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80 Prozent aller privat Pflegenden fühlen sich überfordert.
© REUTERS

Häusliche Pflege: Wenn das Leben auf den Kopf gestellt wird

„Warum stirbt der nicht einfach ...“ Darf man das denken? Man muss sogar, sagt Gabriele Tammen-Parr. Sie hilft Menschen, die Angehörige zu Hause pflegen. Jeder Zweite erlebt im Alter Gewalt in der Familie. Ein Drama hinter verschlossenen Türen.

Sie hatte lange auf diesen Tag gewartet: endlich ein Arzttermin für die demenzkranke Mutter. Aber jetzt saß die Mutter in ihrem Nachthemd auf dem Stuhl und weigerte sich. Wollte sich nicht anziehen lassen. Die Tochter versuchte sich in Überredungskünsten, Engelszungen. Die Mutter weigerte sich weiter. Die Tochter wurde energisch, probierte es mit Drohungen. Es half nichts. Dann wurde es laut in der Wohnung. Die Mutter klammerte sich mit aller Kraft, die sie noch hatte, an die Stuhllehnen. „Lass los“, schrie die Tochter und schlug ihr auf die Hände. Zweimal, dreimal. Dann weinte die Tochter. Und schämte sich.

Keine dramatische Szene, es gibt schlimmere, viel schlimmere. Und sie kommen jeden Tag vor, tausendfach. Gabriele Tammen-Parr kann unzählige solcher Geschichten erzählen. Sie hört sie immer wieder am Telefon, oder wenn verzweifelte Angehörige zu ihr ins Büro kommen. „Pflege in Not“ heißt die Beratungsstelle in Berlin-Kreuzberg, die die Sozialpädagogin und Mediatorin leitet. Zu fünft arbeiten sie hier im Team, auch Psychologen sind darunter, kümmern sich um Angehörige, wenn die nicht mehr weiter wissen, geben Hilfestellung und Trost. Ungefähr 2800 Anrufe sind es jedes Jahr.

Als sie die Organisation vor 16 Jahren unter dem Dach des Diakonischen Werks Berlin Stadtmitte gründete, galt ihr Hauptinteresse den Missständen in Heimen. Das hat sich geändert. Zwar gebe es bei der stationären Pflege noch immer viel zu tun, sehr viel, sagt Tammen-Parr, es sei dort oft schlimmer, als die Zeitungen berichteten, „obwohl sich in den letzten Jahren viel verbessert hat“. Gerade erst zum Beispiel hat das Kabinett beschlossen, die Ausbildung von Pflegekräften zu reformieren. Aber nach und nach ist ihr bei ihrer Arbeit immer deutlicher geworden, dass es da noch eine andere Baustelle gibt, eine wesentlich größere: „Die Familie ist unser größter nationaler Pflegedienst.“ In der Tat werden von den 2,8 Millionen Pflegefällen, die es derzeit in Deutschland gibt, fast drei Viertel zu Hause betreut. Eine ungeheure Einsatzbereitschaft findet Tammen-Parr, eine ungeheure Kraftanstrengung. Aber auch ein Feld der Ungeheuerlichkeiten ganz anderer Art. „Die wahren Dramen spielen sich zu Hause ab.“

Gewalt in der häuslichen Pflege ist ein Tabuthema

Denn fast nie dringt nach draußen, was sich in der häuslichen Pflege an kleinen und großen Katastrophen abspielt. Alltägliche Katastrophen, alltägliche Verzweiflungen. Und das alles hinter verschlossenen Türen. Keine Heimaufsicht kann hier kontrollieren, keine Zeitungen schreiben darüber. „Das Thema ist absolut tabuisiert“, sagt Gabriele Tammen-Parr, „es ist mir eine Herzensangelegenheit geworden.“

Ihre Herzensangelegenheit ist ein Millionenthema. Eine Infratest-Untersuchung ergab, dass sich 42 Prozent der privat Pflegenden von ihrer Situation „schwer belastet“ fühlen, 41 Prozent sogar „extrem belastet“. Mehr als 80 Prozent also leiden unter permanenter Überforderung. Und das über Jahre hinweg, die durchschnittliche Pflegezeit beträgt wegen der gewachsenen Lebenszeit der Menschen heute zehn Jahre. „Ich kenne Frauen, die ihre Ehemänner schon seit 17 Jahren pflegen“, sagt Tammen-Parr.

