250. Geburtstag Wilhelm von Humboldts: "So viel Weibliches in mir"
Geschlechtergerechtigkeit, Empathie, offene Ehe: Der Gelehrte Wilhelm von Humboldt war seiner Zeit oft weit voraus. Zum 250. Geburtstag des Tegeler Visionärs.
Wie liebt ein Mann, wie liebt eine Frau? Wilhelm von Humboldt fand, er selbst liebe eher wie eine Frau. Seiner Verlobten Caroline von Dacheröden schrieb er: „Zehnmal nenne ich mich DEIN, ehe dich einmal MEIN. Ich weiß nicht, ob alle Männer ebenso lieben, es soll in meinen Gefühlen viel Weibliches sein.“ Und er fuhr fort: „Man sagte mir mehr als einmal, man könnte mit mir wie mit einer Frau reden, und neulich schrieb mir die Forster, sie möchte mich Schwester nennen. Ich find es nicht unwahr.“
Viel Weibliches: Der Ehe war das offenbar zuträglich. Fast vier Jahrzehnte waren Wilhelm und Caroline von Humboldt verheiratet, ihre Beziehung war auf eine Weise offen, frei und innig, wie es auch heute noch ungewöhnlich wäre. Humboldts „weibliche“ Gabe, im Gespräch auf die Gedanken des anderen einzugehen, haben später auch Männer gerühmt. „Wenn man mit ihm redet, so ist es immer, als wenn man mit sich selbst redete, nur unendlich leichter. Man kennt sich selbst allemal besser, wenn man ihn verlässt“, schrieb sein Freund Friedrich Gentz, und Friedrich Schiller lobte: „Im Gespräch mit ihm entwickeln sich alle meine Ideen glücklicher und schneller.“
Die Liebe, die Geschlechter, die Sprache, das Gespräch. Wilhelm von Humboldt (1767 - 1835) hat viel über das Männliche und das Weibliche nachgedacht. Bekannt ist er jedoch aus anderen Gründen: als Bildungsreformer, der in Preußen das humanistische Gymnasium einführte und ein Schulsystem der „allgemeinen Menschenbildung“ ohne Ansehen des Standes anstrebte, als Gründer der Berliner Universität, als Staatsmann und Diplomat, als Begründer der vergleichenden Sprachwissenschaft – und als Bruder des bekannteren Weltreisenden Alexander von Humboldt (1769 - 1859). Vielleicht war er aber auch ein „Vordenker der Geschlechterforschung“? So tituliert ihn jedenfalls die 2006 gegründete „Wilhelm von Humboldt Stiftung“. Die widmet sich nicht etwa der Förderung der Bildung, der Diplomatie oder der Sprachforschung, sondern – Überraschung! – der Sexualmedizin.
Er trat einem geheimen Freundschaftsbund bei
Die Liebesgeschichte zwischen Wilhelm von Humboldt und Caroline von Dacheröden begann mit einer Dampfmaschine. Zu diesem Zeitpunkt war Humboldt 21 Jahre alt, und er hatte eine sehr gelehrte Kindheit und Jugend hinter sich. Seine Mutter, auf deren blassem Gesicht „nie die Spur eines Affekts zu sehen war“, wie eine Bekannte berichtete, legte viel Wert auf eine exzellente Bildung mit herausragenden Hauslehrern. Standesgemäß sollten die adeligen Brüder einmal führende Positionen im preußischen Staat bekleiden. Wilhelm und Alexander litten unter dem frühen Tod des Vaters und empfanden ihre Jugend auf Schloss Tegel und im Stadthaus der Familie am Gendarmenmarkt als einengend und öde.
