Über Nähe in Zeiten von Corona: Was eine Hebamme mit einer Bestatterin verbindet
Hebamme Leonie Friedrich und Bestatterin Cassandra Yousef teilen sich eine WG in Berlin-Neukölln – und einen außergewöhnlichen Blick auf die aktuelle Krise.
Den Moment, in dem sich ihre Arbeit plötzlich überschnitt, den gab es. Ein Säugling war gestorben und musste aus dem Kreißsaal abgeholt werden. Da gingen sie natürlich gemeinsam, die Hebamme und die Bestatterin.
Anfang und Ende des Lebens seien weit voneinander entfernt, könnte man denken. Aber das ist nur theoretisch so.
Cassandra Yousef und Leonie Friedrich sind beste Freundinnen seit der Schulzeit. Die zwei, beide 31 Jahre alt, leben in einer Wohngemeinschaft in Berlin-Neukölln. Wenn Leonie Friedrich, die Hebamme, zu einer Geburt gerufen wird, schmiert Cassandra Yousef ihr schnell ein paar Stullen. Als Yousef, die Bestatterin, mal dringend wissen musste, wie man einen Katheter zieht, weil Krankenhäuser von den dort Verstorbenen nicht immer alle Kanülen entfernen, wusste Leonie Friedrich Rat.
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„Es gibt viele Gemeinsamkeiten bei unseren Berufen“, sagen sie beide und ergänzen einander im Gespräch immer wieder höflich: „Das ist ganz ähnlich wie bei dir ...“ Wenn Zuneigung sich daran messen lässt, wie gut man einander zuhören und ausreden lassen kann, dann ist sie zwischen diesen beiden groß. Und zwischendurch trinkt die eine wie selbstverständlich den Kaffee der anderen weiter.
Die Welt steht nur oberflächlich still
Nähe und Vertrauen sind die Essenz ihrer Freundschaft und ihrer Arbeit, beides gerade Mangelware in der Welt. Die gleichwohl steht derzeit nur oberflächlich still: Geboren und gestorben wird weiterhin. Fast tröstlich, dass sich zumindest das nicht anhalten lässt.
935.292 Menschen sind im Jahr 2019 in Deutschland gestorben, rund 2500 pro Tag. 778.100 wurden nach vorläufigen Ergebnissen im gleichen Jahr geboren, etwa 2130 täglich.
Es gibt Hebammen, die irgendwann die Seite wechseln und Bestatterinnen werden. Es gibt Menschen, die sind beides.
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Da muss also etwas sein, zwischen diesen scheinbar gegensätzlichen Berufen, das sie verbindet. „Die gemeinsamen Formeln unserer Arbeit sind: die Leute sein lassen und ihnen Zeit lassen“, sagen die beiden Freundinnen. „Wir kommen in einer einmaligen Zeit in die Familien“, sagt Cassandra Yousef. „Schwellenzeit“ nennen sie die und das Wort klingt schön, nach Absprung oder einem großen Schritt. Genau das ist es ja auch, einen neuen Menschen empfangen – oder einen für immer verabschieden.
Die Familien seien verletzlich, die Situation emotional, sagt Yousef. „Wir können den Leuten viel mitgeben, was weiterführt“, sagt Cassandra Yousef und meint: beste Voraussetzungen für eine selbstbestimmte Geburt schaffen zum Beispiel, oder aus der Trauer schöne Momente herausschälen und warmhalten.
Die Hebamme und die Bestatterin greifen beim Übertreten der Schwelle sanft unter die Arme. Derzeit allerdings? Schwierig.
Minimum an Nähe
An einem sonnigen Spätnachmittag Mitte April sitzen die zwei Frauen an einem hölzernen Tisch in den schönen Altbau-Räumen von memento Bestattungen in Friedenau. Sie haben sich ein persönliches Treffen gewünscht. Das klingt ganz außergewöhnlich, weil doch Video-Telefonie längst Gewohnheit ist. Doch für eine Hebamme und eine Bestatterin, für die Begreifen und Behandeln stets mit körperlichem Kontakt verbunden sind, ist es sozusagen das Minimum an Nähe.
