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Glaubt an die romantische Liebe: die Soziologin Eva Illouz.
© Susanne Schleyer

Interview mit Eva Illouz: Warum haben die Menschen immer weniger Sex?

Eva Illouz gibt auch der Digitalisierung die Schuld. Die Soziologin über den Fluch von Dating-Apps und „50 Shades of Grey“.

Frau Illouz, Sie erforschen seit 30 Jahren die Liebe. Wie hat sie sich in dieser Zeit verändert?

Ende der 80er gab es noch die romantische Idee, dass eine große Liebe die ganze Lebensgeschichte überspannt und prägt. Diese Vorstellung ist verschwunden, würde ich sagen. Kaum jemand erwartet, dass er mit dem Ersten, in den er sich verliebt, für immer zusammenbleibt.

Das Lebensmodell war doch Ende der 80er bereits überholt, jedenfalls hier in Deutschland.

Ja. Die Ideale des Feminismus und der Studentenbewegung hatten den bürgerlichen Vorstellungen damals bereits stark zugesetzt. Eine weitere, große Veränderung betrifft die Bedeutung von Sexualität. Sie ist fast zum zentralen Merkmal von guten Liebesbeziehungen geworden. Liebe erwächst heute aus sexuellen Handlungen – und nicht umgekehrt.

Die große Enttabuisierung liegt bereits 50 Jahre zurück. Ist es überhaupt möglich, dass Sex immer wichtiger und wichtiger wird?

Sigmund Freud hat den Geschlechtsakt bereits ins Zentrum der menschlichen Persönlichkeit gestellt. Der Kampf um Frauenrechte und die Homosexuellenbewegungen haben die Sexualität zum Hauptschauplatz gemacht, auf dem sie Gleichberechtigung einforderten. Paradoxerweise haben Menschen jedoch immer weniger Sex – wenn eine Untersuchung stimmt, die kürzlich im „Atlantic Magazine“ publiziert wurde. Denn Sex kommt in stabilen Paarbeziehungen am häufigsten vor, und die werden seltener.

Einer Studie der Uni Leipzig zufolge sind in Deutschland Paare zwischen 60 und 70 aktiver als Singles zwischen 18 und 32. Die Wissenschaftler vermuten als Ursache für die lustlose Jugend die Verfügbarkeit von pornografischem Material im Internet. Teilen Sie diese Einschätzung?

Der Einfluss der digitalen Technologien ist immens. Besonders gravierend finde ich, dass das Internet die traditionellen Orte zerstört, an denen Geselligkeit stattfindet: Restaurants, Kinos und so weiter. Alle demonstrieren gerade gegen die Zerstörung der Natur. Ich würde mir ein bisschen mehr Widerstand dagegen wünschen, dass Amazon und Facebook den Kern unserer Zivilisation kaputtmachen.

Und was ist Ihrer Meinung nach dieser Kern?

Die alte Kunst, von Angesicht zu Angesicht Beziehungen auszuhandeln, geht verloren. Die Menschen sitzen allein vor ihren digitalen Geräten und zählen die Likes auf ihren Profilen. Auch die Pornografie selbst virtualisiert sich. Noch basiert sie ja in der Regel auf Interaktionen menschlicher Darsteller. Künftig werden meiner Ansicht nach Sexroboter an Bedeutung gewinnen.

Es finden sich doch permanent neue Paare, auch über Dating-Apps.

Na klar! Ich beschreibe doch nur neue Tendenzen. Das heißt nicht, dass es keine romantische Liebe mehr gibt. Bloß wird sie durch die ständige Netzwerkerei, die auf alle Lebensbereiche übergegriffen hat, gefährdet.

Und doch ist die Auswahl möglicher Partner im Netz größer – gerade für Leute, die nicht in den Städten wohnen.

Kontakte in der digitalen Welt sind flüchtig und vielfältig. Verliebtsein bedeutet, sich auf eine Person zu konzentrieren, die man als einzigartig begreift. Bei meinen Recherchen bin ich auf eine Partnerbörse gestoßen, deren Konzept ich besonders klug finde: Pro Tag darf man nur einen Kandidaten anschreiben. Da muss man schon mal sorgfältig nachdenken, mit wem man in Kontakt treten möchte. Da kommt, glaube ich, mehr bei heraus als bei den Portalen, bei denen man einfach in den Supermarkt geht.

In Ihrem jüngsten Buch „Warum Liebe endet“ analysieren Sie Beziehungen, die von Partnerbörsen vermittelt worden sind. Die erfolgreichste Plattform ist zurzeit Tinder, auf der sexuelle Kontakte geknüpft werden. Hat die App das Paarungsverhalten der Menschen entscheidend verändert?

Sie hilft bei der Ortung von Sexualpartnern und bietet Bequemlichkeit. Wenn Sie hier in diesem Hotel, wo wir gerade reden, jemanden finden wollen, präsentiert Tinder Ihnen einen Menschen, der in der Nähe ist und das Gleiche will. So verändern sich die Rituale, die dem Geschlechtsverkehr vorausgehen. Sexualität wird zum Bedürfnis, das man befriedigen muss. Meine Befürchtungen sind grundsätzlicher: Die Unverbindlichkeit in den sozialen Medien steht Bindungen im Weg – ich nenne es „negative Beziehungen“, die dadurch befördert werden.

