Müll und Mafia: Die Möwen von Rom
Sie sind die neuen Raubvögel Italiens, genährt durch den Müll und die Mafia der ewigen Stadt. Szenen aus einem Land am Rande des Chaos.
Ende Januar 2014 fielen eine Möwe und eine Krähe wie entfesselt über zwei Tauben her, die Papst Franziskus anlässlich des Angelus-Gebets gerade freigelassen hatte. Der Vorgang war unerhört. Am Morgen hatte Franziskus für den Frieden in der Ukraine gebetet. War das Gemetzel die Antwort? Im Internet und den Bistumsblättern brach metaphysisches Fieber aus, denn das Symbolische des Vorgangs stach ins Auge. Hatte sich in den Gemächern des Papstes der Teufel eingenistet? Waren die Raubvögel, die sich auf die Friedenstauben stürzten, Ausgeburten der Hölle? Hatte das Gute, in seinem ewigen Kampf gegen das Böse, wieder eine Niederlage erlitten?
Römer sind es gewohnt, auf der Piazza Navona oder dem Campo dei Fiori zuweilen eine Möwe zu erblicken, die eine Taube mit ein paar Schnabelhieben tötet, ihre Innereien vor den erschreckten Touristen verspeist und das Gefieder auf dem Kopfsteinpflaster zurücklässt. Die Möwenplage hat die Taubenplage abgelöst, es ist eine Plage unter vielen, man wird sie, so denken die Römer, schon überleben, wie man ja auch Nero und Caligula, Andreotti und Berlusconi überlebt hat.
Aber diesmal schlug die Aufregung zu hohe Wellen. Hundertfach gefilmt und fotografiert, wurden die beiden Raubvögel, der weiße und der schwarze, zu bleibenden Stars im Internet. Die Attacke ging durch die Fernsehsender und Boulevard-Zeitungen Europas. Der italienische Tierschutzverein bestürmte den Papst, das Tauben-Ritual abzuschaffen. Das Stadtparlament dekretierte eine Sondersitzung – Thema: „das Risiko, das Möwen in den bewohnten Zonen darstellen“ – und rief einen Untersuchungsausschuss ins Leben, der dann in den römischen Katakomben verschwunden ist. „Le Monde“ machte sich in einem Artikel über das hektische Getue lustig, und die römischen Zeitungen veranlassten ihre Reporter auszuschwärmen, um der peinlichen Angelegenheit auf den Grund zu gehen.
Sie fressen, was ihnen vor den Schnabel kommt
Die Möwen haben den Himmel über Rom erobert. Es sind ihrer nicht Hunderte oder Tausende, sondern Zehntausende, die Bevölkerung einer Kleinstadt. Sie fressen alles, was ihnen vor den Schnabel kommt, Ratten, Müll, Aas, Kätzchen, Brotreste, und sehr gerne kleinere Vögel. Die Sperlinge, Rotkehlchen und Zaunkönige verlassen scharenweise die Stadt (und die Römer beklagen die Wiederkehr der Stechmücken), die Tauben drücken sich an den äußersten Rand der großen Plätze, sogar die Krähen wagen sich nur hervor, wenn die Luft rein ist.
Die Möwen machen Angst. Ihre Spannweite von eineinhalb Metern ist furchteinflößend, ihr Gekrächze, bald wie Hundebellen, bald wie Babygeschrei, ohrenbetäubend. Sie nisten im Forum Romanum, in den Ruinen und auf den Dächern Roms, überall wo es Spalten und Vertiefungen gibt, in denen sie ihre Eier verstecken können. Sie verteidigen ihre Nachkommenschaft mit Flügelschlägen und Schnabelhieben. Kommt ihnen jemand zu nahe, „bombardieren“ sie ihn mit ätzenden Exkrementen. Nichts hält sie auf. Falken schrecken sie kaum. Ultraschall, der bei Tauben hilft, ist wirkungslos. Vier von fünf Dachterrassen Roms sind, trotz des unvergleichlichen Panoramas, menschenleer. Die Bewohner haben den Rückzug angetreten.
