Brexit und Nordirland: "Wenn die sich in London blöd anstellen, knallt’s wieder"
Der Brexit könnte zwei Jahrzehnte nach dem Ende des nordirischen Bürgerkrieg alte Kämpfe wieder neu entfachen. Im November 2018 besuchte unser Autor Belfast.
Chris Wilson steht auf der Northumberland Street in Belfast. Vor ihm eine Mauer aus Stahl, Stein und Stacheldraht. In diese Mauer ist ein Tor eingelassen, an diesem Nachmittag ist es offen. Ein Lieferwagen fährt durch, eine Frau mit Hund spaziert an Wilson vorbei. Er bleibt stehen. „Seit 20 Jahren war ich nicht drüben“, sagt er. „Und damals nur mit Waffen.“ Für Chris Wilson beginnt nach dem Tor: exterritoriales Gebiet.
Dort wohnen die anderen, diejenigen, die Wilson wahlweise als Katholiken, Iren, Kommunisten bezeichnet. Die Northumberland Street verläuft mitten durch Belfast, Hauptstadt Nordirlands, einer anerkannten Provinz im Vereinigten Königreich. Doch Nordirland selbst ist überhaupt nicht vereint.
In strikt voneinander getrennten Vierteln wohnen Familien, die sich entweder als katholische Iren oder als protestantische Briten verstehen. Schulen, Pubs, Kirchen – alles getrennt. Oft betreten die einen die Viertel der anderen nie.
Drohen doch noch Kontrollposten - und irische Massenproteste?
Nun könnte der jahrhundertealte Konflikt neu entfacht werden. Kaum irgendwo dürften die Folgen eines Brexits dramatischer sein als hier. In den nächsten Tagen und Wochen entscheidet sich, ob er den vagen Frieden zu zerstören, Nordirland erneut zu zerreißen droht. „Wenn die sich in London blöd anstellen, knallt’s wieder“, sagt Chris Wilson. „Einige hier warten darauf.“
Die Regierung in London will die EU kommenden März verlassen. Weil Nordirland zum Vereinigten Königreich gehört, muss die Provinz dann mit austreten. Nordirland aber liegt mit der Republik Irland auf derselben Insel. Nach einem Austritt könnte zwischen beiden eine EU-Außengrenze errichtet werden – mit Kontrollposten, Zollbeamten, Warteschlangen.
Das lehnen die meisten der 800.000 irischen Katholiken in Nordirland ab. Sie haben überwiegend gegen den Brexit gestimmt und wollen weiter ungestört über die Grenze reisen: Verwandte besuchen, Handel betreiben oder zum Studium nach Dublin. Zieht die britische Premierministerin Theresa May eine harte Grenze zwischen Irland und Nordirland, riskiert sie also Massenproteste.
May und die EU-Spitze einigten sich vor dem Brexit-Sondergipfel deshalb darauf, dass das Königreich vorerst in der EU-Zollunion und die Grenze nach Irland offen bleibt. Die diesen Deal ergänzende Erklärung – EU-Ratspräsident Donald Tusk verkündete am Donnerstag die Einigung darauf –, legt sich auf das „Sicherstellen der Abwesenheit einer harten Grenze auf der irischen Insel“ fest.
Wilson schlug zu, schoss, bombte. In Nordirland hat das Tradition
Wie die Briten insgesamt votierten auch die meisten der 800.000 Protestanten in Nordirland für den Brexit. Die mächtigste Protestantenpartei, die DUP, auf die May im Unterhaus angewiesen ist, hat gedroht, gegen den Austrittsvertrag zu stimmen. Auch viele von Mays Parteifreunden drohen, die Regierungschefin zu stürzen. Die Brexit-Hardliner zürnen: Verzichte man auf einen echten, harten EU-Austritt, weil man Rücksicht auf Nordirlands Katholiken nehmen möchte, haben die es leichter, gleich eine Vereinigung mit Irland zu fordern.
Auch Chris Wilson stimmte 2016 für den Brexit. Heute sagt er mit Blick auf die Mauer über der Northumberland Street, dass das vielleicht doch keine gute Idee gewesen ist. „Wenn die Grenze zu ist, was sollen die Taigs dann machen?“, fragt Wilson. „Klar, dass die ausrasten.“ Taigs? Eines der vielen Schimpfworte, die es für Iren in Nordirland gibt. Eines, das ihm seit Jahrzehnten geläufig ist. Chris Wilson ist Rentner, Protestant und Ex-Terrorist. Einer, der zuschlug, schoss, bombte. Auf der Insel hat das Tradition.