Memento ist das alternative Kollektiv von Bestattern und Bestatterinnen, dem Cassandra Yousef sich 2017 angeschlossen hat. Sie hat Islamwissenschaften studiert und anschließend in allerlei Jobs gearbeitet, die mit toten Menschen rein gar nichts zu tun haben: im Haus der Berliner Festspiele, in einer Kita, in einem Comicverlag, als Festivalorganisatorin. Alles war schön, aber nichts war richtig. Als sie irgendwann entschied, Bestatterin zu werden, war ihre beste Freundin nicht überrascht: „Ich dachte, ach krass, voll gut.“
Yousef lernte als Angestellte bei einem Bestatter. Und als sich das Memento-Team vergrößerte, bewarb sie sich sofort. „Es ist so ein schöner Beruf“, sagt sie ganz schwärmerisch, mit einem Lächeln, das eine Umarmung durchaus ersetzen kann. Es sei spannend, so viele unterschiedliche Menschen und Lebensrealitäten kennenzulernen, zu versuchen, mit ihnen allen gemeinsam etwas Gutes zu schaffen.
Der emotionale Teil der Arbeit, die ersten Stunden mit den Familien, die Abschiednahmen, auf Friedhöfen und in Krematorien unterwegs zu sein, gebe ihr viel, sagt sie. Manchmal empfinde sie sich als eine Art Mittlerin zwischen Lebenden und Toten.
Dabei hatten sie beide Medizin studieren wollen, damals, nach dem Abi in Hamburg. So ist das mit Plänen: Es kommt anders. Das hinzunehmen ist keine schlechte Voraussetzung für Berufe, in denen zu jeder Tages- und Nachtzeit das Telefon klingeln kann.
„Familiengründung ist vielseitig“
Leonie Friedrich absolvierte nach der Schule ein Freiwilliges Soziales Jahr in Argentinien und arbeitete in Buenos Aires in einer Tagesstätte mit Kindern und Jugendlichen. Ein Medizinstudium erschien ihr anschließend irgendwie entrückt, viel lieber wollte sie praktisch arbeiten, und gern autonom. „So bin ich zufällig in den Beruf der Hebamme reingerutscht und glaube, dass ich das wirklich gut kann“, sagt sie, fester Blick. Sie wirkt besonnen. Es ist gut vorstellbar, wie sie mit aller Zurückhaltung das Gefühl vermitteln kann, da zu sein.
Ihre Ausbildung machte sie in Oldenburg. Nach ein paar Jahren im Geburtshaus Bonn kam sie schließlich nach Berlin. Sie arbeitete erst im Geburtshaus Kreuzberg und begann Anfang dieses Jahres, ein vierköpfiges queerfeministisches „Hebammen*Kollektiv“ mit aufzubauen. Die Bezeichnung soll darauf aufmerksam machen, „dass der Begriff Hebamme eben nicht nur für Frauen gilt, auch wenn er gesellschaftlich stark weiblich konnotiert ist“. Auch eine Familie besteht ja oft genug nicht aus Vater, Mutter, Kind.
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„Familiengründung ist vielseitig und deshalb hinterfragen wir heteronormative Strukturen, die oft gesellschaftlich vorgegeben werden, auch in unserem Arbeitsfeld“, erklärt Leonie Friedrich. „Wir möchten ein Angebot für alle Menschen geben, sie kompetent und würdevoll vom Kinderwunsch bis zum Elternsein zu begleiten, ohne dabei queere trans*Elternschaft zu exotisieren.“
Seit fast einem Jahr vertritt sie außerdem als Vorstandsmitglied des „Netzwerks der Geburtshäuser e.V.“ deren Interessen.
Die Hebamme ist eine zutiefst Vertraute
So oft es gehe mache sie auch im Moment persönliche Treffen möglich, sagt Leonie Friedrich. Arbeite sie nah an den Personen, trage sie einen Mund-Nasen-Schutz, halte sich an strenge Händehygiene. „Wenn wir die Familien gut kennen, können wir reine Beratungstermine aber auch über Video gut machen“, sagt sie. Doch einen Bauch abtasten, was sie in der Regel bei jedem Besuch macht, das geht so natürlich nicht.
Leonie Friedrich lernt Schwangere und Familien früh kennen, über Wochen und Monate ist sie mit ihnen in Kontakt, bis sie zum Zeitpunkt der Geburt eine zutiefst Vertraute geworden ist. Wenn die Frauen ihr Kind schließlich zu Hause zur Welt bringen, sind die Hebammen zu zweit dabei.
Seit Jahren schon entscheiden sich in Deutschland zwei Prozent aller Frauen für eine sogenannte außerklinische Geburt, also das Gebären im Geburtshaus oder zu Hause. Eine Zahl, so konstant wie die Debatten darum, ob Schwangere mit einer Hausgeburt ein größeres Risiko eingehen als mit einer Geburt im Krankenhaus. Die Zahlen zeigen: Oft wird zugunsten der Klinik entschieden.