Doch wer hat sie hergebracht, die nun den Himmel Roms bevölkern? Die Menschen! Die Möwen sind unschuldig. Im Jahre 1971 soll es noch ein einziges Paar gewesen sein, das sich im Zoo von Rom, erst im Freigehege der Elefanten, dann auf einem Fels bei den Tigern, vergnügte und sich anschließend im historischen Zentrum exponentiell vermehrte. Das ist die romantische Version. Die realistische ist, dass sie von den Müllkippen und den Abfällen in den Straßen der Hauptstadt angezogen wurden. Jedenfalls verirren sich die „Vögel mit den vom Meer benetzten Schwingen“, die Gottfried Benn besang, nur selten in die fischarmen Gewässer des römischen Hafens von Ostia. Warum sollten sie ihr paradiesisches Fastfood verlassen: Rom mit seinen prall gefüllten Plastiksäcken, den überbordenden Mülltonnen und den Nahrungsresten unzähliger Restaurants? Hier sind sie geboren, hier werden sie sterben.
Was tun? Sie zu verjagen scheint unmöglich, obschon mehrere italienische Küstenstädte und Gemeinden im Inland die erstaunlichsten Erfindungen gemacht haben. In Pesaro und Urbino benutzt man aufgespannte Drähte und spitze Nadeln. Am Flughafen von Genua spielt man die Klagelaute sterbender Möwen ein, um sie abzuschrecken, in Triest bezahlt man sogar „egg hunters“, die die Fassaden hochklettern und Löcher in die Eier bohren. Aber in Rom hat das Problem einen Umfang erreicht, dass man es für unlösbar hält; und es folglich lieber ignoriert als mit dem deprimierenden Bewusstsein der Unlösbarkeit zu leben. Es gibt, den Tierschützern und Ornithologen zufolge, nur eine Möglichkeit: ihnen die Nahrungsquellen abzuschneiden; den Müll korrekt zu entsorgen.
Wenn es in Rom nichts mehr auf den Straßen zu essen gäbe, würden die Möwen von selbst aus der Stadt verschwinden. So einfach ist die Antwort. Aber das Einfachste scheint das Utopischste. Denn die Möwen haben mächtige Helfershelfer unter den Menschen. Mülltonnen und Müllabfuhr sind in öffentlicher, die Müllkippen sind in privater Hand. Die beiden Hände waschen einander. Und beide sind in Prozesse wegen Nichterfüllung der sanitären Auflagen sowie Bildung einer kriminellen Vereinigung verwickelt. Wer Möwe sagt, sagt Müll, und wer Müll sagt, sagt auch Mafia.
Ende 2014 entdeckte Rom fassungslos, dass sich eine lokale Mafia in die höchsten Höhen des Rathauses, bis hinein ins Büro von Gianni Alemanno, des ehemaligen Bürgermeisters, eingenistet hatte. Ein Jahr später, am 5. November, wird nun der lang erwartete „Maxi-Prozess“ gegen die „Mafia Capitale“ eröffnet. Vierzig Personen sind der Korruption, der Veruntreuung öffentlicher Gelder und der Bildung einer kriminellen Vereinigung angeklagt – eine Mafia mit weißen Kragen, deren Chef Massimo Carminati, genannt „der Einäugige“, jahrelang Politiker der Linken und der Rechten sowie städtische Beamte mit bis zu 15 000 Euro monatlich bestach. In seiner Jugend Neofaschist und Bandit, hat Carminati, nicht minder gefräßig als die krummschnäbeligen Raubvögel, das Budget für die Pflege der Parkanlagen, die Unterbringung von Flüchtlingen („bringt mehr als Drogen“, sagte einer seiner Komplizen) und vornehmlich für die Müllbeseitigung um Abermillionen geplündert.
In Malagrotta, Europas größter Müllhalde, wird der Abfall wieder vermischt
Einer seiner Zuarbeiter, der frühere Generaldirektor der Müllabfuhr Giovanni Fiscon, steht wegen passiver Bestechung und Begünstigung einer mafiösen Clique vor Gericht. Man sollte ihn wegen Begünstigung der Möwenplage anklagen – denn dank seiner Gewinnsucht und Untätigkeit lagen überall in Rom die unabgeholten Müllsäcke, am Straßenrand, um Müllkörbe gruppiert, an offene Container gelehnt, Säcke, die Möwen mit einem Schnabelhieb öffnen. Rom ist weiterhin übersät von schlecht verpackten Abfällen, obschon in Rom die Regeln für die Mülltrennung inzwischen zu den strengsten Europas gehören. Jüngst bedrohte die Müllabfuhr unser Haus mit 150 Euro Strafe, weil sie bei einer Stichprobe im ungetrennten Müll einen Joghurtbecher fand, der in den Plastik-Müll gehörte. Nur wird der von den Haushalten sorgfältig getrennte Abfall in Malagrotta, der mit 240 Hektar größten Müllhalde Europas, wieder zusammengewürfelt und gesetzeswidrig abgeladen. 2007 wurde die italienische Regierung wegen wiederholter Nichterfüllung der sanitären Normen vom Europäischen Gerichtshof zu 50 Millionen Euro Strafe verurteilt. Dabei zahlt die Hauptstadt dem Betreiber 40 Millionen Euro Jahresmiete für die Müllentsorgung.
