Crystal Meth in Deutschland: Zwischen Wach und Wahn
50 Stunden ist er auf den Beinen. Er tanzt, trinkt, hat Sex. Essen wird er nichts. Daniel nimmt seit zwölf Monaten Crystal Meth. Die Droge gilt als derzeit gefährlichste. Auch, weil sie jeder bezahlen kann.
Komm rein, mach’s dir bequem! Kaffee? Bier? Kippe? Erst mal Musik lauter, oder?! Wie eine Libelle schwirrt Daniel durch seine Berliner Ein-Zimmer-Wohnung, telefoniert, trinkt, lacht. An der Wand hängt eine Fotomontage, sie zeigt einen Engel. Auf der Couch sitzen drei Freunde, auch sie vibrieren.
Ein Donnerstag, 18 Uhr, Gastgeber Daniel sagt: „Es wird wieder sagenhaft!“
Daniel wird die nächsten 50 Stunden mit allerlei Menschen sprechen, in drei Clubs allerlei Getränke bestellen, tanzen, singen, für 100 Euro in Taxis durch Berlin fahren, er wird Sex mit einem Bekannten haben, irgendwo seine Jacke liegen lassen, und am Samstag, 18 Uhr, wird Daniel in seine Wohnung stolpern, im Flur eine Stunde lang seine beachtliche Turnschuhsammlung sortieren, den Fernseher einschalten, schließlich wegdösen.
Essen wird Daniel – 1,81 Meter, 61 Kilo – in den 50 Stunden nichts.
Kristalle wie Badesalz
Die Musik aus den Boxen vermischt sich mit dem Feixen der Freunde, jeder Beobachter wird von der Vorfreude angesteckt, auf die Odyssee, die gleich beginnt.
Daniel streut Krümel aus einer zerknüllten Folie auf den Tisch. Eine dünne Linie feiner Kristalle, drei Zentimeter lang, die wie Badesalz aussehen. Crystal Meth, eine Labordroge auf Amphetaminbasis, hergestellt unter anderem aus Hustenmitteln. Durch einen gerollten 20-Euro-Schein zieht Daniel die Kristalle in die Nase. Die Menge kostete ihn keine fünf Euro.
Was dann passiert, beschreibt Daniel vage: Es kribbelt in der Nase, es flutet durch den Kopf, ein warmer Wind reißt im Hirn die Fenster auf, die Konturen aller Möbel, Geräte, Pflanzen werden scharf, dieses Licht, die Lust …
Die Kristalle, die so wundersam wirken, stammen wahrscheinlich aus einer Lagerhalle in Tschechien, vielleicht auch aus einem Campingwagen in Holland oder Brandenburg. Profis stellen Crystal inzwischen in mobilen Mini-Laboren her. In den USA haben es Millionen probiert, Hunderttausende hat es zerstört.
Wohnzimmer, Schwulenparty, Bierzelt
Die Bundesregierung erklärte Crystal kürzlich zur derzeit gefährlichsten Droge. Bei den meisten Rauschmitteln stieg die Zahl der ertappten Erstkonsumenten nicht – anders bei Crystal. Vergangenes Jahr sind fast 2800 Erstkonsumenten aufgefallen – das sind nur jene Menschen, die 2013 erstmals Crystal nahmen und dabei erwischt wurden.
Weil der Stoff oft aus Tschechien kommt, fing die Crystal-Epidemie in Sachsen und Bayern an. Die Landesregierung in Sachsen hat inzwischen ein Sonderprogramm angekündigt: mehr Fahnder, mehr Psychiater, mehr Vernetzung zwischen Ämtern.
Auch in Berlin gibt es jeden Tag kleine Feiern wie die in Daniels Wohnzimmer. Auf vielen Schwulenpartys in der Stadt wird die Droge offen angeboten, es gibt sie aber auch in Bierzelten in der märkischen Provinz. Im März wurden Crystal-Tüten auf einem Spielplatz in Kreuzberg gefunden.
