Trauerfeier in Mainz: Wie der Mord an Susanna F. eine Stadt spaltet
Seit Susanna tot ist, sprechen die Menschen in Mainz von Angst. Die einen fürchten sich vor Asylbewerbern, die anderen vor der AfD. Die Auswirkungen sind schon spürbar.
Vor dem roten Pavillon auf dem Mainzer Gutenbergplatz steht ein Mann im Regen. Seit Minuten schon. Regungslos, ganz in Schwarz gekleidet. Das Wasser rinnt sein bleiches Gesicht hinunter, durchnässt die Kleidung. Er schaut auf den Boden vor sich. Unter dem Zeltdach liegt eine einzelne Rose, daneben dutzende brennende Teelichter. Sie formen das Wort Susanna.
Susanna F. aus Mainz-Lerchenberg, 14 Jahre alt geworden. Getötet von einem Asylbewerber, der die Tat gestanden hat, seinerseits angekommen in Deutschland im Oktober 2015, dessen Antrag im Dezember 2016 abgelehnt worden ist, der dagegen klagte und in Deutschland blieb.
"Mainz ist kein rechtes Pflaster", sagt der Bürgermeister
Auf dem Platz ist es still. 150 Mainzer sind gekommen, um zu trauern, schweigend. Vielleicht auch, um sich einer vermeintlichen Sicherheit zu vergewissern, die ins Wanken geraten ist. Denn seit Susanna F. tot ist, reden Menschen in Mainz von ihrer Sorge. Viele Deutsche kennen die rheinland-pfälzische Hauptstadt von der jährlichen Fernsehsitzung, die vor der Fastnacht gezeigt wird: „Mainz bleibt Mainz – wie es singt und lacht“. Jetzt könnte die Einheit der Stadt auf dem Spiel stehen. Während sich die einen in ihren Ängsten vor Fremden bestätigt sehen, fürchten andere genau die Dinge, die aus solchen Ängsten erwachsen.
Etwa 200 Meter von der Trauerfeier entfernt steht einige Minuten zuvor der Bürgermeister von Mainz, Günther Beck, am Markt vor einer Absperrung. Dahinter die Vorboten dessen, was viele Mainzer dieser Tage fürchten. „Mainz ist kein rechtes Pflaster“, sagt Beck. Deswegen sind es wohl auch nur 35 Demonstranten, mobilisiert unter anderem von der AfD, die da nun mitten in seiner Stadt stehen, zu Füßen des Doms, und still ein Transparent hochhalten: „Kandel ist überall“. Eine Anspielung auf einen anderen Mordfall, begangen ebenfalls von einem Asylbewerber, dessen Antrag abgelehnt worden ist. Und ein Hinweis darauf, dass es diesen Demonstranten nicht um Susanna F. geht, nicht einmal wirklich um ihren Mörder. Der Fall ist politisch.
Später wird Dietmar Muscheid, Chef des rheinland-pfälzischen DGB und Mitorganisator der Trauerfeier deshalb im Regen neben dem roten Pavillon stehen und sagen: „Trauern und Aufklären ist das Eine. Wir wollen nicht, dass diese schreckliche Tat instrumentalisiert wird.“
Der mutmaßliche Täter: Ali B. Ein Iraker, eingereist in Deutschland im Oktober 2015, im Erstaufnahmelager Gießen wird er registriert. Er gibt dort nicht seinen wahren Namen an. Ein knappes Jahr später, Ende September 2016, nachdem er von Polizisten kontrolliert worden war und keinen Aufenthaltstitel vorweisen konnte, beantragt er Asyl. Der Antrag wird zwei Monate später abgelehnt, B. klagt dagegen, das zuständige Wiesbadener Landgericht hat den Fall bis heute nicht entschieden.
In der Zwischenzeit wurde B. wegen Gewaltstraftaten angezeigt, nach dem Mord reisten er und sieben weitere Mitglieder seiner Familie quasi umgehend aus Deutschland aus, in den Irak.
Ein Muster scheint auf, das Fragen aufwirft
Viel der deutschen Öffentlichkeit mittlerweile Vertrautes scheint auf in dem bald drei Jahre dauernden Aufenthalt B.s in Deutschland. Ein Asylbewerber, der die Behörden von der ersten Begegnung mit diesen an zu täuschen versucht. Die Wirren der Jahre 2015 und 2016, in denen niemandem aufzufallen schien, einem illegal – ohne Asylantrag – in Deutschland lebenden Einwanderer erst im Gießener Erstaufnahmelager und später in einem Asylbewerberheim in Wiesbaden Obdach zu geben. Die langen, auch durch polizeiliche Ermittlungsverfahren nicht zu beschleunigenden Asylverfahren. Am Ende hat ein Mann, der ein knappes Jahr in Deutschland lebte, obwohl Recht und Gesetz dies nicht vorsehen, und eineinhalb weitere Jahre, weil Recht und Gesetz langsam sind, ein Mädchen getötet.
