Normandie: Seine oder nicht Seine?
In der Normandie herrscht die tiefe Stille der Provinz. Flachsfelder, Klöster, reetgedeckte Häuser prägen eine unentdeckte Landschaft - und ein Fluss.
Ein grüner Fleck auf der Landkarte, so grün, so groß, drumherum alles hell, das macht stutzig. Da muss doch was sein!
Die meisten Normandie-Besucher interessiert das nicht, für sie bleibt der grüne Fleck ein weißer. Mit dem Auto aus Paris kommend, machen sie Halt in Giverny, der Hochburg der Impressionisten, schieben sich durch die engen Gassen von Rouen, in memoriam Jeanne d’Arc, deren Asche in die Seine geworfen wurde (um die Heiligenverehrung zu unterbinden, hat auch nichts genützt) – und drücken dann aufs Gas. Schnell weiter, ans Meer. Schön blöd.
Denn da ist tatsächlich was: ein wunderbarer Naturpark mit dem umständlichen Namen „Parc naturel régional des Boucles de la Seine Normande“ . Weite Wälder und windschiefe Fachwerkhäuschen, reetgedeckt, mit Lilien auf dem First, Blumen am Wegesrand, Klöster, Kirchen, Dörfer, quirlige Städtchen, zottelige Rinder auf der Weide, Marschland, blühende Kirschbäume, blau schimmernde Flachsfelder. Schnell macht sich ein Sieht-aus-wie-früher-Gefühl breit.
Seine? Was macht die denn hier, die ist doch in Paris zu Hause, geradezu deren Synonym. Dass sie irgendwo auch einen Anfang und ein Ende haben muss und ziemlich viel dazwischen (777 Kilometer insgesamt), darüber hat man sich nie Gedanken gemacht.
Caudebec-en-Caux hat eine Uferpromenade und ein Seine-Museum
Die Dummheit der einen bedeutet das Glück der anderen. Denn im Gebiet des Naturparks links und rechts der sich heftig schlängelnden normannischen Seine, hinter Rouen und vor Le Havre, ist es längst nicht so überlaufen wie in den berühmteren Küstenorten. Durch die Bilderbuchhafenstadt Honfleur etwa quetschen sich drei Millionen Touristen im Jahr. Im ebenfalls blumigen Marktstädtchen Pont-Audemer dagegen geht es selbst an einem sommerlich sonnigen Samstag recht gemütlich zu. Im „normannischen Venedig“ verläuft man sich gern, um Gassen, Kanäle und Hinterhöfe mit Rosenbüschen zu entdecken, wo die Gerber früher ihr Leder bearbeiteten, kleine Läden zu durchstreifen. Einige der Fachwerkhäuser tragen zartes Hellblau, in den Konditoreien deckt man sich mit Mandelröllchen ein. Nur die merkwürdige Beschallung mit Dudelmusik aus Lautsprechern an den Häusern nervt.
Wer einen roten Faden durch das dünn besiedelte Gebiet braucht, hält sich an die malerischen Routen, die es hier gibt, Reetdach-, Kloster- und Obststraße. Oder fährt den Radweg an der Seine lang. Ansonsten empfiehlt es sich, die Erkundung in Caudebec-en-Caux zu beginnen. Ist nicht so groß wie Paris und wurde im Krieg schwer zerstört, hat aber ebenfalls eine Uferpromenade, eine imposante Notre-Dame, einen Markt. Und vor allem, seit letztem Jahr, ein Seine-Museum direkt am Fluss, in reizvoller Bootshaus-Architektur.
Die Geschichte der normannischen Lebensader wird hier lebendig und mit Hilfe klug eingesetzter Medientechnik erzählt. Die meisten Seeleute etwa, erfährt der Besucher, konnten offenbar nicht schwimmen, weshalb sie sich gut mit der Jungfrau Maria zu stellen versuchten, auf dass sie sie beschütze, daher die vielen Marienkapellen. Man bewundert die Strandkörbe aus einer Zeit, als jeder Ort sein eigenes Flussbad hatte, das elegante Mahagoni-Boot Marke Citroën. Und jenes, in dem die Tochter Victor Hugos 1843 mit ihrem Mann ertrank, ein halbes Jahr nach der Hochzeit.