Akademiker und Arbeiter, Spießer und Gangster
Crystal putscht länger auf als übliche Amphetamine wie Speed, jeder Hunger und alle Sorgen scheinen zu verfliegen, es stimuliert sexuell stärker als Kokain. Vor allem macht Crystal schneller süchtig. Daniel kennt Männer, die Sex nur noch auf Crystal wollen. Langfristig ruiniert es das Gedächtnis, meist kommt es zu Paranoia und Depressionen. Aus Detailliebe wird ein verbreiteter Wahn: Sind die kleinen Punkte an der Wand nicht giftige Käfer? Aus Energie wird Apathie: Wozu arbeiten, lesen, kochen – alles sinnlos!
Soweit ist Daniel noch nicht. Selbst mit Crystal braucht es eine Zeit bis zum Absturz. Daniel ist in Potsdam aufgewachsen. Er wusste es in der 10. Klasse, seine Familie ein Jahr später, zum Abi dann die ganze Schule: „Ich bin schwul.“ Probleme mit dem Coming-out habe er nicht gehabt. Daniel legt Wert darauf, dass nicht alle Schwulen so drogenaffin seien. Crystal ist ohnehin längst die Droge aller, sagen Ärzte und Therapeuten: Heteros, Homos, Männer, Frauen, Akademiker, Arbeiter, Spießer, Gangster. Vier Tonnen wurden schätzungsweise 2013 bundesweit verbraucht, das sind mehr als 40 Millionen der Portionen, wie sie Daniel vom Tisch gezogen hat.
Wieso Crystal, dessen Image selbst schlechter ist als das von Heroin?
Bier, Kiffen, Koksen, Crystal
Daniel begann nicht mit Crystal. Er hat sich langsam gesteigert, nicht ungewöhnlich. Das erste Bier mit 14, mit 16 Kiffen, mit 19 ab und zu Ecstasy, mit 22 Kokain. Letzteres gefällt ihm so gut, dass er bald mehr will. Daniel macht, was man in diesen Alter macht: bisschen übertreiben. Weil Kokain nicht allzu lange wirkt, kauft er in den Nächten oft nach. „Das wurde mir zu teuer“, sagt Daniel. „Da hab’ ich’s gelassen.“ Bei Kokain klappt das noch ziemlich oft.
Dann lernt er seinen ersten Freund kennen. Und der schwärmt von diesen neuartigen Kristallen. Daniel kannte da schon die berüchtigten Vorher-Nachher-Fotos. Auf den Aufnahmen aus den USA sind Crystal-Konsumenten nach der ersten und nach der letzten Festnahme abgebildet. Dazwischen liegen wenige Jahre, aber die Bilder sehen aus, als handele es sich um andere Menschen: fleckige, ausgemergelte Gesichter. Ein Blick auf diese Fotos müsste jeden abschrecken.
Nur ein Mal probieren, sagt sich Daniel, gehe ja meistens gut. Meistens.
Viele sagen: Schon nach dem ersten Mal dieses Verlangen
Das erste Mal hat Daniel es vor einem Jahr mit seinem Freund probiert. Dann noch mal und noch mal. Nicht alle, aber sehr viele sagen: Schon nach dem ersten Mal hätten sie dieses Verlangen gespürt. Ein seelisches Bedürfnis nach diesem Universum, der Wachheit, der Lust. Jedes noch so gefährliche Betäubungsmittel – Heroin, Klebstoff, Crack – lockt Abgehängte und Einsame an. Menschen, die allen Grund haben, sich zu betäuben. Entrückt zu sein – für viele ist es ein Segen, die Wirklichkeit wäre zu hart.
Daniel aber sieht aus wie der US-Schauspieler Jared Leto. Wenn er seine Strähnen hinter die Ohren streicht, schauen ihm Frauen und Männer wie treue Hunde hinterher. Daniel ist Grafiker, nach der Ausbildung bekommt er gut bezahlte Aufträge. Hart ist seine Wirklichkeit nicht.