Häusliche Pflege, gerade wenn sie so lange währt, stellt das bisherige Leben vollkommen auf den Kopf. Man muss sich meist von allem verabschieden, was einem einst lieb und teuer war. Von Lebensentwürfen, von Träumen. Pflege verändert den Alltag, sie verändert Beziehungen, sie verändert alles. Auch die Wohnung. Das Wohnzimmer etwa, das vordem als die gute Stube in Ehren gehalten, mit Bedacht möbliert wurde, in dem einst am langen Tisch Freunde tafelten, muss auf einmal umfunktioniert werden. Weil die Eheleute es zum Beispiel nicht mehr ertragen, im gemeinsamen Schlafzimmer zu nächtigen, wird der Salon zur Pflegestation. Das Spezialbett im Zentrum, der Toilettenwagen daneben, in der Ecke stapeln sich Windelpakete. Es riecht, wie es vorher nie gerochen hat.

Überfordert. Die Familie, sagt Gabriele Tammen-Parr (Bild links), ist der größte Pflegedienstleister Deutschlands. Ihre Organisation „Pflege in Not“ berät Angehörige, die verzweifeln.
Überfordert. Die Familie, sagt Gabriele Tammen-Parr (Bild links), ist der größte Pflegedienstleister Deutschlands. Ihre Organisation „Pflege in Not“ berät Angehörige, die verzweifeln.
© Kitty Kleist-Heinrich

Pflege in Not. Vielleicht liegt das auch an jenem Versprechen, das sich viele Ehepaare gegenseitig gegeben haben, viele Kinder ihren Eltern: Du wirst nicht im Stich gelassen, du musst nicht ins Heim, du darfst zu Hause sterben. Es ist ein Versprechen, dessen Tragweite den Versprechenden oft nicht bewusst ist. Aber da es nun einmal gegeben ist, liegt es wie eine leise vor sich hin zählende Zeitbombe in den Wohnzimmern und über den Angehörigen. Es gilt, etwas zu erfüllen, was nicht erfüllbar ist. Aber es muss.

Genau da setzen Gabriele Tammen-Parr und ihre Mitarbeiter an. In Gesprächen mit verzweifelten Angehörigen versuchen sie, das Undenkbare zu denken: Darf ich über Tabus nachdenken? Zum Beispiel darüber, ob das Pflegeheim nicht die bessere Alternative sein könnte? Gibt es ein Leben neben der Pflege? Was erwarte ich mir noch? Und sie versucht, den Ratlosen, den Ohnmächtigen eine Botschaft zu vermitteln: Am Ende der Kräfte zu sein, das ist keine Bankrotterklärung.

Pflege ist immer Beziehung

Wieder ruft eine Frau an. Sie hält es nicht mehr aus, sie hat sich neulich selbst nicht wiedererkannt. Dabei wollte sie ihrer Mutter doch nur die Haare waschen. Weil die immer mehr verwahrloste, weil sie sie in diesem jämmerlichen Zustand nicht sehen wollte. Aber die Mutter wehrte sich, wollte nicht zulassen, was doch nur gut gemeint war. Und plötzlich hat sie, sie wusste nicht, wie ihr geschah, der Mutter mit der Haarbürste auf den Kopf geschlagen.

Aggressionen, sagt Gabriele Tammen-Parr, gehören zum Leben, also auch zur Pflege. Denn Pflege ist immer Beziehung. Und in diesen Beziehungen, insbesondere in den familiären, ist eine Geschichte von Jahrzehnten abgelagert. In dieser Geschichte gab es Kränkungen, Verletzungen, Verstörungen. Die kaum je angesprochen, geschweige denn bereinigt wurden. All das lauert im Stillen, schläft einen ungerechten Schlaf. Aber es ist und bleibt Teil der Beziehung, der Pflegebeziehung, zwischen Ehepartnern, zwischen Eltern und Kindern. Und dann schwappt es als Groll an die Oberfläche. Ein Zündstoff, der verheerend sein kann.

