Geschichte der Freikörperkultur: Warum das FKK-Volk der DDR mit der Wende seine Freiheit verlor
Intellektuelle wie Anna Seghers waren gern nackt am Strand, die DDR-Führung mochte Textil. Die Geschichte des FKK führt von Preußen über die Wende an den Wannsee.
Der frühere große Dichter und inzwischen zur Drogensucht neigende, latent unglückliche Kulturminister der DDR Johannes R. Becher schritt am Saum des Meeres entlang. Wahrscheinlich fühlte er Genugtuung. Er hatte in einem schweren Weltanschauungskampf gesiegt, er und seine Genossen: Im Mai 1954 hatte die Gemeindeverwaltung von Ahrenshoop an der Ostsee das Nacktbaden verboten. Endlich!
Beginnt nicht alle Kultur mit der Scham?
Heißt Menschsein nicht, seine Blöße zu bedecken?
Das mag schon sein, aber Menschsein am Strand sei etwas anderes, es heiße, seine Blöße gerade nicht zu bedecken, erklärten seine Gegner. Es war nicht das Volk. Die werktätigen Massen der DDR bekleideten sich wie jedes Kulturvolk der Erde, wenn sie sich dem Meer näherten. Nein, es waren seine Mitdichter und Mitmaler, es waren Schauspieler und Politiker, die meinten, es sei mit dem Begriff der menschlichen Freiheit unvereinbar, verhüllt am Strand zu sitzen. Denn die menschliche Freiheit ist nicht ablösbar von der kreatürlichen Freiheit. Deshalb kletterte schon Hermann Hesse nackt in die Berge, und Rainer Maria Rilke machte ganzjährig Fuß-FKK, denn da soll nichts sein zwischen dir und der Erde, die dich trägt.
"Schämen Sie sich nicht, Sie alte Sau?", fragte er die Frau
Ahrenshoop war das Bad der Intellektuellen und Künstler. Die Nudisten hatten also verloren. Endlich würde auch er, Johannes R. Becher, seinen Aufenthalt am Meer genießen können.
Doch dann erblickte er im Sand eine in sträflichster Weise unangezogene Frau, keineswegs mehr jung, die statt ihrer Blöße nur ihr Gesicht bedeckt hatte, und zwar mit dem Organ des Zentralkomitees der SED, dem „Neuen Deutschland“. Ob man dieses Druckerzeugnis nun mit offenen oder geschlossenen Augen studierte, der Erkenntnisgewinn blieb der gleiche. Wollte sie etwa das sagen? Der Kulturminister geriet außer sich. „Schämen Sie sich nicht, Sie alte Sau?“, fuhr er die Frau an. Die große Schriftstellerin Anna Seghers nahm die Zeitung vom Gesicht, um nachzuschauen, wer da zu ihr spricht. Die jüdische Emigrantin, die den Nationalsozialismus in Mexiko überlebt hatte, kannte zwar alle nur erdenklichen Härten des Lebens, aber war sie jemals so tituliert worden?
Nur Wochen später verlieh der Kulturminister der DDR der größten Schriftstellerin des Landes, deren Roman „Das siebte Kreuz“ zur Weltliteratur gehört, den Nationalpreis. Er begann mit den Worten „Meine liebe Anna“, wurde jedoch von der Nudistin unterbrochen: „Für dich immer noch die alte Sau!“
Über 60 Jahre später, Strandbad Wannsee, FKK-Bereich. Wer sich hier aufhält, weiß, warum. Drüben liegen sie dicht an dicht, wir aber haben Platz, noch in der ersten Reihe. Und den besten Blick haben wir auch. Statt nur auf die Wannseevilla gegenüber schauen wir bis nach Kladow und später direkt in die untergehende Sonne. Das ist er, der vollkommene Einklang von Mensch und Natur. Und man begreift wieder, dass am Beginn der Hüllenlosigkeit am Strand ein Buch wie „Der Mensch und die Sonne“ stand und eine Zeitschrift, die hieß „Die Schönheit“.