Doch auch diese Frage bekommt in Zeiten von Corona eine ganz neue Dimension. Das Risiko einer Ansteckung geht im eigenen Heim, nach Wochen des Social Distancing, schließlich gegen 0.
Höhere Nachfrage nach Hausgeburten
Tatsächlich steige die Nachfrage nach Hausgeburten in der Coronakrise, vermeldeten in den vergangenen zwei Wochen Zeitungen überall im Land. Leonie Friedrich, so überzeugt sie vom Gebären in der vertrauten Umgebung auch sein mag, sagt, es sei wichtig zu erkennen, ob Familien sich das derzeit nur wünschen, weil sie Angst vor einem Krankenhausaufenthalt haben. Hausgeburt, das bedeutet totales Einlassen auf das, was passiert: keine Schmerzmittel, absolutes Vertrauen in die Hebammen – und sich selbst. „In einer Geburt sind wir mit Kontrollverlust konfrontiert“, sagt Leonie Friedrich, „die Gebärenden sollten dabei so viel Selbstbestimmtheit behalten wie möglich, ein vertrautes Setting, vertraute Menschen“.
Wo fühlt man sich mit hohem Fieber unter Schmerzen am wohlsten? – das ist ihr Vergleich. Eingemuckelt im eigenen Bett, mit einem lieben Menschen, der sich kümmert.
Wie sehr wir Menschen Nähe brauchen, wie nah wir uns tagtäglich sind, fällt jetzt erst richtig auf, da wir es kaum noch sein dürfen.
Zehn Gäste sind zu diesem Zeitpunkt im April bei einer Beisetzung geduldet, und wenn man Pech hat: Sargträger einberechnet! 20 immerhin sind es einen Monat später, Mitte Mai. Cassandra Yousef und das memento-Team versuchen, das Kontaktverbot durch Kreativität erträglich zu machen. Da sei neulich etwa diese Frau aus Amerika gewesen, erzählt sie. Ihre Mutter war in Berlin gestorben, die Tochter durfte nicht aus- beziehungsweise nach einer Ausreise wegen Corona nicht wieder in die USA einreisen.
Zum Glück gibt es das Internet
Ein Glück, dass dies das 21. Jahrhundert ist, es Telefone gibt und das Internet. So kam die Frau per Liveschalte mit ins Krematorium, um ihre Mutter zu verabschieden. Sie konnte so eine Urne auswählen, die mit bunten Papierschnipseln beklebt war. Sie konnte das Grab sehen, der auf Video aufgenommenen Beisetzung also, Tausende Kilometer entfernt, im wahrsten Sinne beiwohnen. „Ich habe ihr anschließend ein kleines Glasfläschchen mit etwas Erde vom Grab und einem Papierschnipsel von der Urne gefüllt und zugeschickt“, sagt Cassandra Yousef. Das Verbot der Nähe ist nicht das Ende aller Emotionen.
Zu Hause im Kreis ihrer Lieben zu sterben, wünschen sich viele. Derzeit zeigt sich deutlich: Es ist tatsächlich das Beste, was einem passieren kann, aus vielerlei Gründen. Denn die Totenfürsorge macht sich in der Wohnung der eigenen Familie am unkompliziertesten.
Cassandra Yousef ist es dergestalt tatsächlich der liebste Teil ihrer Arbeit. In aller Ruhe den Verstorbenen betrachten, berühren, vielleicht waschen, die Lieblingskleidung anziehen. Das wortwörtliche „Begreifen“ des Todes sei wichtig für den Trauerprozess, sagt die Bestatterin und es betrübt sie sichtlich, dass dies derzeit nur in seltenen Fällen geht.
Gestorben wird allein
In vielen Berliner Pflegeheimen sind Besuche verboten, in Krankenhäusern ebenso. Gestorben wird gerade besonders oft allein. „Im Krankenhaus führt in den allermeisten Fällen kein Weg am Keller vorbei“, sagt Cassandra Yousef und meint die Pathologie, in der die Verstorbenen verwahrt werden. Dann Fürsorge in Zeiten der Kontaktbeschränkung? Mit Familie nicht möglich. Schlimmer noch, wenn derjenige nach einer Infektion mit Covid-19 verstorben ist. Dann wird der tote Körper in einem Leichensack versiegelt. Kein letzter Blick, nichts. Zum Glück ist das bei ihr noch nicht vorgekommen.