Ein Muster scheint auf, die Vorgeschichte der verurteilten und mutmaßlichen Mörder von Mädchen und Frauen in Freiburg, im rheinland-pfälzischen Kandel, in Flensburg ist eine ähnliche. Im Berliner Tiergarten wurde im Spätsommer des vergangenen Jahres eine Frau von einem Tschetschenen getötet, der nicht hätte im Land sein sollen. Im Dezember 2016 stahl ein berufskrimineller Tunesier einen Lastwagen und verübte einen Terroranschlag auf den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz.
Gefasst wurde B. dann umgehend, nachdem das Polizeipräsidium Westhessen von seiner Täterschaft – nach dem Finden der Leiche des Mädchens am vergangenen Mittwoch, der Hinweis kam von einem 13 Jahre alten Flüchtlingsjungen – überzeugt gewesen zu sein schien. Im Irak. Spezialeinheiten der autonomen Region Kurdistan im Nordirak fassten in der Nacht zum Freitag einen mutmaßlichen Mörder, der eine Woche zuvor unter den Augen des deutschen Staates unbehelligt ausreisen konnte.
Jener deutsche Staat, dessen Bundespolizeichef Dieter Romann wiederum beste Kontakte zur kurdischen Autonomieregierung im Irak zu haben scheint – und der den mutmaßlichen Täter vor seiner Überstellung nach Deutschland persönlich im Irak in Empfang nahm.
Das Muster und der zu vermutende Aufruhr, den seine wiederholte Bestätigung hervorbringen würde, mögen auch der Anlass dafür gewesen sein, dass sich die Bundeskanzlerin zu Wort meldete. Am Rande des G-7-Gipfels im fernen Kanada sprach sie von einem „abscheulichen Mord“, „das unfassbare Leid, das der Familie und dem Opfer widerfahren ist, bewegt jeden und erfasst auch mich.“
Es erfasst auch Ramin Mohabat, einen Afghanen – Tage bevor Mainz am Montag über die Rechtspopulisten zu triumphieren scheint.
"Geht nach Hause, ihr habt hier nichts zu suchen!"
Es ist Freitagabend, der Tag nach der Nacht in der Ali B. in der nordirakischen Großstadt Zokha festgenommen wurde. Da begann Ramin Mohabat zu ahnen, dass die Vorwürfe gegen diesen Mann auch für sein Leben nicht folgenlos bleiben würden. Ramin Mohabat und seine Freunde wollten, 4000 Kilometer von Zokha entfernt, ein Volksfest im hessischen Hofheim besuchen.
Kaum hatten sie das Festgelände betreten, sei eine Gruppe junger Männer auf sie zugekommen, sagt er. Was macht ihr hier?, hätten sie gerufen, und: Geht nach Hause. Kurze Zeit später kamen die nächsten. Riefen, so sagt es Mohabat, ihr habt hier nichts zu suchen.
„Ich war erschrocken“, sagt er, „weil in der zweiten Gruppe auch Türken waren.“ Er klingt genervt, er sei in den vergangenen Tagen mehrfach in der S-Bahn auf ähnliche Art und Weise angesprochen worden, er hat jetzt keine Lust mehr, rauszugehen. Er sagt: „Ich muss damit leben. Ich habe hier bei Null angefangen, das kann ich nicht noch einmal.“
Ramin Mohabat ist 29 Jahre alt, vor drei Jahren ist er aus Afghanistan nach Deutschland gekommen, hat hier begonnen, Deutsch zu lernen. Er muss noch zwei Semester Sprachkurse absolvieren, dann will er vielleicht studieren. In Afghanistan hat er als Journalist gearbeitet.
„Ein Idiot macht irgendwas und wir alle sind schuld“, sagt er. „Ich glaube, dass es immer schlimmer wird.“
Schlimm ist es vor allen anderen für Susanna F. geworden. Und für ihre Mutter. Sie schrieb am 1. Juni bei Facebook: „Sehr geehrte Frau Merkel, dieser Brief ist ein Hilferuf!!! Ich wende mich mit diesem Hilferuf an Sie, weil ich mich vom deutschen Staat sowie von unserem Freund und Helfer ( Polizei) im Stich gelassen fühle!!! Meine 14-jährige Tochter Susanna wird seit dem 22.05.2018 vermisst. Seit diesem Tag fehlt von ihr jede Spur …“
Auf der Facebook-Seite der Mutter des Mädchens sind in den Kommentaren Debatten über die deutsche Asylpolitik entbrannt. Im Netz sind die Rechten laut. „Merkel ist schuld“. „Wer nicht AfD wählt, ist Mittäter“.
