"...und winkt zu sich heran ein scheues Reh." Wer? Stalin am Bodensee.
Günter Kunert fuhr von Itzehoe nach Berlin, um im Willy-Brandt-Haus eine Rede zu halten über den Verfasser des obigen Gedichtschlusses. Über Johannes R. Becher, den ersten Kulturminister der DDR. Seit wann drängt es Dichter, auswärts Reden über realsozialistische Kulturminister zu halten? Und seit wann drängt es Regisseure, Dokumentationen über sie zu machen mit Titeln wie "Über den Abgrund geneigt ... Leben und Sterben des Johannes R. Becher"? Nein, die kein Risiko eingehenden Diktatur-Lehrstücke heißen anders. Und auch die kein Risiko eingehenden Funktionäre waren wohl andere.
Wer war Johannes R. Becher? Der dreifach erfolglose Selbstmörder, der bekennende Vaterhasser, der Vielfach-Student ohne Abschluss (weil jeder Abschluss schon ein Kompromiss ist mit der Vater-Welt), der hoffnungsvolle Expressionist, der Bejaher des Ersten Weltkrieges (denn ist so ein Krieg nicht maßlos - expressiv?), der letzte Romantiker, der letzte Deutschland-meine-Heimat-Dichter, der Träumer der Münchner Kaffeehäuser, der große Morphinist mit lebenslanger Neigung "zu maßlosem Geschlechtsverkehr".
Das stärkste Talent seit Rilke, erkannte Harry Graf Kessler und gab ihm ein Stipendium. Am Anfang der begabteste von uns allen, sagte Gottfried Benn. Ich hätte ein Benn werden können, sagte Becher, der Parteisoldat, über Becher, den gebrochenen Dichter. Die Sprache verlieren: Gibt es etwas Demütigenderes für einen Dichter? Und sich beim Verstummen zuschauen. Man braucht starke Kompensationen für solche Verluste. Wahrscheinlich ist es das Zugleich von Erbarmen und kältestem Einblick in das Räderwerk eines Zeitalters, das Kunert und die Regisseure Ullrich Kasten und Jens Fietje Dwars an das Schicksal Bechers bindet.
Manchmal nimmt eine Epoche gerade die Feineren, um ein Exempel zu statuieren. Es macht jene, die berufen wären, "Ich" zu sagen, zu einer Klaviatur, auf der dann fremde Geister spielen. Es erniedrigt den Hochfahrenden, bis er sich bereit findet, eine Walter-Ulbricht-Biografie zu schreiben.
Es ist schwer, der Versuchung des Sinnes zu widerstehen. Schreibende sind Sinnsüchtige. Sie wissen, dass kein Sinn ist außerhalb ihres Schreibens. Sprache ist Heimat. Traumgehäuse, nannte sie Becher. Wen sie obdachlos macht, der wird anfällig für Wohnungsangebote in den vorgefertigten Sinnwelten. Die kommunistische Partei war nur ein Wechsel der Droge, sagte Kunert. Die Entlastung eines Ichs, das die Oktoberrevolution samt deutschem November in einer Jenaer Entziehungsanstalt verschlief. Ist solcherart Ignoranz der Weltgeschichte nicht etwas schuldig? Die Geschichte rettet das Individuum vor sich selbst, indem sie es enteignet. Der Film zeigt das in strenger Chronologie, einzig durchbrochen von den wiederkehrenden Gesichtern des Rothenburger Altars. In ihren Zügen erkannte Becher die eigene Gegenwart. Überhaupt war ihm das sehr alte Deutschland wohl näher als alle Zukunft. Becher, sagte Günter Kunert, war der letzte Deutschland-Dichter. Ein Zuspätgekommener, schon ausgebürgert aus dem "Traumgehäuse".
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