In lebendigen Kontakt mit dem weiblichen Geschlecht kamen sie erst, als sie um 1785 begannen, die Berliner Salons zu besuchen. Alexander interessierte sich mehr für Männer, aber Wilhelm entbrannte für die schöne Henriette Herz, die Gründerin des ersten Berliner Salons. Ach Jette, mit ihren schwarzen Locken, mit ihrem Geist, ihrem Witz! Doch Henriette war verheiratet, ihr Mann Marcus Herz veranstaltete im Nebenzimmer Vorlesungen über ernste Themen. Für „Unsinn“, sagte er, sei seine Frau zuständig. In deren Salon wurde auch gesungen und gespielt und manches ausgeheckt. Henriette gab Wilhelms Liebeswerben nicht nach, aber sie lud ihn ein, einem geheimen Freundschaftsbund beizutreten. Die Mitglieder schrieben einander lange Briefe und offenbarten ihre innersten Gefühle.
Wilhelm und Caroline trafen sich allein in der Laube
Zum Bund gehörte auch Caroline von Dacheröden, die in Erfurt und auf dem väterlichen Gut Burgörner lebte. Wilhelm wollte sie kennenlernen – und nutzte dafür die erste deutsche Dampfmaschine, die in der Nähe von Burgörner stand, als Vorwand. Er schrieb einen Brief an Carolines technikbegeisterten Vater, gab vor, die Maschine besichtigen zu wollen, und erwirkte so eine Einladung aufs Gut. Es gelang den beiden, sich allein in der Laube zu treffen.
Das Entzücken war wechselseitig. „Als du fort warst, mein Wilhelm, war eine fürchterliche Leere in meinem Herzen“, schrieb Caroline, „ich blieb an einem Baum gelehnt stehen und mein volles, volles Herz erleichterte sich durch Tränen.“ Wilhelm ritt durch die Nacht zurück. „Wieso konnt’ ich sie nicht zu der Länge eines Lebens ausdehnen, die Augenblicke, da ich in wonnevoller Entzückung in deinen Armen lag!“
"27. Juli in Spa einer Hure 1 Krone"
Allerdings war er mit seinen 21 Jahren noch keineswegs bereit, sich tatsächlich für die „Länge eines Lebens“ festzulegen. Im Gegenteil vertrat der spätere Bildungsreformer die Meinung, dass sich der Mensch vor allem durch vielfältige Erfahrungen bilde, und das bezog sich auch auf Frauen. Studium, Bildungsreisen und andere Liebeleien – etwa mit Therese Forster, der Frau des Weltreisenden Georg Forster – gingen also vor.
Und er besuchte Bordelle. „Ich lasse der Begierde ungescheut die Zügel schießen, und erkenne in dem Genuss, selbst in dem, den viele ausschweifend nennen würden, eine große und wohltätig fruchtbare Kraft.“ In einem Oktavheftchen hielt er fest, wie viel er für die Befriedigung seiner körperlichen Bedürfnisse ausgegeben hatte: „27. Juli in Spa einer Hure 1 Krone; 30. Juli in Brüssel einer Hure 7 Sous; 10. August ,Fleischeslust’ 1 Karolin; 14. August ,Sinnenlust’ 2 Kronen 24 Sous.“
Mit schonungsloser Ehrlichkeit analysierte Humboldt im Tagebuch seine sexuellen Phantasien. „Es ist unbegreiflich, wie anziehend für mich jeder Anblick angestrengter Körperkraft bei Weibern – vorzüglich niedrigeren Standes – ist. Es wird mir beinahe unmöglich, meine Augen wegzuwenden, und nichts reizt so stark jede wollüstige Begier in mir.“ Dies rühre noch aus den Jahren seiner ersten Kindheit her. „Wie sich zuerst meine Seele mit Weibern beschäftigte, dachte sie sich immer Sklavinnen, durch allerlei Arbeit gedrückt, tausend Martern gepeinigt, auf die verächtlichste Weise behandelt. Noch jetzt hab ich Sinn für solche Ideen.“