Eine Tochter sagt: Ich habe so wenig bekommen von meinen Eltern, nie gab es eine Umarmung in unserer Familie, nie eine Zärtlichkeit. Und nun muss ich geben, geben, geben.

Die unterdrückten Enttäuschungen, die Wut, die Verletzungen treiben Blüten. „Manchmal möchte ich wegrennen“, sagt eine. „Ich kann ihn nicht mehr sehen“, eine andere, „ich kann ihn nicht mehr riechen.“ Manchmal ist das im Wortsinn gemeint. Eine Dritte sagt: „Warum stirbt der einfach nicht?“

Darf man so etwas sagen? Darf man so etwas denken? „Natürlich“, antwortet Tammen-Parr, man müsse es sogar. „Aggression ist eine Chance, etwas zu verändern.“

Die Veränderung angestammter Rollenbilder ist schwierig

Gerade Veränderungen sind in der Pflege oft das Schwierigste. Obwohl sie das Selbstverständlichste sind. So verändern sich zum Beispiel die angestammten Rollen vollkommen. Die Kinder, die immer die geführten waren, müssen jetzt die Führung übernehmen. Ein Rollentausch, der – von beiden Seiten – oft nur widerwillig angenommen wird. Tammen-Parr erzählt von einem demenzkranken Mann, der nachts immer wieder kaum bekleidet aus dem Haus auf die Straßen lief. Die Kinder mussten es unterbinden. Aber kann eine Tochter, kann ein Sohn dem Vater etwas verbieten? Ihm, der doch über Jahrzehnte stets der Verbieter war?

Zwischen Ehepaaren ist es nicht selten ähnlich. Wer zuvor der Dominante war, oft sind es die Männer, muss sich als Pflegefall plötzlich fügen. Kann man einen solchen Rollenwechsel im Alter noch lernen, mit 70, mit 80, mit 90? Was immer so war, wird auf einmal völlig anders.

Auch bei Kindern, die die elterliche Pflege übernehmen, kommen uralte, nie bereinigte Konflikte an die Oberfläche. Alte Konkurrenzen werden zu neuen Konkurrenzen. Wer tut mehr für die Eltern? Wer ist schon immer mehr geliebt worden? Wer ist schon immer zu kurz gekommen – oder fühlt sich zumindest so? „Dir haben die Eltern vor 40 Jahren ein Auto geschenkt“, sagt eine Schwester zum Bruder. „Und ich habe nichts bekommen. Jetzt mache ich die ganze Arbeit.“ Und die gesellschaftliche Anerkennung für diesen Großeinsatz ist in der Regel minimal.

Weil es sich in geschlossenen Räumen abspielt, lässt sich das Drama der häuslichen Pflege schwer in Zahlen fassen. Angehörige sprechen aus Scham nur selten darüber. Wenn überhaupt, dann sind es Nachbarn, die etwas mitbekommen und die Polizei rufen. Aber das sind Ausnahmen. Deshalb gibt es keine verlässlichen Angaben über die Zahl von Gewaltakten in der privaten Pflege.

Eine schon etwas betagte Studie spricht von etwa 600 000 älteren Menschen, die jedes Jahr in Deutschland Gewalt in der Familie erleben. Gabriele Tammen-Parr weiß aus Erfahrung, dass über die Hälfte der Personen, mit denen sie spricht, von aggressiven Gedanken, Gefühlen und Handlungen berichtet.

Dabei ist Gewalt in der Pflege ein unscharfer Begriff. Körperliche Misshandlungen sind ja nur deren schlimmster Ausdruck. Viel häufiger ist psychische Gewalt: drohen, entwerten, einschüchtern, demütigen, Wünsche beschneiden. Dazu kommt immer wieder missbräuchlicher Einsatz von Medikamenten, um Pflegebedürftige ruhig zu stellen.

Das alles geschieht nur in seltenen Fällen aus Bosheit. Meist steckt Überforderung dahinter. Und nicht immer sind dabei die Pflegenden Täter, die Gepflegten sind es oft auch. Die Rollen verschwimmen. Gut und böse, schuldig und unschuldig – die einfachen, eindeutigen Muster werden in der Pflege immer wieder verwischt. „Auch in den Betten liegen manchmal ganz schöne Biester“, sagt Gabriele Tammen-Parr.

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