Warum Crystal? Daniel erzählt von der Neugier, dem Glauben, dass er nie so enden wird wie diejenigen auf den Fotos.
Zwei Lines reichen
Crystal macht alles zur persönlichen Offenbarung. Jedes Lied im Radio, der Besteckkasten, die Schuhe im Flur. Wo der Nüchterne ein Straßenschild sieht, den Wetterbericht hört, eine Uhr repariert, betrachtet der Crystal-Konsument ein Meisterwerk, hört eine Hymne, fummelt an einem Wunder der Technik. Was es Daniel außerdem leicht macht: „Du brauchst nur eine, maximal zwei Lines.“
Das wird sich ändern.
Man kann wohl sagen, dass die drei Zentimeter, die Daniel gezogen hat, bei ihm derzeit der Wirkung von 20 Zentimetern handelsüblichen Kokains entsprechen. Bald wird er mehr wollen.
Um das zu wissen, braucht man keinen Hellseher, nicht mal einen Psychiater. Man braucht Uwe.
Drei Zugstunden entfernt von Berlin sitzt Uwe in einem Café in einer Fußgängerzone und trinkt Mineralwasser. Uwe heißt nicht Uwe, sein Name aber klingt ähnlich traditionell. Er ist doppelt so alt wie Daniel und stammt aus einem bayrischen Dorf. Uwe ist Handwerker, ein Kumpeltyp.
Über Männer wie ihn hat Crystal einst den Weg nach Deutschland gefunden.
Ein Crystal-Veteran erzählt
Das Foto auf seinem Ausweis zeigt einen vollwangigen Mann, symmetrische Züge, souveräner Blick. Kräftig ist er heute noch, doch die Augen liegen tiefer in den Höhlen, sein Gesicht hat an Spannkraft verloren. Ein Crystal-Veteran.
In den 80ern fängt Uwe mit „einem Näschen“ am Wochenende an – noch ist es Kokain. Uwe ist neugierig, fährt Ende der 90er mit Freunden nach Tschechien: „Und irgendwann haben wir eben was geholt.“ Crystal ist eine preiswerte Alternative zum Koks. Beides kostet zwar bis zu 100 Euro pro Gramm, aber Crystal ist viel wirksamer. Außerdem war die Droge damals kein Thema, die Abschreckungsbilder kannte Uwe nicht. „Auf Crystal lässt man sich ablenken wie ein Baby“, sagt er. „Da schaffts du nicht mal mehr den Weg ins Bad. Im Flur hängt ein Spiegel – super interessant.“ Er habe mal zwei Stunden lang Schrauben und Gewinde sortiert.
Schon vor Crystal hat Uwe mit seiner Frau viel Streit, Trennung und Schulden folgen. Er zieht immer mehr, schließlich importiert er den Stoff selbst. Dann wird eine schwere Krankheit diagnostiziert, der Arzt gibt ihm nur noch ein paar Jahre – voreilig, Uwe lebt ja noch. Doch die Diagnose gibt ihm den Rest.
Ein halbes Kilo durch die Nase
Kurz vor dem Ende, das zum Neuanfang wird, nimmt Uwe den Stoff mehrfach am Tag. Eine Woche ohne Schlaf, vor den Augen ein Grauschleier, Paranoia. Zur gleichen Zeit hat er allen Grund zur Vorsicht, denn Fahnder observieren ihn, 2008 wird er verhaftet.
Er sagt: „Der Knast hat mich gerettet.“
Seit seiner Verhaftung habe er Crystal nicht angerührt, nach dem Gefängnis folgt eine Therapie, er meidet alte Bekannte, ist umgezogen.
In den vergangenen 25 Jahren hat Uwe etwa ein halbes Kilogramm gezogen: Kokain, Speed, Crystal. Noch heute lässt er sich leicht ablenken. Über Entscheidungen, die andere beiläufig treffen, denkt er manchmal lange nach: Links oder rechts abbiegen? Diesen oder jenen Pullover kaufen? Noch ein Wasser bestellen? Es dauert, bis im Hirn neue Wege eingeschlagen werden, bis ein Lied, ein Geruch, ein lauer Abend nicht das Bedürfnis nach Crystal weckt, sondern sagen wir: nach Sport, einem Buch oder Rasenmähen. Vielen ist der Alltag – Job, Amt, Familie – noch jahrelang eine Last.
