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Personalmangel in Heimen ist oft ein Problem.
© Kitty Kleist-Heinrich

Pflegeheime in Deutschland: Die Eltern sollten es schön haben, es wurde schrecklich

Eine Hilfskraft, ganz allein auf der Station, holt in ihrer Not die Feuerwehr. Ein Berliner Pflegeheim ist in die Schlagzeilen geraten. Nun erheben Angehörige von Bewohnern schwere Vorwürfe. Das LKA ermittelt.

Es war eine der schwersten Entscheidungen ihres Lebens. Sie musste ein Versprechen brechen. Wir geben euch niemals in ein Heim, hatte dieses Versprechen geheißen. Aber dann wurde es immer schlimmer mit den Eltern. Der Vater dement, herzkrank, Arthrose, die Mutter ebenfalls dement. Ina K. (voller Name der Redaktion bekannt) hat sie mit ihren beiden Schwestern zu Hause gepflegt. Irgendwann ging es nicht mehr, „wir haben es nicht geschafft“.

Also doch das Heim. Es sah ja auch hübsch aus, Casa Reha in Berlin-Rudow. Jedenfalls von außen. Auf der Homepage steht: „Die Tür öffnet sich wie von Zauberhand. Dahinter empfängt einen der Springbrunnen mit seinem munteren Wasserspiel, und der Willkommens-Blumenstrauß grüßt mit seinen bunten Farben.“

Es war im Juni des vergangenen Jahres, als Ina K. ihre Eltern, beide über 80, dahin brachte. Sie sollten es schön haben dort. Es wurde schrecklich.

Die Casa Reha ist eine große Kette von Pflegeeinrichtungen, die 69 Häuser in Deutschland betreibt, seit 2007 einem britischen Investor gehörte und vor wenigen Tagen an ein französisches Unternehmen verkauft wurde. Das Heim von Rudow geriet kürzlich in die Schlagzeilen: Eine Hilfskraft war an einem Sonntagvormittag ganz allein mit 21 Patienten auf der Station. Darunter Diabeteskranke, denen Insulin gespritzt werden musste, andere alte Menschen, die dringend auf Tablettengaben angewiesen waren.

Hilfskräften ist es verboten, medizinische Dienste vorzunehmen, das dürfen nur Fachkräfte. Aber niemand aus den anderen Stationen des Hauses sah sich in der Lage auszuhelfen. Darum rief die Frau in ihrer Verzweiflung die Feuerwehr, die dann mit einem Notarzt anrückte und eine Katastrophe verhinderte.

Bewohner lagen oft stundenlang in ihren nassen Windeln

Es sei doch gar nichts passiert, hieß es anschließend in einer Stellungnahme des Unternehmens. Wegen „kurzfristiger Erkrankung einer Pflegekraft“ sei es zu einem „personellen Engpass“ gekommen. „Zu keinem Zeitpunkt gab es eine Gefahr für unsere Bewohner“, sagte der Leiter der Einrichtung, ein bedauerlicher Einzelfall.

Ina K. lacht da nur bitter. Und zornig. Es sei nicht das erste und einzige Mal gewesen, dass in der Casa Reha die Feuerwehr anrücken musste. Und personelle Engpässe seien keineswegs Einzelfälle gewesen, sondern an der Tagesordnung. Meist war auf der Station höchstens eine Fachkraft anwesend, sagt sie, oft sogar nur eine Hilfskraft. Sie hat ihre Beobachtungen dokumentiert, hat immer wieder die aushängenden Dienstpläne fotografiert.

Der Personalmangel hatte Folgen. Ina K., 55 Jahre, Verkäuferin in einem Drogeriemarkt, sitzt zu Hause in Tiergarten an ihrem Esstisch, erzählt, zeigt Dokumente und kann es immer noch nicht fassen. Wie es nach Urin gerochen hat vor manchen Zimmern, weil Bewohner oft stundenlang in ihren nassen Windeln lagen. Wie ihre Mutter ein Dekubitusgeschwür bekam, weil sie viel zu selten umgebettet wurde. Und wie dieses schmerzhafte Geschwür zu allem Überfluss auch noch falsch behandelt wurde. Wie sie Kot in der Wunde und in der Wäschebox fand, nicht nur einmal. Und Spinnen auf dem Fußboden. Von all dem besitzt sie Fotografien.

Besonders gravierend ist die Personalknappheit in den Nachtschichten. Vor Kurzem hat die Universität Witten-Herdecke eine Studie veröffentlicht, nach der in deutschen Heimen im Durchschnitt eine einzige Pflegekraft für 52 Personen zuständig ist. Der Kollaps des Systems ist damit programmiert.