Sie verwenden auch den Begriff „Situationship“ – ein Paar hat regelmäßig Sex, aber ausdrücklich keine Beziehung. Das Wort taucht bereits in deutschen Frauenzeitschriften auf. Stimmt das Klischee, dass sich Frauen mehr für diese Themen interessieren als Männer?

Ja, historisch war die Liebe besonders wichtig für Frauen. Sie war der einzige Lebensbereich, in dem sie, wenn ein Mann sie verehrte, mit ihm ebenbürtig waren. Sonst war ihnen gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe verwehrt.

Das kann doch im Jahr 2019 nicht mehr der Grund sein.

Eine feste Partnerschaft ist nach wie vor entscheidend für das ökonomische Überleben einer Frau. Die Statistik zeigt: Wenn Kinder kommen, gehen vor allem Frauen in Teilzeit. Das heißt, ihr Gehalt wird gekappt. Um ihre Karriere überhaupt weiter verfolgen zu können und nicht zu verarmen, sind sie auf die Unterstützung von Männern angewiesen. Der Feminismus hat Weiblichkeit nur noch komplexer gemacht.

Was meinen Sie damit?

Die Botschaft, dass Frauen frei und autonom sein sollen, geht schwer zusammen mit der Rolle, dass sie sich nach wie vor um ihre Familie kümmern müssen. Nach 150 Jahren Frauenbewegung werden sie noch immer über ihre Geschlechtlichkeit unterdrückt – andererseits ist eine freudvolle Sexualität der Hauptschauplatz ihrer Befreiung. Ich erinnere mich, dass ich ein Interview mit einer Frau führte, die darüber klagte, dass sie über Tinder ständig „Dickpics“ zugeschickt bekommen habe …

… Fotos erigierter Penisse. Die Praxis wurde in Deutschland bekannt, nachdem herausgekommen war, dass der Ehemann von Hillary Clintons Wahlkampfmanagerin derartige Bilder an Frauen verschickte. In Ihrem Buch zitieren sie eine Umfrage unter Erstsemestern, bei der ein Drittel der Befragten angab, bereits solche Sexting-Fotos verschickt zu haben.

Die Frau, mit der ich sprach, fand „Dickpics“ widerlich. Sie fühlte sich davon herabgewürdigt. Doch sie hatte gleichzeitig das Gefühl, dass sie als Feministin darüber stehen sollte. Durch die Frauenbewegung geriet sie in einen tiefen Zwiespalt.

„Die Liebe ist wie das Licht eines erloschenen Sterns“

Seelenverwandt? Die Idee, eine einzigartige, absolute Liebe zu finden, ist der Welt der Dating-Apps irrelevant geworden.
Seelenverwandt? Die Idee, eine einzigartige, absolute Liebe zu finden, ist der Welt der Dating-Apps irrelevant geworden.
© imago/Westend61

Für Ihr Buch haben Sie 92 Interviews geführt und nutzen Beispiele aus fiktionalen Stoffen – von „Fifty Shades of Grey“ bis „Sex and the City“. Erklären Sie bitte Ihre Methode.

Ich lese philosophische Texte, Historisches, Romane, Scheidungsstatistiken, Frauenmagazine. Alles, was ich zum Thema finden kann. Dann versuche ich, aus den Daten ein soziologisches Narrativ herauszulesen. Meine Arbeit ist ein bisschen wie puzzeln, nur dass ich das Motiv noch nicht kenne. Ich springe zwischen der Theorie- und der Datenebene hin und her, bis schließlich ein Bild aufscheint.

Wie sind Sie als Soziologin auf das Thema Liebe gekommen?

Früher bin ich mit Liebesdingen nicht gut klargekommen. Ich bin 1961 geboren und als junge Frau in die Nachwehen der sexuellen Revolution hineingeraten …

… Sie lebten damals zusammen mit Ihren Eltern in Paris.

Ja. Mit zehn Jahren hatte ich angefangen, Romane von Honoré de Balzac, Gustave Flaubert, Stendhal und Jane Austen zu lesen. Als Teenager gefielen mir billige Schmachtfetzen. Ich wuchs also mit elitären und auch trashigen Bildern von Liebe auf. Der Aufschlag im Paris der 1970er-Jahre war hart. Damals war es angesagt, Drogen zu nehmen, Punkmusik zu hören und wechselnde Partner zu haben. Tief in mir sträubte sich etwas dagegen. Ich war zerrissen: Einerseits wollte ich auch so cool und befreit sein wie die anderen, andererseits hat mich die Gefühlswelt aus dem 19. Jahrhundert sehr angezogen.

Hätten Sie, um Ihre Probleme zu lösen, nicht besser Psychologie studiert?