Der Wildlachs ist zurückgekehrt
Der Schriftsteller mit Hauptwohnsitz Paris engagierte sich übrigens in der hiesigen Regionalpolitik, unterstützte den Plan, die Seine zu zähmen, um sie wirtschaftlich attraktiver zu machen, nachdem sie als Hauptverkehrsweg von der Eisenbahn verdrängt worden war.
So sieht die Seine heute viel schlanker aus als zu Beginn des 19. Jahrhunderts. War sie früher einen ganzen Kilometer breit, sind’s heute noch 300 Meter. Da wird klar, warum man hier Leuchttürme auf dem Trockenen erblickt, oder dass Lillebonne, ein ganzes Stück weit weg vom Fluss, mal Hafenstadt war.
Heute muss keiner mehr auf die Fähre warten, um von einem Ufer ans andere zu kommen, kann man eine der beiden Nachkriegsbrücken überqueren. Die filigrane Pont de Normandie ist eine spektakuläre Sehenswürdigkeit, eine der größten Schrägseilbrücken Europas.
Die Werften machten Anfang der 1970er zu, ein Jahrzehnt später mussten die Fabriken ihre toxische Produktion einstellen. Was schlecht ist für die Industrie, ist gut für Anwohner und Fremdenkehr: Die Wasserqualität hat enorm gewonnen, der Wildlachs ist zurückgekehrt. Dass der Fluss so braun aussieht, hat einen anderen Grund: den sandigen Boden, der durch Ebbe und Flut aufgewühlt wird. Der Unterschied in der Wassertiefe macht dann mehrere Meter aus, bei Ebbe ist der Fluss so flach, dass er fast mehr aus Sandbänken denn aus Wasser zu bestehen scheint. Ohne Lotsen geht beim Navigieren gar nichts.
David Görne serviert Thunfisch mit Lakritzsauce
Am linken Ufer der Seine ist es besonders grün, dort liegen die Eichen- und Buchen des Forêt de Brotonne und das Marschland Marais-Vernier, das größte Torfmoor Frankreichs, wo sich Birkhuhn und Storch, Hecht und Aal gute Nacht sagen. Im Schilf hat ein Frosch alle viere von sich gestreckt, zwei andere bespringen sich. Von einem Holzturm kann man das weite Paradies erblicken. Der schlimmste Störenfried ist ein Rasenmäher.
Zurück nach Caudebec, das noch eine weitere Besonderheit hat: den einzigen deutschen Sternekoch Frankreichs. Im Manoir de Rétival serviert David Görne Thunfisch mit Lakritzsauce, Szechuanpfefferblüten zum Champagner. Das Restaurant ist klein, spontan geht da gar nichts, also weiter zum nächsten Dorf. Im „Rendez-vous des Chausseurs“ sitzt man unter Einheimischen, im normannischen Fachwerkhaus mit seinen charakteristischen dünnen, senkrechten Balken, dicht aneinandergereiht.
Zum Kir Normand – Cidre mit Cassis – wird Leberpastete auf Honigbrot gereicht. Die Küche der Region ist oft traditionell, gut, aber schwer, viel Fisch, viel Fleisch. Wie auf den meisten Speisekarten ist die einzige vegetarische Variante eine Vorspeise mit Ziegenkäse – frittiert.
Blau schimmert das Feld. Es ist Juni, Flachszeit. Ein kurzes Vergnügen, der Flachs, der so zart ist, dass er unter dem Gewicht einer Hummel zusammenbricht, blüht nur ein paar Stunden lang. Allerdings nicht alle Pflanzen gleichzeitig, daher währt die Freude ein, zwei Juniwochen lang. Das wird gefeiert, mit Festen und Märkten wie in Routot, wo man auf dem Platz Leinen satt kaufen kann, Kleider, Lampenschirme, Kissen, Bären.
