Die Gretchenfrage in Coronazeiten: Wie hältst Du es mit Trauer und Tod?
In der Pandemie versucht man, viele Leben zu retten. Doch sie ist auch eine Gelegenheit, unser Verhältnis zu Tod und Trauer neu zu bestimmen.
„Ich will nicht sterben“, sagt Sandi Bachom mit zitternder Stimme, „ich will nicht, dass meine Geliebten sterben“. Das Video der New Yorker Journalistin, die um einen Freund trauert, der wenige Tage zuvor an Covid-19 verstorben war, verbreitete sich Mitte April in den sozialen Netzwerken.
Schluchzend legt Bachom im Video ihr Leid und ihre Angst frei – ein Hilfeschrei in die Weiten der digitalen Öffentlichkeit, dem Auffangbecken des Schmerzes in Zeiten der Pandemie.
Da sind die Fotos der zehnseitigen Todesanzeigen einer Lokalzeitung in Italien, die Gesichter des verzweifelten Krankenpersonals, die etlichen Einblicke ins Seelenleben von Menschen, die Angehörige durch das Virus verloren haben – sie alle schaffen eine globale Zeugenschaft der Trauer, die sich parallel zu den Todeszahlen im Liveticker entwickelt.
Doch das Virus verursacht nicht nur die Trauer, es erschwert sie ungemein.
Kein Abschiednehmen auf dem Sterbebett, stark eingeschränkte Bestattungszeremonien und das Fehlen der tröstenden Arme des Freundeskreises. Stattdessen weicht der Prozess ins Digitale aus, wo sich eine moderne Trauerkultur etabliert hat – frei von religiösen Konventionen und mit größtmöglicher Resonanz. Und vor allem: mit der gebotenen Distanz. Und das nicht nur im physischen Sinne.
Digitalität verspricht Abstand zum realen Leid
Denn die digitale Trauerkultur verspricht zwar offene Ohren und Beileidsbekundungen, aber eben auch einen psychologischen Sicherheitsabstand zur unmittelbaren Begegnung mit dem Leid.
In unserer Gesellschaft ist die Trauer vielen Menschen unangenehm, sie provoziert eine emotionale Überforderung und die Konfrontation mit der eigenen Vergänglichkeit und Ohnmacht. Sie ist eine unausgesprochene Forderung nach tröstenden Worten, die dem Verlust oft nicht ansatzweise gerecht werden können.
Digitale Trauer ist somit auch symptomatisch für eine Kultur, die versucht, den Tod und den Verlust auf Abstand zu halten. Die Pandemie, die beides zu unausweichlichen und täglich medial vermittelten Realitäten macht, stellt uns nun die existenzielle Gretchenfrage: wie hältst du es mit Trauer und Tod?
Wir leben in einer Kultur, die das Trauern aktiv unterdrückt
Wie deutlich sich das Coronavirus in den jährlichen Todesraten widerspiegeln wird, ist noch nicht absehbar. Menschen sterben auch weiterhin meist an anderen Ursachen. Doch die etablierten Mechanismen der Verdrängung des Todes werden durch die alltägliche Omnipräsenz der Pandemie überlistet.
Niemand kann sich der Wirkmacht dieses Virus und seiner Folgen entziehen. Jede erkrankte Person betrifft uns plötzlich persönlich, beeinflusst die Statistiken, die den Alltag bestimmen. Jeder ist Teil dieser globalen Schicksalsgemeinschaft der Verletzlichkeit. Wäre es nicht gerade jetzt wichtig, einen mutigeren Umgang mit der Trauer und dem Tod zu finden, der auch über die Pandemie hinaus erhalten bleibt?
Der amerikanischen Trauertherapeutin und Autorin Megan Devine zufolge leben wir in einer Kultur, die das Trauern nicht nur ausblendet, sondern es aktiv unterdrückt. Sie warnt vor einer „Epidemie der unausgesprochenen Trauer“, die Depressionen und andere psychische Leiden fördert.
Der Sinn der Trauer liegt in ihrer eigenen Überwindung, doch Devine fordert, dass man sich selbstbestimmt die Zeit und den Raum nimmt, die man braucht, um den Verlust zu verkraften und auch eine anhaltende Resttrauer nicht als anormal stigmatisiert.
