainiert. „Feed us, not the seagulls“, kann man auf Abfalleimern an der britischen Küste lesen. Wer jetzt an Nord- oder Ostsee fährt, sollte sich in Acht nehmen. Einmal Möwenfüttern kann 20, 30 Euro kosten. Wiederholungstäter müssen ein paar Tausend zahlen.
„Möwen und Menschen können alles“
Die Vögel sind nun mal gierig, ja, habgierig, neiden selbst eigenen Artgenossen den Fraß. Opportunisten nennt Biologe Ronald Klein sie, „die nehmen, was sie kriegen können“. Auch Müll oder, wenn’s sein muss, Haribokonfekt: Ommo Hüppop von der Vogelwarte Helgoland hat schon mal ein Tier in einen Laden spazieren sehen, das sich eine Tüte schnappte. Nicht weil es ein Süßschnabel war. Wobei es durchaus individuelle kulinarische Vorlieben gibt. Sondern weil die Vögel alles fressen. Wenn die eine Nahrungsquelle versiegt, suchen sie sich halt eine andere.
Was die Anpassungsfähigkeit angeht, sind sie so clever wie der Mensch, mit dem sie ohnehin einige Ähnlichkeit haben. Allroundgenies nennt Hüppop sie beide. „Möwen und Menschen können alles. Aber nichts so spitzenmäßig gut.“
An ihrer Intelligenz zweifeln selbst die Feinde nicht. So kann die Möwe Süß- und Meerwasser trinken; das Salz scheidet sie durch eine Drüse wieder aus. Oder Regenwürmer austricksen. Indem sie in der Gruppe so laut mit den Füßen stampft, dass die armen Würmer glauben, es regne über der Erde. Überhaupt treten die Tiere selten allein auf, ausgeprägte Individualisten wie die Möwe Jonathan gibt’s kaum in der Wirklichkeit. Wobei die Kolonien mehr Zweckbündnis als Freundschaftskreis sind. Möwen pflegen einen ruppigen Umgang miteinander.
Eigentlich sollten sich also alle so freuen wie der Knirps im Binnenland, wenn sie eine Möwe sehen. Es gibt nämlich gar nicht so viele. Und Ronald Klein aus Rostock würde am liebsten jeden Urlauber zum Möwenforscher machen. Sobald man einen Vogel mit Ring am Fuß sieht, rät der Zoologe mit Möwen-Promotion, die Nummer aufzuschreiben und der nächsten Vogelwarte zu melden. Und wenn man die Zahl nicht lesen kann? Da kannte der alte Brehm einen Trick. Um die Tiere anzulocken, schmiss er einfach ein weißes Taschentuch in die Luft. Futterneidisch, wie sie sind, halten die Vögel das für einen der ihren, der sich auf eine Beute stürzt. Also schmeißen sie sich hinterher.