Welche Probleme meinen Sie? Ich hatte doch nur mit den Widersprüchen der damaligen Zeit zu kämpfen. Ich finde, die Psychologie macht den Fehler, soziale Probleme zu privatisieren. So beschäftigt sich eine riesige therapeutische Industrie mit Symptomen, die politische Ursachen haben.

Die zentrale These Ihrer Forschung ist, dass der Kapitalismus das Liebesleben der Menschen durchdrungen und verändert hat – auch durch das Marketing. Können Sie das erklären?

Mit dem Aufkommen der Massenproduktion an Konsumgütern, die ja auch alle abgesetzt werden mussten, wurde die Liebe als Versprechen mit Produkten verknüpft.

In der Serie „Mad Men“, die in einer Werbeagentur in den Fifties spielt, sagt die Hauptfigur zu seiner späteren Frau: „Liebe ist das, was Kerle wie ich erfunden haben, um Strumpfhosen zu verkaufen.“ Meinen Sie das?

In den 1930er und 1940er Jahren brachte eine Seife oder ein Parfüm vermeintlich das Glück in eine Ehe. Später verschob sich der Fokus hin zur sexuellen Attraktivität, die man mit dem Produkt quasi erwirbt. Im heutigen Spätkapitalismus tritt der Grundwiderspruch von Produktion und Reproduktion zu Tage. Die meisten westeuropäischen Länder stecken in einer demografischen Krise. Der Kapitalismus weiß nicht, wie man Reproduzenten produziert. Das Thema wird eindrucksvoll im dystopischen Roman „Der Report der Magd“ von Margaret Atwood behandelt: Industrielle schaffen darin ein brutales Repressionssystem, um Frauen zurück in den Haushalt zu zwingen, weil sie sie für die Reproduktion brauchen.

Internet-Partnerbörsen folgen, wie Sie nachweisen, in besonderem Maße den Gesetzen der Ökonomie: Menschen stellen sich wie Waren aus. Es gelte das kalte Gesetz von Angebot und Nachfrage. Was folgt daraus?

Die Grundlage von Marktwirtschaft ist ja, dass es keine festen Werte gibt. Der Preis einer Ware wird durch Angebot und Nachfrage immer neu festgesetzt. Genau von dieser Ungewissheit sind die Menschen auf den Liebes- und Sexmärkten von heute geplagt.

Eine Interviewpartnerin offenbarte Ihnen beispielsweise, dass sie nach einem Umzug im Netz einen neuen Freund suchte, obwohl sie am alten Wohnort noch einen hatte. Ein Mann berichtete, dass er Beziehungen zu mehreren Frauen gleichzeitig hat, weil er lustvollen Moment an lustvollen Moment reihen will. Vermisst diese effektive Generation eigentlich etwas?

Ich käme mir bevormundend vor, anderen zu sagen, was sie vermissen sollen. Aber ich könnte mir schon vorstellen, dass ihnen die Idee eines Seelenverwandten fehlt, mit dem zusammen sie eine einzigartige, absolute Liebe finden.

Sie haben drei Söhne in der Generation. Fehlt denen etwas?

Meine Söhne sind sehr romantisch. Sie sind, wie ich, mit Märchen aufgewachsen, deshalb haben sie mit den Dating-Apps nichts zu tun. Außerdem sind alle drei Feministen.

Frau Illouz, Sie wohnen und lehren in Jerusalem und Paris. Im Sommer kommen Sie nach Deutschland, um in Bielefeld im Rahmen der Niklas-Luhmann-Gastprofessur zu lehren. Der Systemtheoretiker begriff Liebe als eine Erfindung von Schriftstellern aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Können Sie damit etwas anfangen?

Ich halte den Begriff „Erfindung“ für übertrieben, denn man findet bereits in der Bibel oder in alten indischen oder chinesischen Texten Stellen, die von romantischer Liebe handeln. Ich glaube, Luhmann meinte ein bestimmtes Narrativ, in dem sich romantische Liebe entfaltet: dass Männer Frauen den Hof machen, beide sich immer tiefer kennen lernen und das Ganze in der Ehe endet.

Wenn ich Sie richtig verstanden habe, ist das Verhaltensmuster ausgestorben.

Nicht ausgestorben, aber irrelevant geworden. Als Idealbild existiert sie. Die Liebe ist wie das Licht eines erloschenen Sterns, der ja am Himmel strahlt, obwohl er lange nicht mehr existiert. Als Utopie ist Liebe stärker denn je. Zwar werden heute die vielfältigsten sexuellen Praktiken oder Konstellationen toleriert, doch die Vorstellung, wie ein erfülltes Leben auszusehen hat, ist normiert: als Zweierbeziehung mit Kindern. Viele wissen nur nicht mehr, wie das zu erreichen ist. Darauf basiert meiner Meinung nach der Erfolg von „Fifty Shades of Grey“. In der sadomasochistischen Beziehung der Protagonisten gibt es feste Regeln, die sie befolgen und so schließlich zur Liebe finden.

Können Sie sich überhaupt romantische Komödien zur Unterhaltung anschauen?

Wie jeder andere auch. Ich kann mich sogar noch verlieben.

Barbara Nolte

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