Vor dem Haus der Familie in Mainz-Lerchenberg legen Nachbarn Blumen und Kerzen hin. Susanna galt seit dem 22. Mai als vermisst. Immer wieder hatte die Mutter in den sozialen Netzwerken um Hilfe gebeten. Die Polizei war zurückhaltend mit ihrer Suche. Susanna hatte seit Anfang des Jahres immer wieder die Schule geschwänzt, war immer mal wieder verschwunden. Nun sammelt der ganze Ort Geld für die Beerdigung.
Bis einschließlich gestrigen Montag werden sieben Demonstrationen und Kundgebungen hier stattgefunden haben, ruhige und krakeelende, eine auf der gegenüberliegenden Rheinseite, in Wiesbaden. Mainz war die Heimatstadt von Susanna F., Wiesbaden ist der Ort, an dem sie ermordet wurde.
Am Samstag schon zum Beispiel sind einige AfD-Anhänger aus dem Umland angereist: „Es reicht! Endlich Konsequenzen!“, steht auf den bestimmt 50 Schildern, die Teilnehmer halten. Der rheinland-pfälzische AfD-Fraktionsvorsitzende Uwe Junge kommt im dunklen Anzug mit Deutschlandflagge am Revers. In seiner Rede spricht er vom gutgläubigen Mainstream, dem auch Susanna angehört haben müsse und Vertrauen schenkte und mit ihrem Leben bezahlte. Es reicht, ruft er. Applaus. Politischer will er nicht werden, weil der Anlass ein trauriger ist, so schließt er. Warum Susannas Mord dann doch politisch ist, erklärt er im Interview. Denn das Verbrechen stelle das Asylrecht in Frage. Der Asylantrag des Verdächtigen war Ende 2016 abgelehnt worden, er hatte Rechtsmittel eingelegt. Eine Abschiebung war damit gestoppt. Eine Woche nach der Tat brach die Familie überstürzt auf, zurück in den Irak.
Der Täter ist Iraker? Mehr müssen manche gar nicht wissen
Am Petersplatz läuten die Glocken. In kleinen Gruppen diskutieren die Teilnehmer. „Ich bin auch Mutter“, betont eine Frau im Gespräch mit zwei Männern. Es klingt wie eine Rechtfertigung, hier zu sein. Ihr Gegenüber erzählt von den Enkelkindern mit „gemischter Hautfarbe“. Die würden das genauso sehen wie er.
Ein paar Schritte weiter fallen deutlichere Worte. „Für mich sind die Asylanten ein Pack. Und auch die Gewerkschaftler, die gegen uns demonstriert haben“, sagt eine Frau im schwarzen Kleid und schwarzen Hut. Ministerpräsidentin Malu Dreyer? „Die arbeitet mit dem Pack zusammen.“ Sie klingt wütend, von Worten der Anteilnahme mit der Familie ist nichts zu hören.
Auf der anderen Rheinseite, in Wiesbaden-Erbenheim, ist von all dem Hass nichts zu spüren. Nur ein Polizeiwagen parkt noch vor der Unterkunft, in der Ali B. mit seiner Familie gelebt hat. Im nahegelegenen Hotel brechen Wochenendgäste zu einem Ausflug in die Stadt auf. Eine junge Familie verlässt das Flüchtlingsheim. Sie kannten Ali B. nicht, erzählt der Vater. Und doch wird er sich nun immer wieder rechtfertigen müssen.
Für stille Trauer war selten Zeit in Mainz seit dem vergangenen Donnerstag. Der Täter ist Iraker? Mehr müssen manche gar nicht wissen.
Die Mainzer haben dagegen gehalten, so gut es ging. Bei einer Demo einer linken Gruppe am Samstagmittag spricht eine Rednerin Susannas Mutter ihr Beleid aus. Ihre Stimme ist brüchig, als sie erzählt, dass die selbst Mutter ist. Die Vorstellung sein Kind so zu verlieren, sei die schlimmste, die es gebe, sagt sie. „Umso ekelhafter finde ich es, dass die Rechten wie Aasgeier darauf warten, dass so etwas passiert.“