Caroline verliebte sich mehrfach in andere Männer
Glücklich machten ihn diese „Ideen“ nicht – sie hätten, so analysierte er weiter, letztlich „die Gleichgültigkeit und Leere in mir hervorgebracht, an der ich jetzt kranke“. Als Humboldt, anderthalb Jahre nach dem ersten Zusammentreffen in Burgörner, im Dezember 1789 Caroline auf einem Ball in Erfurt einen Heiratsantrag machte, suchte er auch ein Gegenmittel gegen diese Leere. Früher „fehlte das Leben, die Energie, die Glut – diese belebende Kraft, diese alles durchströmende Wärme gab mir deine Liebe, Lina.“
Die Grundlage der Ehe von Wilhelm und Caroline war maximale Freiheit für beide Partner. Caroline war überzeugt, dass „die reizendste Blüte des Lebens nur in dem Odem der höchsten Geistesfreiheit aufblüht“. Wilhelm glaubte, dass sie diese Freiheit nur bei ihm finden würde. „Ich kenne die Männer, fast alle sind sie eingeengt und einengend“, schrieb er ihr. Und an seinen Freund Georg Forster: „Sollte einer von uns nicht mehr in dem anderen, sondern in einem Dritten das finden, worin er seine ganze Seele versenken möchte, nun, so werden wir beide genug Wunsch, einander glücklich zu sehen und genug Ehrfurcht für ein so schönes, großes, wohltätiges Gefühl, als das der Liebe ist, besitzen, um nie auch durch die mindeste Undelikatesse die Empfindung des anderen zu entweihen.“ Wenn sich einer der Partner in einen anderen verlieben sollte, würde der jeweils andere das nicht nur akzeptieren, sondern gutheißen.
An diese Maxime sollten sich beide halten. Während ihrer Ehe lebten Wilhelm und Caroline auf den Gütern des Schwiegervaters, in Jena, Paris, Rom und Berlin; als Wilhelm um 1810 im Dienste des preußischen Königs das Bildungswesen reformierte und später als Diplomat auf dem Wiener Kongress, in Frankfurt und London tätig war, waren sie oft viele Monate voneinander getrennt. Ihre Briefe aneinander füllen sieben dicke Bände. Die begeisterungsfähige, kunstsinnige Caroline verliebte sich mehrfach in andere Männer. Einer davon, Wilhelm Theodor von Burgsdorff, zog in Jena sogar bei den Humboldts ein. Dass Gast und Hausherrin einander eng verbunden waren, blieb nicht verborgen. Lotte Schiller fand das Verhalten „unschicklich“, und das Gerücht machte die Runde, Caroline werde Burgsdorff heiraten. Das geschah nicht. Doch dem 1797 geborenen zweiten Sohn gab sie den Namen „Theodor“, und es wurde gemunkelt, Burgsdorff sei der Vater.
Er glaubte bis zuletzt an die Ebenbürtigkeit in der Ehe
Acht Kinder entstammten der Ehe von Wilhelm und Caroline von Humboldt, von denen fünf das Kindesalter überlebten. Lieblingssohn Wilhelm starb mit neun Jahren an Malaria, als Humboldt in Rom als Gesandter am Heiligen Stuhl arbeitete. Um nach der Tragödie Ablenkung zu finden, reiste Caroline zu ihrem Geliebten Gustav von Schlabrendorf nach Paris und ließ Wilhelm als alleinerziehenden Vater in Rom zurück. Er befürwortete die Reise und schrieb ihr, sie solle nicht auf das „alberne Geschwätz in Deutschland“ hören, dass ihre Ehe gefährdet sei. „Du bist so frei, dass du niemandem über diese Reise nach Paris Rechenschaft zu geben hast.“ Als er selbst 1810 allein in Königsberg lebte, begann er eine leidenschaftliche Beziehung mit der Arztgattin Johanna Motherby. Auch das brachte die Ehe nicht in Gefahr.