Die Trauer ist nie linear, gleich oder schematisch. Man betrauert nicht nur den Verlust einer Person, sondern auch den einer Beziehung oder eines Lebensumstands. Und trotzdem wird mit standardisierten Antworten versucht, sie schnellstmöglich zu vertreiben und den Normalbetrieb wiederherzustellen. Trauer wird zur Arbeit, zu einer Herausforderung, die mit den richtigen Mitteln in der angemessenen Zeitspanne von sechs Monaten zu bewältigen ist. Wer länger intensiv trauert, leidet der Klassifikation der Weltgesundheitsorganisation zufolge an einer „anhaltenden Trauerstörung“ und trauert demnach „anormal“. So wird aber die seelische Autonomie der Betroffenen durch normative Leitlinien reduziert und ein gesellschaftlicher Erwartungsdruck aufgebaut.
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In seinem einflussreichen Werk „Geschichte des Todes“ diagnostizierte der französische Historiker Philipe Ariès bereits in den späten 1970er Jahren, dass sich das Trauern und der Tod aus unseren Gesellschaften ausgeschlichen haben und nicht mehr als öffentliches Ereignis stattfinden.
Theologe Reiner Sörries argumentiert in seiner Kulturgeschichte der Trauer „Herzliches Beileid“, der Umbruch von der öffentlichen zur privaten Trauer habe sich im späten neunzehnten Jahrhundert vollzogen, als die Industrialisierung die Menschen in die urbane Anonymität lockte, wo der Einzelne nicht mehr die große Bedeutung für die Gemeinschaft besaß. Getrauert wurde fortan überwiegend im privaten stillen Kämmerlein.
Initiativen wie das Onlinemagazin „Trauer Now“ fordern darum schon länger ein Umdenken, das die individuellen Bedürfnisse der Trauernden in den Fokus stellt. Gerade in Zeiten von Corona sei das wichtig, da die Betroffenen keine Lobby haben, schreibt das Magazin.
Und das ist vielleicht die Chance des digitalen Zeitalters: Durch die Vernetzung breitet sich wieder ein Verständnis einer kollektiveren Form der Trauer aus. Besonders nach Katastrophen, Anschlägen oder nun eben der Pandemie, wächst die gesellschaftliche Anteilnahme am Leid der Einzelnen. Wenn eine geliebte Person stirbt, scheint für die Hinterbliebenen die Welt oft stillzustehen – in diesen Tagen tut sie es für alle. Wir erleben ein globales Innehalten, das die übliche Dissonanz zwischen dem Seelenleben der Betroffenen und dem Normalbetrieb der Außenwelt aufhebt.
Der Tod wird zu einem Defekt, nicht zu einem natürlichen Teil des Lebens
Die Pandemie verändert uns alle, Trauer, egal welcher Art, steht nun jedem zu. Wie die amerikanische Essayistin Joan Didion in ihrem bitterschönen Trauerroman „Das Jahr magischen Denkens“ schreibt: „Wenn wir trauern, trauern wir auch um uns. Wie wir waren. Wie wir nicht mehr sind.“ Die Bereitschaft zur Einsicht, womöglich auf ewig verändert zu sein, ist gerade jetzt wichtig und kann helfen, Ängste zu lindern.
Vielleicht gelingt es uns dabei auch, ein Stück weit die vorherrschende Auffassung vom Sterben zu überdenken und die Ewigkeitssucht zu überwinden. Der religiöse Glaube an ein Leben nach dem Tod macht diesen nicht zum Ende, sondern zum Anfang der Seligkeit und nimmt dem Menschen die Angst.
In einer überwiegend säkularen Gesellschaft wird der Tod meist gefürchtet, weil er seinen existenziellen Sinn verloren hat. Philipe Ariès spricht vom „gezähmten Tod“, um den das Individuum in der Moderne betrogen wurde, weil es im Unklaren über das eigene Ableben blieb.
Die Coronakrise gibt dem Sterben und dem Verlust Sichtbarkeit zurück
Die heutige Welt ist vom inneren Glauben geprägt, dass der Mensch mittels wissenschaftlichen Fortschritts das Lebensende überlisten, hinauszögern oder gar besiegen kann. Der Tod wird so zu einem Defekt, nicht zu einem natürlichen Teil des Lebens.
Die Coronakrise hat dem Sterben und dem Verlust eine erhöhte gesellschaftliche Sichtbarkeit gegeben. Es hat den Tod aus dem Dickicht der Statistik in den Fokus des öffentlichen Lebens gezerrt.
Die Pandemie konfrontiert uns daher nicht nur mit der Frage, wie Leben gerettet werden kann, sondern auch, wie wir dem Tod und der Trauer ohne Angst begegnen können.
Antworten auf beides werden dringend gebraucht.
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