Die Schönheit?
Ein Blick auf die Nachbarn genügt, um zu wissen: Das mag vor 20 Jahren wahr gewesen sein, bei manchen ist es gewiss auch schon ein halbes Jahrhundert her. Jetzt ist nur noch die Sonne schön. Das ist der desillusionierende Befund.
Und das ist die Tendenz: Wir werden weniger. Die Nacktbader sterben aus, langsam, aber sicher!
Ist das Leben in den Städten nicht das falscheste?
Fürchten sich die Jungen vor unserem Anblick und bleiben deshalb in sicherem Abstand hinter dem Zaun? Ja, wir sind eine optische Zumutung, aber wir sind solidarisch. Da war zu Beginn des vorigen Sommers diese alte Frau, die ihre beiden Gehhilfen gegen den Strandkorb gelehnt hatte, und als sie wieder nach Hause gehen wollte, bat sie die ihr Nächstliegende um das Nächstliegende: ihr hochzuhelfen, denn allein schaffe sie das nie. Und sie zu stützen, bis sie wieder festen Boden statt weichen Sand unter den Füßen habe.
Ihr Sohn, erklärte sie, werde sich gewiss Sorgen machen, dass sie allein die Wohnung verlassen habe, denn eigentlich könne sie gar nicht mehr laufen. Aber als sie diesen Junitag in seiner ganzen tiefblauen Makellosigkeit vor ihrem Fenster sah, dachte sie: Der meint mich!
Diesen Ruf hörten viele, schon vor mehr als hundert Jahren und vor allem in Deutschland. Ist das Leben in den großen Städten nicht das falscheste, das man führen kann? Der Berliner Dichter Bruno Wille sehnte sich „nach einem unverfälschten Riss Himmelsblau ohne Telegraphendrähte und Schlotruß“ und fand noch die kümmerlichste märkische Kiefer schöner als alle Laternenpfähle der Friedrichstraße.
Zwischen den Freisonnländern kam es bald zu Differenzen
1919 pachtete ein junger Mann namens Fedor Fuchs einen Teil des verlassenen Truppenübungsplatzes Wünsdorf, um ihn einer ganz neuen, sehr unmilitärischen Bestimmung entgegenzuführen. Der Krieg war verloren, Millionen seines Alters gefallen, Deutschland durfte künftig keine nennenswerte Armee besitzen, brauchte also auch keine Truppenübungsplätze mehr. Es war Zeit, mit Rousseau in die Arme der Natur zurückzukehren, vorbehaltlos, hüllenlos, und da war noch ein anderer Prophet, der übertönte selbst Rousseaus Ruf. Es war Friedrich Nietzsche mit seiner Aufforderung: Bleibt der Erde treu!
Auf dem Wünsdorfer Gelände befand sich eine mit Wasser vollgelaufene Tongrube. Fuchs besah die Tongrube und die Ödnis drum herum und taufte beides auf den Namen „Freisonnland“. Doch er wollte nicht allein frei sein in seiner Grube, die einzige Bedingung für den Zutritt nach „Freisonnland“ lautete: Alle Kleider sind abzulegen, denn nichts soll sein zwischen dir und der allmächtigen, allheilenden Natur. Für alle, die noch nicht sicher waren, ob sie mit einem jahrtausendealten Brauchtum brechen sollten, dem zufolge das sündige Fleisch zu bedecken war, auch unter Wasser, denn der liebe Gott sieht alles, gab es schon bald das Periodikum „150 Tage nackt“: der Sonnland-Probeband zum Sonderpreis von nur einer Reichsmark.
In "Neusonnland" herrschte Sportzwang
Während die übrigen von der Zivilisation deformierten Städter sich in abenteuerlichste Kostüme hüllten und trotz dieser Vorkehrungen Frauen sich von ihren Männern verabschiedeten, wenn sie baden wollten, schwammen, tanzten und turnten in „Freisonnland“ beide Geschlechter in unbedeckter geschwisterlicher Eintracht zusammen. Dass ein ferner Lexikoneintrag einmal als Erstes eine Abgrenzung der Freikörperkultur vom Exhibitionismus vornehmen würde, hätten sie gewiss nicht verstanden.