Ina K. ist mit ihren Erzählungen noch lange nicht zu Ende. Sie weiß von einem Patienten in der Casa Reha, der mittags um zwölf Uhr sein Essen bekam, aber niemanden hatte, der es ihm verabreichte. Weshalb er beim Versuch, selbst an den Teller heranzukommen, aus dem Bett gestürzt sei und drei Stunden zwischen den Porzellantrümmern auf dem Boden gelegen habe, bis ihn jemand fand. Sie erzählt, wie ihr Vater am Lebensende ins Krankenhaus überwiesen wurde, wo die Ärzte einen unterernährten und schwer dehydrierten Mann vorfanden; in der Pflegedokumentation, sagt sie, habe jedoch gestanden, ihr Vater habe täglich 500 bis 800 Milliliter getrunken.

Die Kinder versuchen die Defizite des Heims wett zu machen

Personalmangel in Heimen ist oft ein Problem.
Personalmangel in Heimen ist oft ein Problem.
© Kitty Kleist-Heinrich

Als Ina K. und ihre Schwestern die Mängel im Heim erkannt hatten, versuchten sie, die Defizite durch eigenen Einsatz auszugleichen. „Jeden Tag nach der Arbeit waren wir im Wechsel vier Stunden im Heim“, sagt sie, „und an freien Tagen bis zu acht Stunden. Wir Geschwister haben die Eltern gefüttert, gebadet und die Tablettengaben so gut wie möglich überprüft, weil häufig nur Leasing-Kräfte ins Haus kamen, die nicht Bescheid wussten und keine Zeit hatten, die Dokumentationen zu lesen. Als wir um einen Toilettenstuhl baten, bekamen wir einen, der schlimmer aussah als eine verkommene Bahnhofstoilette. Angeblich wurde er vorher gereinigt.“ Und das alles für den Preis von mehr als 3000 Euro pro Person und Monat, die von der Pflegeversicherung und vom Sozialamt bezahlt wurden.

Die Einrichtung bekam die Traumnote 1,1

Aber die Schwestern haben auch versucht, sich zu wehren. Seitenweise haben sie Beschwerden geschrieben, immer wieder. An die Heimleitung. Es werde bald besser, hieß es dann, man sei am Umstrukturieren. „Aber es änderte sich nichts, wir wurden nur vertröstet“, sagt Ina K. Sie hat weitere Briefe geschrieben. An die Pflegekasse. Nicht zuständig. Ans Gesundheitsministerium. Nicht zuständig. Dafür hat der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) der Casa Reha in seiner neuesten Bewertung die Traumnote 1,1 verliehen.

Auch das ist kein Einzelfall, sondern Folge einer politischen Fehlentscheidung. Um mehr Klarheit über die Qualität der verschiedenen Heime zu schaffen, wurde 2009 ein System von Benotungen eingeführt. Dummerweise wirken bei der Notenvergabe die Heime selber mit, außerdem können eventuelle Mängel durch mancherlei ausgeglichen werden, durch schöne Fassaden- oder Gartengestaltung zum Beispiel. Ergebnis: Es gibt kaum ein Heim, das sich nicht mit einer Eins vor dem Komma schmücken darf. Die Durchschnittsnote deutscher Pflegeheime liegt bei 1,2. Die einst gut gemeinte Bewertungsskala ist damit wertlos geworden. Pflegekritiker sprechen von einer Lachnummer.

Auch beim MDK selbst ist man über dieses System unglücklich. „Seit Jahren wünschen wir uns, dass da etwas passiert“, sagt der Berliner Pressesprecher Hendrik Haselmann. Aber es wird noch bis 2018 dauern, bis nach den Plänen von Gesundheitsminister Hermann Gröhe das absurde Bewertungssystem geändert wird. Zu den Zuständen in der Casa Reha übrigens dürfe er nichts sagen. Das habe der Gesetzgeber so geregelt.

Anzeige: Körperverletzung, Diebstahl, Betrug

Personalmangel in Heimen ist oft ein Problem.
Personalmangel in Heimen ist oft ein Problem.
© Kitty Kleist-Heinrich

Ina K. hat mittlerweile Anzeige erstattet. Wegen Körperverletzung, wegen Betrugs und auch wegen Diebstahls. Weil aus dem Nachttisch ihrer Mutter jetzt im Oktober, als sie gestorben war, Wertgegenstände verschwunden waren, sagt sie. Das Landeskriminalamt Berlin ermittelt gegen Casa Reha wegen des Verdachts auf Vernachlässigung von Schutzbefohlenen.

Gerne hätte man nun gehört, was der Heimleiter zu den Vorwürfen sagt. Aber alle Versuche, mit ihm zu sprechen, schlagen fehl. Er nimmt seit Tagen das Telefon nicht mehr ab. Ein Sprecher der Konzernzentrale im hessischen Oberursel hingegen ist zu einer Stellungnahme bereit. Natürlich, sagt er, komme es in den Heimen seiner Einrichtung immer wieder einmal zu Notarzteinsätzen, manchmal erfordere der Gesundheitszustand von Bewohnern eben schnelle Hilfe. So etwas sei aber nicht vergleichbar mit jenem Fall, als die Feuerwehr anrücken musste. Der sei eine absolute Ausnahme gewesen.