An die Ebenbürtigkeit in der Ehe glaubte er bis zuletzt. „Ohne völlige Gleichheit im Alter und allem ist es mit der Ehe wenigstens nie das Höchste, es ist nichts so fatal, als wenn sich der Mann so viel klüger und erfahrener hält als die Frau, es kann da lange nicht so ein Genuss des ganzen Wesens durch das ganze Wesen sein“, schrieb er im höheren Alter an Caroline. Ihrer beider Ehe habe das eingelöst: „Ich glaube nicht, dass es noch einmal zwei Menschen auf Erden gibt, auf die das verehelichte Leben so tief und wechselseitig gewirkt hat wie bei uns.“
So sehr Wilhelm von Humboldt den Geist, die Bildung und Unabhängigkeit seiner eigenen Frau und seiner Töchter schätzte: Das humanistische Gymnasium, das er entwarf, die Universität in Berlin, die er gründete – sie waren Männern vorbehalten. In zwei frühen Aufsätzen definierte er das Männliche und das Weibliche als gegensätzliche Kräfte, die einander bedingen und brauchen. „Der ganze Charakter des männlichen Geschlechts ist auf Energie gerichtet; dahin zielt seine Kraft, seine zerstörerische Heftigkeit, sein Streben nach Außenwirkung, seine Rastlosigkeit. Dagegen geht die Stimmung des weiblichen, seine ausdauernde Stärke, seine Neigung zur Verbindung, sein Hang, die Einwirkung zu erwidern, und seine holde Stetigkeit allein auf Erhaltung und Dasein.“ Beide Kräfte müssen sich begegnen, aufeinander einwirken, gemeinsam etwas Neues schaffen, nach dem Modell des Geschlechtsakts. Diese geschlechtliche Wechselwirkung liege auch dem Denken selbst zugrunde.
Seine liberalen Ansichten kosteten ihn sein Amt
Die Zuschreibungen, das Männliche stehe für Energie, das Weibliche für Bewahrung, wirken heute klischeehaft. Aber immerhin: Anders als die meisten Zeitgenossen ging Wilhelm von Humboldt nicht davon aus, dass das Weibliche dem Männlichen untergeordnet sei. Es handele sich um zwei gleichwertige Kräfte, die nur gemeinsam Neues schaffen können.
Wegen seiner liberalen politischen Ansichten wurde Humboldt 1819 aus dem preußischen Staatsdienst entlassen und widmete sich fortan auf Schloss Tegel seinen Sprachstudien, über die er regelmäßig Vorträge an der Akademie hielt. 150 Sprachen soll er gekannt haben. Caroline und er ordneten ihre Sammlung von antiken Skulpturen aus Rom im Schloss an. Der Blick von Humboldts Schreibtisch fällt noch heute auf zwei nackte Gipsabgüsse der Liebesgöttin Venus. Kein Widerspruch zur geistigen Arbeit, denn auch die Sprache hatte für Humboldt mit Geschlechtlichkeit zu tun – mit Zeugung, Wechselwirkung, Ich und Du.
Bis zu seinem Tod führte er einen geheimen Briefwechsel
Neben Caroline gab es noch eine Frau, mit der er ausführlich Gedanken austauschte: Charlotte Diede. In die Pfarrerstochter hatte er sich in der Jugend kurz verliebt. 26 Jahre später, mitten in seiner Diplomatentätigkeit auf dem Wiener Kongress, erhielt er einen Brief, in dem sich die Frau an den „unvergessenen, unvergesslichen Jugendfreund“ wandte. Es folgte ein geheimer Briefwechsel, in dem Humboldt seine Gedanken über das Leben, die Natur, das Altern niederschrieb und der erst mit seinem Tod endete. Charlotte Diede veröffentlichte seine Briefe zwölf Jahre danach, und das Werk fand weite Verbreitung als Erbauungsbuch.
Als Caroline 1829 mit 63 Jahren in Tegel starb, fühlte sich Wilhelm „im Innersten angegriffen und zerstört“. Den Briefwechsel mit ihr vermachte er der ältesten Tochter mit der Auflage, er müsse „immer in weibliche Hände kommen“. Noch sechs Jahre lebte Humboldt zurückgezogen in Tegel. Er starb am 8. April 1835, nachdem er lange das Bild seiner Frau betrachtet und die Hoffnung geäußert hatte, er werde sie nun wiedersehen.
Tagesspiegel-Redakteurin Dorothee Nolte hat zum 250. Geburtstag von Wilhelm von Humboldt am 22. Juni 2017 ein Buch geschrieben: „Wilhelm von Humboldt – Ein Lebensbild in Anekdoten“. Es erscheint im Eulenspiegel Verlag (128 Seiten, 9,90 Euro).
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