In Belfast hält der Frieden nur dank 100 Mauern
Einst hatten die Truppen Londons ganz Irland besetzt. Die Iren erhoben sich im Osteraufstand 1916, die Besatzer zogen ab. Doch den Norden – Ulster genannt – behielten sie. Und der kam seitdem kaum zur Ruhe. Den Weg, den Wilson bis zum Tor geht, rannte im August 1969 auch ein protestantischer Mob, stürmte das irisch-katholische Viertel an der Falls Road und brannte dort Häuser nieder. Die „Troubles“, wie der Bürgerkrieg von 1969 bis 1998 üblicherweise genannt wird, begannen. Die Guerilla-Kämpfer der Irisch-Republikanischen Armee, der IRA, bewaffneten sich. Sie wollten die Briten vertreiben, um Nordirland mit Irland zu vereinen. Den britischen Truppen halfen protestantische Milizen: die Ulster Defence Association, UDA, und die Ulster Volunteer Force, UVF.
Durch Nordirlands Städte wurden Mauern gezogen – Friedensmauern genannt. In Belfast gibt es heute 100 Grenzwälle, um britisch-protestantische von irisch-katholischen Viertel zu trennen.
Wilson, Sohn einer königstreuen Arbeiterfamilie, schloss sich der UVF an. Männer wie er nennen sich Loyalisten: loyal zum britischen Königshaus. Militante Iren dagegen bezeichnen sich als Republikaner. Wilson erzählt, dass sie früher mit dem Auto auf die andere Seite des Tores gefahren sind, vor einen Pub, einen Kiosk oder ein Wohnhaus, das Magazin leer schossen und zurückrasten. Einmal habe jemand aus einem Fenster zurückgefeuert, beinah hätte es ihn erwischt. Fast 3600 Männer, Frauen, Kinder wurden während der Troubles getötet, bis Republikaner und Loyalisten am Karfreitag 1998 ein Friedensabkommen unterzeichneten, Waffen abgaben, Militante aus der Haft entließen.
Er hustet. Im Gefängnis wird man nicht gesünder
Auch Wilson kam frei. Wenn er hustet, er tut das oft, bebt sein ausgezehrter Körper. Die Haut wie Pergamentpapier, in einem Beutel trägt er eine Wasserflasche, sein Arzt sage, dass Wilson mehr trinken soll. „Insgesamt 18 Jahre Haft“, sagt Wilson. „Man wird drinnen nicht gesünder.“ Wofür er einsaß, sagt Wilson nicht. Nur: Es reiche, damit man ihn im Viertel bis heute respektiere.
Wilson wohnt in einem schmalen Reihenhaus mit Frau und Terrier nahe der Shankill Road – der Name ist wie der der Falls Road auf der anderen Seite längst zur Chiffre für die blutigen Auseinandersetzungen geworden. Der Union Jack flattert vor allen Türen. Hier lesen sie britische Zeitungen, bemalen ihre Wände mit Bildern vermummter Loyalisten, haben protestantische Schulen, nennen ihre Jungs oft Sam oder William und wählen überwiegend die DUP. In ihren Kirchen beten sie für ein starkes Königreich.
Auf der anderen Seite der Mauer an der Falls Road weht Irlands Trikolore, lesen sie irische Zeitungen, bemalen ihre Wände mit Bildern im Hungerstreik gestorbener IRA-Terroristen, haben katholische Schulen, nennen ihre Jungs oft Kevin oder Patrick, wählen die irische Linkspartei Sinn Fein und beten für ein geeintes Irland. Nur in ihren Vierteln sind Regenbogenfahnen zu sehen.
"Du gibst das Geld bei deinen Leuten aus"
Im vergangenen Jahr vertrieben UVF- Männer vier irisch-katholische Familien aus einer Straße in Süd-Belfast, die neben einer Loyalistenhochburg liegt. Und Chris Wilson trifft Iren nur dann, wenn er im Zentrum mal Klamotten kaufen geht. Die Innenstadt gilt als neutral, dort greift man sich nicht an, dort gibt es indische Restaurants, syrische Friseure. Getränke, Tabak, Zeitungen, sagt Wilson, besorgt man im eigenen Viertel: „Du gibst das Geld bei deinen Leuten aus.“
Durch ihre Viertel laufen die loyalistischen Militanten öfter Streife. Gesucht werden: Diebe, Junkies, unerwünschte Besucher. Polizeiarbeit nennen Anwohner das. Die Milizen helfen bei Nachbarschaftstreits und mit Gelegenheitsjobs. Sie fungieren auch als Kriegsgerichte. Zuletzt nahmen Schüsse und Schläge innerhalb der Gemeinschaften wieder zu: 2013 zählte Nordirlands Polizei 64 solcher Bestrafungsaktionen, 2017 dann 101 Fälle. In Belfast erschossen Männer, die sich Neue IRA nennen, im Februar einen Katholiken, der mit Drogen gehandelt haben soll.