Wer sich Malagrotta nähert, weiß nicht, was unerträglicher ist, der infernalische Gestank der Abfälle oder das höllische Geschrei der Möwen. Das Gelände, das zwischen den Flughäfen Ciampino und Fiumicino liegt, wo die Vögel sich zuweilen in den Triebwerken der startenden Flugzeuge verfangen und für Notlandungen sorgen, gehört dem Milliardär Manlio Cerroni, der letztes Jahr, zusammen mit fünf Komplizen, wegen Nichterfüllung der hygienischen Auflagen (nur 20 Prozent Mülltrennung), Vergiftung des Grundwassers mit Chemikalien und Bildung einer kriminellen Vereinigung zu einem Jahr Gefängnis verurteilt wurde – was den achtundachtzigjährigen Mann, in dessen Müll-Imperium von Rom bis Sidney, von Norwegen bis Brasilien, die Sonne nie untergeht, nicht davon abhielt, dieses Jahr in Moskau einen Megavertrag über die Installierung von Müllkippen in Russland zu unterschreiben.
Der Himmel über dem seit 2013 offiziell geschlossenen Malagrotta, das mit einer Sondergenehmigung des Rathauses bis in dieses Jahr hinein weiterarbeitet, ist auch am helllichten Tage schwarz von Vögeln. Die römischen Journalisten vergleichen das Bild, das sich ihnen hier zwischen fressenden, nistenden und auffliegenden Möwen darbietet, mit den apokalyptischen Szenen aus Hitchcocks „Vögeln“. Aber selbst die kritischen Kommentatoren fragen sich, ob es nicht besser sei, das „Ristorante Malagrotta“ noch eine Zeit lang offenzulassen, damit nicht noch mehr Möwen in Rom einfallen.
Ihnen fehlt jede Scheu vor dem Menschen
Die einen bezeichnen sie als Raubtiere, die andern als Haustiere. Die Möwen haben keine Angst mehr vor den Menschen. Einst scheu und unnahbar, sind sie aufdringlich und aggressiv geworden. Die Hausbewohner am Tiber fühlen sich auf ihren Balkonen nicht mehr sicher. Die Vögel fallen sogar ihre Hunde an. In Venedig picken sie den Touristen am Markus-Platz in gezieltem Sturzflug die Club-Sandwiches (Putenfleisch, reich garniert) aus den Händen oder stürzen sich auf das Speiseeis der Kinder. „Killer-Möwen“ nennt sie der „Corriere della Sera“. Auf dem Friedhof von Venedig attackierten sie einen Mann, der das Grab seines Vaters besuchen wollte; die beiden Friedhofswächter, die ihm zu Hilfe kamen, mussten Verstärkung rufen, um die Möwen, die ihn umzingelten und mit Schnabelhieben bearbeiteten, zurückzuschlagen. Die Vögel selbst aber stehen unter Naturschutz. Sie müssen um Leib und Leben nicht fürchten und nisten sich überall ein, wo die Gesellschaft zurückweicht. Wie die Mafia. Sie haben eine glänzende Zukunft vor sich.
Auch jetzt sehen sie glücklichen Zeiten entgegen. Am 8. Dezember wird auf dem Petersplatz das Heilige Jahr eröffnet, das Papst Franziskus vor einem Jahr angeordnet hat. Die eleganten Segler, die an diesem Tag wie immer über Rom und seinen bezaubernden Hügeln kreisen, werden am Petersplatz zwar vergeblich nach Friedenstauben spähen, da Franziskus statt der Vögel nun bunte Luftballons in den Himmel steigen lässt. Aber die über dreißig Millionen barmherzigen Pilger, die man in Rom erwartet, werden sie gewiss mit leckeren Panini und anderen Köstlichkeiten füttern – und aus dem Fastfood Roms wird für sie, ein heiliges Jahr lang, das große Fressen.
Der Autor, 1946 in Lublin geboren, lebt als Theaterregisseur und Essayist in Paris und Rom.
Benjamin Korn