Wie Leonie Friedrich taucht auch Cassandra Yousef tief in die Lebenswelt der Menschen ein, die sie betreut. Mit dem Unterschied, dass sie dazustößt, wenn das große Ereignis bereits geschehen ist. „Wir lernen die Leute in der Regel an dem Tag kennen, an dem ihr Mensch stirbt.“ Wie an Leonie Friedrich halten sich auch an ihr die Zugehörigen fest. Manchmal ganz wörtlich. Cassandra Yousef erzählt, wie sie einmal sofort beim Aussteigen aus dem Auto an die Hand genommen und zum Haus geführt wurde.
Rituale geben Halt
Festhalten, loslassen – beides wichtig in Situationen in denen jemand geboren wird, stirbt.
Die beiden Freundinnen sagen, es seien „Situationen, die man sich nicht vorstellen kann und in denen dann doch alles anders kommt“. Die amerikanische Autorin Nora McInerny hat es in einem Vortrag so formuliert: Trauern ist wie sich verlieben oder ein Baby bekommen: Man versteht es erst, wenn man es selbst erlebt.
Dass das eigene Zuhause, die Beteiligung der Familie, in diesen uralten Berufen früher unhinterfragt wichtige Bestandteile waren, das ergibt gerade wieder sehr viel Sinn. Plötzlich leuchtet ein, was Rituale, die in diesen besonderen Situationen gehäuft zu finden sind, bewirken sollen: Sie geben Halt.
Der Hebamme und der Bestatterin war das immer klar. Und auch hier entdecken sie Gemeinsames: Kerzen zum Beispiel. Sie werden für die Seele des Verstorbenen entzündet – oder für die des neu auf die Welt kommenden Menschen. Oder weil es gemütlich ist. Je nachdem, woran man so glaubt.
Beistand leisten? Eine Herausforderung
Das rohe Menschsein, das Cassandra Yousef und Leonie Friedrich in ihrer Arbeit erleben, ist nichts, was die moderne Gesellschaft schätzt. Nicht den Kontrollverlust, der damit einhergeht; nicht das Körperliche, Blutige, oder eben Tote. Tabuthemen? Die beiden nicken. Dabei führt kein Weg daran vorbei, zumindest nicht am Sterben.
Die Dichterin Mascha Kaleko hat es so beschrieben: „Es fragt uns keiner, ob es uns gefällt, ob wir das Leben lieben oder hassen, wir kommen ungefragt auf diese Welt und müssen sie auch ungefragt verlassen.“ Wäre es da nicht besser, man machte sich Gedanken?
Beistand leisten, so wie es Leonie Friedrich definiert, als „bedingungsloses Lieben und Sein-Lassen“, ist eine Herausforderung. Vielleicht, weil man damit immer auch ein bisschen von sich selbst preisgibt.
Wie halten sie das aus, die Nähe, diese ganzen Emotionen von Menschen, die man nicht mal richtig gut kennt?
Mitweinen ist erlaubt
„Dafür brauche ich das Team“, sagt Cassandra Yousef und meint den Austausch miteinander. Dass sie momentan wegen Corona allein oder nur zu zweit im Büro sitzen, gefällt ihr nicht. Umso wichtiger ist, wieder einmal, die beste Freundin. Ansonsten: mitweinen ist erlaubt. Freude empfinden oder Trauer, klar – nur nicht zu eigen machen! Niemals würde sie Cassandra bei Wehen begleiten, sagt Leonie Friedrich. „Als Cass mir geschrieben hat, dass sie Wehen hat, ist mir schlecht geworden.“
In ihrer Neuköllner WG leben sie zusammen mit Yousefs Partner und ihrer vierjährigen Tochter. 112 Quadratmeter, ein gemeinsames Wohnzimmer. Wird Leonie Friedrich zu einer Geburt gerufen, fiebert die ganze WG mit. Wenn das Kind geboren ist, schickt sie manchmal eine Nachricht: „Kind ist da, alles gut!“
Andersherum kennt sie die Fälle, die Cassandra Yousef noch lange begleitet haben. Sie vergessen nicht einfach. Sie merken sich Jahrestage.
Wenn die zufällig zusammenfallen, ist plötzlich sichtbar, was das ist, dieses sogenannte Leben: ein Kommen und ein Gehen.