Die Spaltung im Vereinigten Königreich geht in Nordirland so weit, dass Belfasts Protestanten sich zudem für eine der Loyalisten-Milizen entscheiden müssen. Das bedeutet: UVF-Flaggen an Laternen, UVF-Wandbilder an Häusern, UVF-Logos in Pubs. Oder das Gleiche mit den Symbolen der UDA. Die Shankill Road ist aufgeteilt. So wie das Viertel an der Sandy Row sich zur UDA bekennt und der ein paar hundert Meter entfernte Donegall Pass zur UVF. Es geht, sagen Polizisten, dabei auch um Kontrolle über Drogenhandel, Hehlerei, Schutzgelderpressung.
Einschüchterungen, Machtposen, Aufmärsche sind in Nordirland üblich. Jedes Jahr in der Nacht zum 12. Juli, bevor sich der Sieg der Truppen des englischen Königs Wilhelm III. über die Katholiken im Jahr 1690 jährt, entzünden Protestanten aus Holzpaletten errichtete Türme. Bevor sie die oft 15 Meter hohen Stapel niederbrennen, stecken sie Irlands Fahne drauf. Tausende schreien, während Rockmusik aus Boxen schallt: „Fuck the Pope and the IRA!“ Die Menschen auf der anderen Seite der Mauer haben ihre Fenster verrammelt, in der Nacht fliegen Flaschen nach drüben. Noch größer als die Freude, es den Iren zu zeigen, scheint bei der Loyalistenjugend nur der Durst auf Wodka-Redbull. Betrunkene Mädchen stolpern in Union-Jack-Flaggen gehüllt durch die Menge. Am nächsten Morgen marschieren Loyalisten in Trachten und mit Trommeln durch Belfast. In der Luft ein Polizeihubschrauber, auf den Straßen vergitterte Einsatzwagen.
Kürzlich zerrten Loyalisten an einer Ampel einen Fahrer aus dem Auto und verletzten ihn schwer – der Mann trug das Trikot von Irlands Rugby-Mannschaft. Auf das Haus von Gerry Adams, dem bekanntesten Politiker der irischen Sinn-Fein-Partei, wurde im Juli ein Sprengsatz geworfen. Und radikale Iren griffen in Londonderry Polizisten mit Molotowcocktails an.
Loyalisten und IRA-Anhänger haben Waffen versteckt
Die Lage ist seit der Brexit-Abstimmung fragiler geworden. Es gibt seit 2017 keine Regionalregierung – weil die Wahlsieger, DUP und Sinn Fein, nicht mehr miteinander koalieren wollen. Das Karfreitagsabkommen aber schreibt vor, dass eine protestantische und eine katholische Partei gemeinsam regieren sollen. Drohen gar neue Troubles?
„Beide Seiten haben Waffen versteckt“, sagt Peter Neumann, der über den Konflikt promovierte und am King’s College in London lehrt. „Einige Republikaner vermutlich auch südlich der Grenze.“ Die Militanten hätten aber viel weniger Anhänger als früher. Die Spannungen seien gefährlich, einen Bürgerkrieg aber hält er für unwahrscheinlich.#
Chris Wilson mag die Queen, die Presbyterianische Kirche, den Union Jack. Und doch versteht er seine Leute oft nicht mehr: Die UVF-Männer aus Ost-Belfast nicht, die im Sommer einen Linienbus gekapert und in Brand gesetzt haben. Das UVF-Großmaul, dass in Süd-Belfast an einer Überdosis starb. Die UVF-Männer, die in West-Belfast in den Pubs erwarten, kostenlos bedient zu werden. Auch die Loyalistenpartei DUP wählt Wilson nicht mehr. Das hat, so sagt er, auch damit zu tun, dass deren Chefin 20 Millionen Euro EU-Fördergeld für Nordirland veruntreut haben soll.
Nebeneinander leben - aber nicht miteinander
Und bedroht der Brexit nicht auch protestantische Bauern in Ulster? Sie exportieren Schafe und Milch nach Irland. In Nordirland stimmten 56 Prozent 2016 gegen den Brexit, schon damals waren also nicht nur Iren dagegen. Im Mai 2018 waren 69 Prozent der Befragten für einen Verbleib in der EU. Auch Wilson.
In den Straßen sind nun weniger Autos unterwegs. Vielleicht liegt das daran, dass die Tore nach drüben um 18.30 Uhr geschlossen wurden. „Wir können nebeneinander leben“, sagt Wilson. „Aber noch nicht miteinander.“ Dabei könne er sich inzwischen sogar eine lose Union aus Großbritannien und Irland vorstellen. Eine Zwei-Inseln-EU, eine neue Allianz im Atlantik.
Wilson weiß nicht, wer Schuld an der verfahrenen Lage trägt. Die DUP, die es vielleicht übertreibt, die EU, Theresa May? Die Taigs sind es diesmal nicht.