Buchmesse-Gastland Georgien: Warum jetzt alle nach Tiflis wollen
Minimal Wave neben der Fotokabine, Techno im verlassenen Schwimmbecken, Ambient-Klänge auf dem Sofa: Tiflis gilt als Capital of Cool.
Wie ein Blitz schlägt das Stroboskoplicht ein, wie ein Donner der Bass. Das zuckende Licht erlaubt nur Standbilder. Unmöglich zu sagen, ob die Menschen da unten tanzen, aber es wird wohl so sein. Phase Fatale, ein US-amerikanischer DJ mit Berliner Wohnsitz, legt auf. Freitagabend im Khidi Club, Tiflis. Saisoneröffnung nach dem Sommer. Nino Togonidze, von allen Nina genannt, hält sich an der Brüstung des Podests fest und betrachtet ihr Reich. Ihr Werk. „Habe ich zu viel versprochen?“ Sie grinst. Es gibt noch mehr.
Rückblende. Der Tag beginnt mit einem Aha-Moment. An der lauten Merab-Kostawa-Straße bröckeln die Gründerzeithäuser, dazwischen steht das Stamba Hotel. Ein Ort, der Klischees über Georgien ins Wanken bringt. Georgien – das war doch Sowjetpleite, Korruption, ein Krieg mit Russland? Waren Sezessionskonflikte, autoritäre Regierungen, Gebiete unter russischer Ägide. Oligarchen und eine Wirtschaft, die nicht richtig vom Fleck kommt.
Seit einiger Zeit hört man in Neuköllner und Kreuzberger Bars, dass sich dort etwas tut, vor allem in Tiflis. Eine Million Einwohner irgendwo zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer. Der Freund einer Freundin war da, eine Nachbarin auch. Irre Geschichten von Wahnsinnsclubs, tollen Bars, queeren Leuten, schönen Leuten, kreativen Leuten. So muss Berlin in den 90er Jahren gewesen sein, sagen die, die zu spät geboren wurden, um es wissen zu können. Tiflis: Capital of Cool. Plötzlich wollen da alle hin.
Berlin ist out, Tiflis ist in
In der Lobby des Stamba Hotels ahnt man, woran das liegt. Der Blick wandert empor, fast bis in die Wolken – oder zumindest vier, fünf Stockwerke hoch, denn die wurden herausgerissen, bevor das Hotel im Frühjahr dieses Jahres neu eröffnete. Zwischen den rauen Betonpfeilern, die den Raum wie ein Koordinatensystem durchziehen, erhascht man einen Blick auf die Geschichte des Ortes: Da hängt eine Förderkette, die einst Zeitungen aus der Druckpresse transportiert hat. Jetzt gedeihen hier Kletterpflanzen und Palmen.
Der Fabrikchic wird ergänzt durch meterhohe Bücherregale, die die Lobby und das Aviator Casino voneinander trennen. Ein Fünf-Sterne-Hotel ohne Casino – in Tiflis undenkbar. Also hat auch das Stamba eines. Der Unterschied: Man will nicht rückwärts wieder rausgehen, nein. Man will sein Geld verjubeln, arm werden mit Stil.
Oder vielleicht lieber doch nicht. Wäre schade, wenn man das Café Stamba nicht besuchen könnte. Innen gestrichene Backsteinwände, große Fenster zur Straße, Art-déco-Lampen. Erster Stopp ist die schweinchenrosafarbene Bar mit dem obszön funkelnden Kronleuchter. Jetzt ein Drink? Vor vier Uhr tut es eine Limo auf der Terrasse. An den Tischen links und rechts ist das Verhältnis von Touristen und Einheimischen ausgewogen. Darum kann man die georgische Lagidze, eine giftgrüne Estragonlimonade, hier genauso bestellen wie Spirulina-Algen-Shots.
Tiflis macht sich bereit für den Ansturm des Easy-Jetsets, für die, die immer hungrig nach neuen Reisezielen sind. Hungrig nach Orten, an denen sich der eigene kosmopolitische Lebensstil mit einer fremden Note vermischt. „Berlin ist out, Tiflis ist in“, schrieb das „Forbes“-Magazin gerade. Es sei die „aufregendste Stadt des Jahres“.
Der Regierung wurde es zu wild
Wenn es etwas bodenständiger sein darf, führt der Weg rechts die Merab-Kostawa-Straße hinunter, die bald in den alten Prachtboulevard Shota Rustaweli übergeht. Hinter den gelben Mauern einer kleinen Stadtvilla verbirgt sich eine Institution der Tifliser Bar- und Clubszene: das Café Gallery. Nachmittags deuten nur das verwaiste DJ-Pult und ein paar wuchtige Lautsprecherboxen darauf hin, dass es nach 20 Uhr laut und wild wird, dass man sich hier für die Nacht in den großen Clubs warm tanzt.
