Verhinderungspflege: Angehörige rufen Geld nicht ab
Für Urlaub oder Ausfall von pflegenden Angehörigen zahlen die Pflegekassen bis zu 1612 Euro pro Jahr. Doch nur wenige nehmen das Hilfsangebot in Anspruch.
Pflegende Angehörige haben im vergangenen Jahr millionenfach Ansprüche aus der Pflegeversicherung verfallen lassen. Das ist einer Statistik des Gesundheitsministeriums zu entnehmen, die dem Tagesspiegel vorliegt. Demnach nutzten im Jahr 2014 von etwa 1,95 Millionen zu Hause versorgten Pflegebedürftigen lediglich 106 700 die sogenannte Verhinderungspflege zur Entlastung pflegender Angehöriger. Das sind gerade mal 5,4 Prozent. Hochgerechnet ließen sich pflegende Angehörige dadurch Hilfen im Wert von bis zu 2,86 Milliarden Euro entgehen.
Die Verhinderungspflege ist gewissermaßen das Angebot an pflegende Angehörige, auch mal Urlaub zu machen oder eine Krankheit auskurieren zu können. Und gerade erst ist dieser Anspruch nochmals erweitert worden. Seit diesem Jahr übernimmt die Pflegeversicherung bis zu sechs Wochen lang Ersatzpflegekosten von bis zu 1612 Euro pro Jahr. Vorher waren es vier Wochen, dafür gab es bis zu 1550 Euro.
In Anspruch nehmen können diese Leistung Versicherte sämtlicher Pflegestufen. Die einzige Bedingung: Die Pflegeperson muss den Pflegebedürftigen mindestens sechs Monate in seiner häuslichen Umgebung gepflegt haben.
Es reicht nicht, schöne Broschüren zu drucken
Die Zahlen belegten, dass „ein riesiges Hilfsangebot fast gar nicht abgerufen wird“, sagte der Vorsitzende der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch. Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) müsse dringend dafür sorgen, dass sich dies ändere. „Es reicht nicht, schöne Broschüren zu drucken.“ Die Hilfen müssten so gestaltet werden, dass sie auch angenommen werden. „Man darf den Korb nicht so hoch hängen, dass keiner mehr drankommt.“
Zudem forderte der Patientenschützer Nachweise über die Tätigkeit der Pflegeberater. „Den Menschen bloß Formulare in die Hand zu drücken, kann es ja wohl nicht sein.“ Sinnvoll wäre es aus seiner Sicht etwa, den Ratsuchenden auch beim Ausfüllen von Anträgen zu helfen.
Neuerdings gibt es auch Geld für Haushaltshilfen
Wenn man keine Konsequenzen aus dem geringen Zuspruch ziehe, nützten auch die neuen Leistungsausweitungen wenig, sagte Brysch. So gibt es seit Januar auch Geld für Haushaltshilfen – und zwar pro Pflegefall bis zu 104 Euro im Monat. Bisher hatten nur Demenzkranke Anspruch darauf, sie erhalten nun bis zu 208 Euro.
Umgerechnet stehen damit jedem Pflegebedürftigen pro Monat bis zu 14 Stunden Hilfe beim Putzen, Einkaufen oder Wäschewaschen zu. Und wer möchte, kann auch noch bis zu 40 Prozent seiner Pflegesachleistungen gegen solche Alltagserleichterungen eintauschen.
Worauf das geringe Interesse an bezahlten Pflegeauszeiten zurückzuführen ist, wissen auch die Pflegekassen nicht. Ein Grund könne sein, dass dafür externe Pflegedienste ins Haus kämen, sagt Spitzenverbandssprecher Florian Lanz – und zwar „gerade dann, wenn die eigentlich pflegenden Personen nicht da sind“. Und ein zeitweiliger Wechsel aus dem häuslichen Umfeld in fremde Einrichtungen müsse ebenfalls gewünscht sein.
Immerhin sei die Zahl der Leistungsbezieher von 2012 auf 2013 um ein Viertel gestiegen. Hierfür sind die Gründe offensichtlicher. Zum einen wurde das Angebot auf Bedürftige der Pflegestufe 0, also vor allem Demenzkranke, ausgeweitet. Zum andern wird das Pflegegeld während solcher Phasen nicht mehr gestrichen, sondern zur Hälfte weiterbezahlt.
Pflegende Angehörige haben Hilfe nötig
Verhinderungspflege sei ein „ganz wichtiges Angebot“, sagt der Pflegebeauftragte der Regierung, Karl-Josef Laumann. „Die Bürgerinnen und Bürger können das Angebot in Anspruch nehmen, müssen es aber nicht.“ Alternativ könnten sie sich etwa auch für Kurzzeitpflege entscheiden, die – um individuellen Lebenslagen und Bedürfnissen Rechnung zu tragen – nun auch besser mit Verhinderungspflege kombinierbar sei.
Insofern sei die Nutzung wohl nicht so gering, wie die Zahlen vermuten ließen, heißt es in Laumanns Büro. Bei den 106 700 Fällen handle es sich schließlich nur um „fiktive Ganzjahresempfänger“. In Teilen werde das Angebot von einer weit größeren Personenzahl in Anspruch genommen.
Dass pflegende Angehörige solche Hilfen nötig haben, ist unter Forschern unstrittig. Vielfach wurde nachgewiesen, dass häusliche Pflege ein enormes Gesundheitsrisiko darstellt. Kein Wunder: In einer Studie der Berliner Charite berichteten mehr als die Hälfte dieser Angehörigen, eigenen Interessen nur noch selten oder gar nicht mehr ruhigen Gewissens nachgehen zu können. Jede zweite Pflegeperson muss den Nachtschlaf unterbrechen. Und bei gut einem Drittel hat sich die Lebenszufriedenheit verringert.
Lieber keine Fremden im Haus?
Allerdings fühlt sich auch knapp ein Viertel der Angehörigen unwohl, wenn plötzlich Fremde die Pflege übernehmen. „Viele scheuen sich davor, den Pflegebedürftigen abzugeben oder sich in die eigenen vier Wände schauen zu lassen“, sagt Brysch. Umso mehr müssten sich Politik und Pflegekassen aber darum bemühen, solche Hemmschwellen abzubauen und den Pflegenden die Notwendigkeit von Auszeiten nahezubringen.