Frauen, die alles machen
Uwe hat immer noch den Blick für die Szene, er erkennt die Suchenden in den Fußgängerzonen, und diejenigen, die etwas besorgen könnten. „Man hat sich damals selbst belogen“, sagt er. „Dauernd kommt man wie zufällig an Orten vorbei, wo es was gibt.“
Bei vielen Drogen geht es anfangs auch um Sex. Viele fangen an, weil der Partner – oder jemand, der es werden soll – es auch tut. Frauen auf Crystal, sagt Uwe, machten alles. Und damit meint er nicht nur riskante Praktiken, sondern vier, fünf Männer hintereinander.
Aus Drogenberatungen heißt es, wegen Crystal kämen neuerdings mehr Frauen als etwa wegen Kokain. Viele von ihnen sprächen auch von gesteigerter Libido. Repräsentative Zahlen gibt es nicht. Doch man kann Frauen danach fragen. Drei Tage wach, härterer Sex?
Nur einmal im Monat ein Näschen?
„Bei mir nicht“, sagt Jana. „Ich drehe dabei nicht durch oder so.“ Auch Jana heißt eigentlich anders, lebt in Berlin, ist Mitte 20 und ziemlich schlank. Crystal hat sie das erste Mal 2010 mit ihrem damaligen Freund genommen. „Ich mache es unregelmäßig, im Schnitt aber nicht mehr als einmal im Monat.“ Nur einmal im Monat ein Näschen, geht das?
Nicht ausgeschlossen, sagen Ärzte, und erklären es so: Amphetamine wirken unterschiedlich. Auch das Arzneimittel Ritalin ist ein Amphetamin, quasi legales Speed. Hyperaktive Kinder aber beruhigt es, sie können sich besser konzentrieren. Und tatsächlich ist Jana, gelinde gesagt, ziemlich lebendig. Vielleicht hat sie Glück, vielleicht schadet ihr der Konsum weniger als anderen.
Jana wohnt in einer kleinen Wohnung im Osten Berlins. Alles hat seinen Platz. Die Stifte stecken in einem eigenen Becher, die Klamotten hängen an Haken, die Couch ist gesaugt.
Allerdings weiß Jana, dass sie sich oft nicht lange auf eine Sache fokussieren kann. Die Abschlussarbeit an der Uni hat sie bestanden, seitdem aber ist – außer feiern – nicht viel passiert. Inzwischen hilft sie in einem Restaurant aus. Die Berliner Drogenbeauftragte sagt: Kontrollierter Konsum gelänge nur wenigen, psychisch stabilen Menschen.
Einmal war Jana bei einer Drogenberatung: „Die wissen nicht, wovon sie reden. Wer es nicht genommen hat, kann auch nicht helfen.“
Crystal? Nur noch diesen Sommer
Ob Uwe, der Veteran, noch mal schwach wird? „Ich glaube nicht. Ich kiffe nur noch“, sagt er. Das beruhige ihn, Crystal reize ihn dann nicht. „Meine Ruhe ist mir inzwischen heilig.“
Eine Woche später. Daniel hat nach der 50-Stunden-Session fünf Tage gebraucht, um sich zu erholen. Gearbeitet hat er in der Zeit wenig, ferngesehen viel.
Was hat er dieses Wochenende vor? „Irgendwie hab’ ich noch Lust auf alles.“ Aber nur noch diesen Sommer, dann sei er ausgelaugt. Jetzt erst mal Freunde, Musik, Crystal. „Aber, wie gesagt, nur noch diesen Sommer. Man muss wissen, wann man besser Schluss macht.“
Und dann sagt Daniel: „Ich hätte es nie gemacht, wenn ich gewusst hätte, dass es so geil ist.“