Der Regierung wurde es irgendwann zu wild. Im Café Gallery und im bekanntesten Club der Stadt, dem Bassiani, fanden Razzien statt. Gesucht wurde nach Drogen. Die Clubgänger waren sich einig: Es ging um etwas anderes, einen Angriff auf die liberalen Strömungen in dem zutiefst christlich-orthodoxen Land. Kurz darauf kamen etwa 10 000 Demonstranten vor dem Parlamentsgebäude zusammen. Ein Rave für die Freiheit, umzingelt von nationalistischen Gegendemonstranten. Am Ende errang die Szene einen kleinen Sieg. Der Innenminister entschuldigte sich für die Aktion, und das strenge Drogengesetz wurde gelockert, zumindest kommt jetzt niemand mehr ins Gefängnis, nur weil er high ist. Die Öffnung nach Europa wird auch an Orten wie dem kleinen Gallery Café vorangebracht.
An diesem Nachmittag ist von politisch aufgeheizter Stimmung nichts zu merken. Man fläzt sich hier in die Sofas. Die Jungs hinter dem Tresen sind tiefenentspannt. Liegt vielleicht daran, dass gerade kein Techno aus den Boxen knallt, sondern Ambient den Raum in Nachmittagsruhe lullt. Und irgendwann, bloß keine Eile, kommt dann auch die Bestellung. Gegrilltes Gemüse mit Feta und Joghurt – oder was auch immer man aus der großen vegetarischen Karte geordert hat.
Berlin? Da sind sie alle schon mal gewesen
Es dämmert, mit dem Taxi geht es über den milchigen Fluss Kura auf die Ostseite der Innenstadt. Das Ziel: Fabrika, einst eine Nähfabrik, schon von Weitem an der Street-Art zu erkennen, die die Fassade des mehrstöckigen Riegels ziert. Das Gelände gehört der Adjara Group, die auch das Stamba in ihrem Portfolio hat und vom Unternehmer Temur Ugulawa gegründet wurde.
Im Gebäude an der Straße verbirgt sich ein Designhostel. Dahinter, im Hof, liegt Tiflis’ Hipster-Oase. Ein Skateboard-Shop. Ein Pflanzenladen mit Café. Ein Coworking-Space. Ein Friseur, pardon, ein „Barber Shop“. Und Tiflis’ erster Plattenladen Vodkast, der Treffpunkt der georgischen DJs. Unter Lichterketten isst man Burger und Ramen, zockt Brettspiele im Game Club, holt sich aus einer der Bars kaltes Bier oder importierte Club Mate, die weniger kostet als in Berlin. Weil es bis weit in den Oktober hinein mild sein kann, sind alle draußen: französische Touristen, streunende Katzen, ein paar Tifliser, die leicht beschwipst einen Song anstimmen.
Aus der Dive Bar, wo ein zur Fotokabine umgebauter VW Bulli parkt, schallt Minimal Wave. Oft gibt es hier Livekonzerte und kleine DJ-Sets, heute spielen die Thekenkräfte einfach ihre Playlisten ab. „Wo kommst du her? Berlin?“, ruft einer rüber, während er Limetten schneidet. „Da sind wir alle schon mal gewesen“, sagt er und zeigt auf seine Kollegen. Sie seien immer gleich in die Clubs gelaufen: Tresor, Griessmühle, About Blank.
Die Griessmühle in Neukölln kennt auch Clubbesitzerin Nina Togovidze gut. Erst vor wenigen Wochen organisierte die 39-Jährige dort eine Labelnacht ihrer Resident-DJs aus dem Khidi Club. „Mit Berlin können wir uns identifizieren. Das Selbstgemachte, das Gemeinschaftsgefühl der Szene, der harte Techno.“ Die Liebe beruht auf Gegenseitigkeit. Regelmäßig kommen internationale DJs, darunter Berghain-Residents wie Ben Klock, nach Georgien.
Frittierter Käse als Grundlage für eine lange Nacht im Club
An diesem Spätsommerabend trifft sich das junge Tiflis in der Bauhaus Bar, einem kleinen Gebäude im Dedaena Park. Manchmal steigen hier Partys, es gibt Konzerte und Abende mit Retro-Videospielen. Nina Togovidze bestellt frittierten Sulguni-Käse, der aussieht wie fette Fischstäbchen. Könnte ja noch eine harte Nacht werden. „Die Georgier halten eine Menge Alkohol aus“, warnt Nina.
Um die Bauhaus Bar herum herrscht Betrieb wie bei einer Vernissage in Kreuzberg. Überall stehen Menschen, manche sitzen am Rand der Parkwege. Als ein schmaler Mann hinter das provisorische DJ-Pult klettert, wird es leise. Saphilaeum spielt ein sphärisches Set, zum Tanzen ist das nicht gedacht, aber zum Entkoppeln vom Hier und Jetzt. „Darum geht es ja am Ende auch bei Techno. Sich in der Musik zu vergessen, alles hinter sich zu lassen.“
Bald muss wieder Bewegung in die Sache kommen, also weiter zur Drama Bar. Hier landet niemand zufällig. Nichts an dem Hauseingang in der Rustaweli 37 deutet darauf hin, dass man im dritten Stock gute Drinks bekommt, tanzen und vom großen Balkon aus in den Nachthimmel schauen kann. Eine Hausnummer fehlt, Ortsfremde können das Drama trotzdem finden, indem sie den Leuten folgen, die eine taubenblaue Metalltür aufdrücken.