Leider kam es zwischen den Freisonnenländern bald zu Differenzen, worauf sich „Neusonnland“ von „Freisonnland“ abspaltete. Aber wo sollte es errichtet werden? Und die Neusonnländer entdeckten den Motzener See, südlich von Königs Wusterhausen. In „Neusonnland“ herrschte Sportzwang, denn sein Leiter war Hans Surén, vormaliger, nunmehr beschäftigungsloser Leiter der Heeresschule für Leibesübungen in Wünsdorf. Doch ob man mit Medizinbällen oder lieber mit Eisenkugeln trainieren wollte, durfte sich jeder aussuchen. Surén schrieb den Bestseller „Der Mensch und die Sonne“.
Mitte der 20er Jahre reiste der italienische Journalist Paolo Monelli durch Deutschland, um den Lesern seiner Heimat Nachrichten von den Barbaren des Nordens zu bringen wie einst Tacitus. Er kam auch an den Motzener See, und ein tiefer Abscheu sammelte sich in seiner Seele. Was bloß hat eine fehlende Hose mit Freiheit zu schaffen?
Er verstand es nicht.
Im Sommer vor 25 Jahren verlor das Badevolk des Ostens seine Freiheit. Irgendwann war die DDR ein einziges Neusonnland geworden. Sie war vielleicht ein kleines Land, aber sie war die Grande Nation des Nacktbadens. Ein populäres Vorurteil besagt, in der DDR wohnten lauter Klaustrophobiker, auch seelisch, Diagnose: Gruppenhospitalismus. Aber wir wanderten aus, so oft wir konnten, etwa in die Vergangenheit und noch lieber an den Strand.
Unangezogene Kinder sind unmöglich - darum ist es still bei uns
Anna Seghers hatte gesiegt, das FKK war überall. Der „Textilstrand“ hatte verloren, es gab ihn nicht mehr, und schwang nicht schon in dem Wort Verachtung mit, eben die Geringschätzung des Unangemessen? Wen im Angesicht der Sonne und des Meeres ein Bedürfnis nach Konfektion überkam, durfte dem zwar folgen, musste aber mit den Blößen seiner Nachbarn rechnen.
Doch im Sommer 1990 nahte das übermächtige Teilvolk West und schaute mit kaum verborgenem Johannes-R.-Becher-Blick auf die Eingeborenen: Nach 40 Jahren SED-Diktatur haben diese armen Menschen sogar ihr Schamgefühl verloren! Ab sofort war das FKK-Baden an den großen Stränden wieder untersagt, und wenn es doch noch erlaubt war, dann am Hundestrand, und der begann gewöhnlich dort, wo so leicht keiner mehr hinkam.
Der FKK-Bereich des Strandbads Wannsee hat mich immer mit dem Sommer vor 25 Jahren versöhnt. Natürlich gibt es auch keine Kinder in unserem Biotop, denn nackte Erwachsene mögen noch angehen, unangezogene Kinder sind unmöglich. Wenn die nun einer fotografiert? Darum ist es sehr still bei uns, sehr kontemplativ.
Ich bin angenommen! Früher war für solche Botschaften, ohne die keiner lebt, Gott zuständig. Heute muss die Natur diesen Auftrag übernehmen. Sie hat uns hervorgebracht, aber sie hat uns nicht gemeint. Das zu wissen, ist die große Verlegenheit, die tendenzielle Unzumutbarkeit der Existenz. Ein Tag am Strand bedeutet Heilung.
Doch die FKK-Pioniere waren jung. Sie haben vergessen zu sagen, wann man mit dem Nacktbaden wieder aufhören sollte. Wenn selbst die Sonne ihre Augen abwenden würde? Anna Seghers wusste es besser: niemals!