Auch von Personalknappheit will er nichts wissen. Nur in seltenen Fällen sei eine Hilfskraft allein zuständig gewesen und die Fachaufsicht durch andere Stationen des Hauses vorgenommen worden. Und die Geschichte von jenem Bewohner, der aus dem Bett gestürzt sei und stundenlang am Boden gelegen habe, ist ihm im fernen Oberursel nicht bekannt.

Es ist nicht das erste Mal, dass die Heime der Pflegekette Casa Reha in die Schlagzeilen gerieten. Immer wieder gab es Zeitungs- und Fernsehberichte, in denen heftige Vorwürfe erhoben wurden. Von Misshandlungen wurde berichtet, von unversorgten Operationswunden, von Patienten, die stundenlang in den eigenen Ausscheidungen liegen gelassen wurden und von zahlreichen anderen Missständen.

Das Berliner Heim in Rudow, sagt Michael Musall von der Gewerkschaft Verdi, sei bekannt für seine knappe Personaldecke: „Die vorgeschriebene Fachkraftquote wird teilweise nicht erreicht.“ Das habe die Gewerkschaft schon vor Längerem der Senatsverwaltung mitgeteilt. Die aber habe auf den neuesten Bericht der Berliner Heimaufsicht verwiesen, der keine Mängel festgestellt hatte. Dabei wisse man doch, wie solche Berichte zustande kämen. Es würden nur die Dienstpläne überprüft, nicht kontrolliert werde hingegen, ob in der Realität auch eingehalten werde, was auf dem Papier stehe.

Alte und Pfleger sind verzweifelt

Natürlich weist nicht jedes Pflegeheim solche Mängel auf. Dennoch sind auch die schwarzen Schafe keineswegs Einzelfälle. Mindestens ein Drittel aller rund 9000 Heime in Deutschland weist gravierende Mängel auf, schätzt der Berufsverband Altenpflege. Und die immer wieder veröffentlichten Berichte des MDK lesen sich wie Horrorgeschichten. Dafür gibt es Gründe. Die Heimbetreiber selbst nennen oft die Medien als Schuldige. Weil die so oft über Missstände berichteten, würden immer mehr junge Menschen davor abgeschreckt, den Beruf des Altenpflegers zu ergreifen. Und das in einer Situation, in der wegen der massiv ansteigenden Zahl von Pflegebedürftigen derzeit schon 380 000 Kräfte fehlten.

Viele Beobachter der Pflegeszene betrachten das Problem allerdings anders. Eine davon ist Brigitte Heinisch, eine Berliner Altenpflegerin, die sich empört hat, die das Diktat der Minutenpflege und die andauernde Personalknappheit nicht mehr ausgehalten hat und erkrankte. Vor Jahren schon ist sie an die Öffentlichkeit gegangen, hat Alarm geschlagen, was ihr eine fristlose Kündigung einbrachte, die später nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zurückgenommen werden musste. Ihre Erfahrungen hat sie in einem Buch („Satt und sauber?“) niedergeschrieben.

Eine Seltenheit. Denn normalerweise liegt eine große Stille über diesem Thema. Während andere gesellschaftliche Probleme öffentlich sichtbar werden – das Drama der Flüchtlinge etwa, Proteste von Kita-Angestellten, streikende Ärzte und Piloten –, bleibt die Pflege eine ganz eigene, abgeschiedene Welt, sie ist weitgehend von der Öffentlichkeit ausgeschlossen. Was sich hinter den Mauern der Heime tut, ist meist unsichtbar. Eine Welt, in der nicht selten Verzweiflung und Ohnmacht herrschen. Bei den Alten, aber auch bei den Pflegern, die am Anfang oft mit Idealismus und Empathie angetreten sind. Und dann einen Alltag erfuhren, der sie überforderte, in dem immer wieder höchste Alarmstufe herrschte.

Nein, sagt Brigitte Heinisch, das Problem sei nicht der Fachkräftemangel. Das Problem sei der Profit. In der Tat ist Pflege ein Milliardengeschäft, je weniger Personal, umso höher die Gewinne. Es sei ein großer Fehler gewesen, die Pflege in die Hände der Privatwirtschaft zu geben, sagt Heinisch. „Sie muss zurückgeführt werden in die öffentliche, die kommunale Hand. Sie darf nicht der Profitlogik unterliegen. Das Heim ist doch das letzte Zuhause für die alten Menschen.“ Aber wenn sie das sagt, und sie ist doch eine kämpferische Frau, die sich so leicht nichts gefallen lässt, liegt in ihrer Stimme eine große Resignation. Sie glaubt nicht mehr daran, dass sich an der Situation etwas ändern lässt.

Die Hilfskraft in der Casa Reha übrigens, die den Feuerwehreinsatz ausgelöst hatte, habe völlig richtig gehandelt, sagt sie. „Wenn Gefahr im Verzug ist, dann hat sie nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, Hilfe zu holen.“

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