Oben steht ein Securitymann, die Tür öffnet sich zu einer großen Altbauwohnung. Gemütlich, samtig, dunkelrotes Licht, ein tätowierter Typ legt House auf. Nina, die Clubbetreiberin, trifft ihre beste Freundin, die Besitzerin der Bar Moulin Électronique vom Fabrika-Gelände. Die Szene ist klein, jeder kennt jeden.
Der Berliner Dresscode gilt auch in Tiflis
Ein paar Stunden später hält das Taxi unter einer wuchtigen Betonbrücke in der nördlichen Innenstadt. Aus einer Tür am Fuße eines Pfeilers leuchtet es schwach, als sei da das Loch, durch das Alice in den Kaninchenbau fällt. Dahinter der Club, der sich über mehrere Etagen erstreckt. Ganz oben befindet sich ein tunnelartiger Gang, durch den man direkt unter der Fahrbahn die ganze Länge der Brücke entlang gehen kann. Wenn es nach Nina geht, wird das mal eine Kunstgalerie. Seit zwei Jahren existiert das Khidi, und man sei noch längst nicht fertig, versichert sie. Draußen entsteht gerade ein kleiner Outdoorbereich mit Foodtruck. „Vielleicht machen wir daraus einen Skatepark.“
Phase Fatale, übrigens Resident DJ im Khidi, bearbeitet noch immer sein Pult, ein Stockwerk darunter zündet die Georgierin Liza Rivs, die in Paris lebt, für die nächsten paar Stunden ihren hypnotischen Techno. In den Toiletten sammeln sich Leute wie durstige Steppentiere um den Waschtrog. Ein Schluck Wasser. Du auch hier?
Und wieder zurück auf den Floor. Nina trägt ein enges schwarzes Kleid, aus den DocMartens ragen Netzstrümpfe, um ihren Hals hat sie einen breiten Lederchoker mit Ring gelegt. Der Berliner Dresscode ist auch in Tiflis gültig. Nina zeigt auf einen kleinen Bereich hinten am Mainfloor. „Da ist morgen der Darkroom.“ Dann verschwindet sie selbst im Dunkeln.
Bassiani ist das „georgische Berghain“
Ins Bassiani muss man noch, sowieso klar. Tiflis’ berühmtester Club, das „georgische Berghain“. Als sei ein gigantisches Ufo gelandet, so liegt das größte Fußballstadion des Landes mitten in der Stadt. Unter der Tribüne: ein leeres Schwimmbecken. Wo früher Sportler ihre Bahnen zogen, wo Leistung pro Hundertstelsekunde zählte, geht es heute um Beats pro Minute. In den Katakomben treffen sich die, die so feiern wollen, wie man in Berlin feiert – nein, es darf noch eine Spur härter, düsterer sein. Der Bass hämmert gegen die Brust, es ist unfassbar laut und gut. Ein Blick zum DJ, ein Besessener. Ein Blick zur Seite, Seligkeit in Hunderten Gesichtern.
Auch durchs Bassiani fegte im Mai eine Polizeirazzia. Dem Ruf des Clubs hat es offensichtlich nicht geschadet. Es ist voll, warm, Schweiß kondensiert an den Betonwänden. Auf den Treppen zum Eingang sitzen die, die eine Pause brauchen. Wahnsinn, sagt ein Deutscher, der dachte, er würde in Georgien nur wandern. In den düsteren Gängen hinter dem Becken wird geknutscht. Mit wem, ist jetzt auch egal. Der Alltag ist weit weg, zumindest für diese Nacht.
Und draußen bröckelt das alte Tiflis.
Reisetipps für Tiflis
Hinkommen
Die kürzeste Verbindung von Tegel: Mit der Lufthansa über München ab 275 Euro in der Economy.
Unterkommen
Das Stamba Hotel (früher Rooms) ist in diesem Frühling neu eröffnet worden. Doppelzimmer in der umgebauten Druckerei kosten ab 190 Euro die Nacht. Zu buchen unter designhotels.com.
Im Kreativzentrum Fabrika können Backpacker im Hostel auf dem Komplex übernachten. Bis Ende November gelten teils Sondertarife, für ein Doppelzimmer bezahlt man rund 60 Euro, ebenso für ein Vierbettzimmer. Waschräume auf dem Flur.Details unter hostelfabrika.com.
Rumkommen
Infos des örtlichen Fremdenverkehrsamts unter visitgeorgia.ge.
Angie Pohlers