Abtei Saint-Wandrille: „Stillsein bedeutet zuhören"
Wer’s lieber ruhiger hat: Am Eingang der Benediktinerabtei Saint-Wandrille wird um Ehrfurcht und Stille gebeten. In der Kirche mit ihrer Holzdachkonstruktion geben sich ein Dutzend Mönche gregorianischem Singsang hin, wiegen sich in ihren Gebetsstühlen vor und zurück. Die turbulente Geschichte des Klosters lässt sich an den Bauschichten ablesen. Im 7. Jahrhundert gegründet, wurde es immer mal wieder von Eindringlingen zerstört – den Wikingern, französischen Revolutionären, der deutschen Wehrmacht – und dann teilweise neu aufgebaut. Da, wo heute Kies liegt, stand einst eine Kirche, die Klosterschafe haben ihre eigene Fachwerkruine als Unterschlupf. Und hier, sagt Bruder Lucien bei der Führung und lacht, „hier kommt die Moderne“: das 18. Jahrhundert. „Allez!“
Ins Refektorium, übriggeblieben aus romanischen Zeiten, dürfen die Besucher nicht rein. Aber der Mönch, klein, knubbelig, verschmitzt und seit fast 50 Jahren im Kloster zu Hause, erzählt vom Mittagessen, bei dem ein Bruder immer was Erbauliches vorliest, etwa über die Entdeckung von Troja, die Erschaffung der Eisenbahn. Bruder Lucien verrät, was er am liebsten zur Entspannung liest: „Asterix“ und „Tim und Struppi“.
Zurück im Eingangsraum, muss der Mönch dem Paketboten eine Lieferung quittieren, Eintrittskarten verkaufen, das Telefon bedienen und gucken, wo er jetzt einen Guide für die nächste Gruppe herkriegt. Und zwischendurch erklärt er das Konzept der Stille: nicht, dass man gar nicht miteinander redet, sondern dass man nur sagt, was nötig ist, wenn es nötig ist. „Der Rest ist Krach.“ Das hat für ihn mit Respekt vor dem anderen zu tun. „Stillsein bedeutet zuhören.“
Zwei Forellen, ein Euro das Stück
Der Besuch endet im gut gehenden Klostershop, dort wird zwischen Mandelplätzchen und Honig auch das Bier verkauft, das die Möche seit vergangenem Jahr nebenan brauen. Läuft gut.
Ein paar Schritte von der Abtei entfernt, hinter Grün versteckt, betreibt Marc Genet seine Pisciculture. Ziemlich entspannt wirkt der Fischer, der hier geboren und immer geblieben ist. Der 60-Jährige, dem sich ein amüsiertes Grinsen und Runzeln tief ins Gesicht gegraben haben, findet, dass die Fische ihn jung gehalten haben. Wenn Kunden kommen, holt er ein paar Regenforellen mit dem Netz aus dem Bach, haut diesen, ganz nonchalant, eins auf den Kopf, und schon trägt das Paar sein Abendessen in der Plastiktüte nach Hause: zwei kleine Forellen, ein Euro das Stück. Auch Sternekoch Görne gehört zu Genets Kunden.
Auf einem Spazierweg, Promenade de la Fontenelle, kann man in 20 Minuten nach Caudebec laufen, zurück an die Seine. Wo einem nur eins zum Glück fehlt: ein netter Dampfer. Kanus und Kajaks sieht man häufiger, so wie die unvermeidlichen Flusskreuzfahrtschiffe, aber regelmäßige Ausflugstouren, um die Landschaft vom Wasser aus zu betrachten, gibt es nur hinter Rouen. Das ist ein bisschen so, als würde man jemandem einen saftigen Pfirsich vor die Nase halten, in den er nicht beißen darf. Doch es gibt erste zarte Versuche einer Dampfschifffahrt. Ein Grund, zurückzukommen.
Reisetipps für die Seine
Hinkommen
Mit dem Flugzeug nach Paris (Direktflüge mit Air France, Germanwings, Easy Jet), weiter mit dem Mietwagen.
Unterkommen
Das Hotel Le Petit Coq aux Champs (hübsche Reetdachanlage mit gutem Restaurant), DZ ab 124 Euro. hotel-coq-pont-audemer.com
Rumkommen
Informationen unter: normandie-urlaub.com, pnr-seine-normandie.com
Susanne Kippenberger