zum Hauptinhalt
Ursula Nonnemacher will Bahnstrecken reaktivieren und Hebammen stärken.
© Christoph Soeder/dpa

Wahl in Brandenburg: Ursula Nonnemacher könnte die Grünen beflügeln

Die Spitzenkandidatin hat die Brandenburger Grünen weit nach Vorne gebracht. Nur für eines wird sie immer wieder kritisiert.

Und dann sagt sie es wieder. „Verstehen Sie mal“, sagt Ursula Nonnemacher, nachdem sie eineinhalb Stunden auf dem Falkenseer Bahnhofsvorplatz gestanden und Flyer verteilt hat. „Verstehen Sie mal, ich muss los.“ Unbewusst, wie ein persönliches Mantra, benutzt die Spitzenkandidatin der Brandenburger Grünen immer wieder diese drei Worte: „Verstehen Sie mal.“

Am Wahlkampfstand, bei Pressekonferenzen, im persönlichen Gespräch. Wenn etwas Negatives über die 62 Jahre alte Politikerin gesagt wird, deren Partei bei der Wahl am Sonntag wohl mit dem besten Ergebnis in der Landesgeschichte abschneiden wird, dann das: Sie komme etwas oberlehrerinnenhaft rüber. Manche sehen das in ihrer West-Biografie begründet. Dabei lebt sie seit 23 Jahren in Brandenburg.

Ihr Wahlkampfstand ist an diesem Donnerstagmorgen nicht ohne Grund auf dem Bahnhofsvorplatz aufgebaut. Ein richtiges Zentrum gibt es in Falkensee nicht, dieser wachsenden Stadt im Havelland mit 44.000 Einwohnern westlich von Berlin. Der Bahnhofsplatz allerdings, an dem die Pendler jeden Morgen Richtung Hauptstadt davonfahren, hat sich gewandelt in den vergangenen Jahren.

Nun gibt es hier das Jobcenter, einen Dönerimbiss, einen kleinen Markt mit Billigklamotten, Schuhen aus Lederimitat und Frischfisch. Eine Rösterei bietet Bio-Kaffee an. Dass hier auf dem vor 15 Jahren noch trostlosen Platz so etwas wie ein provisorischer Stadtkern entstanden ist, hat auch mit Ursula Nonnemacher zu tun. Sie hat sich dafür eingesetzt. Bei der Kommunalwahl im Mai holten die Grünen 22 Prozent der Stimmen, stellen mittlerweile die stärkste Fraktion im Stadtparlament.

„Wir waren eine Sechs-Prozent-Partei“

22 Prozent dürften es nicht werden am 1. September. Zwischenzeitlich lagen die Grünen bei den Prognosen für die Landtagswahl bei 17 Prozent, vor ein paar Tagen verloren sie wieder, kamen nur noch auf zwölf, dann 14 Prozent. Damit hätte sich eine Frage erledigt, die Nonnemacher während des Umfragehochs immer wieder gestellt wurde: Wird sie die erste grüne Ministerpräsidentin in Deutschland? Denn würden die Grünen nach der AfD, mit der niemand koalieren will, auf Platz zwei einlaufen, wäre es an Nonnemacher, eine Regierung zu bilden.

Diese Königinnenfrage finde sie „ganz, ganz furchtbar“, sagt Nonnemacher und grüßt schnell eine Bekannte, die mit dem Rad am Wahlkampfstand vorbeifährt: „Rosi, meine Liebe!“ Klar würde sie als Spitzenkandidatin die Verantwortung annehmen, sagt Nonnemacher. Aber jetzt gehe es ihr erst einmal darum, mit einer starken Fraktion viele Grünen-Themen umzusetzen. „Verstehen Sie mal“, sagt sie, „wir waren eine Sechs-Prozent-Partei.“

Im Oktober 1996 zieht Nonnemacher, die Anfang der 80er Jahre aus Wiesbaden nach West-Berlin gekommen ist und als Klinikärztin in Berlin-Spandau arbeitet, raus nach Falkensee. Die Wohnung in Moabit ist zu eng geworden für die wachsende Familie. Das dritte Kind ist unterwegs. Die Familie findet ein Häuschen, fühlt sich wohl. „Aber ich war schnell ernüchtert über die hiesige SPD“, sagt die Frau, die als Jugendliche Willy Brandt gut fand. „Da bewegte sich nichts in Falkensee.“ Also tritt sie 1997 bei den Grünen ein, gründet den Ortsverband der Partei mit, und engagiert sich in der Stadtverordnetenversammlung.

Es geht nicht mehr nur um Umweltthemen

In Städten wie Falkensee mit vielen, meist westsozialisierten Zuzüglern, können die Grünen schon früh punkten. Auf dem märkischen Land bleiben sie lange chancenlos. Dem Ur-Märker im roten Brandenburg reichte bislang das Grün vor seiner Haustür.

Das ist inzwischen anders: Der positive Bundestrend unter der Brandenburger Bundesvorsitzenden Annalena Baerbock – zugezogen, westsozialisiert – spielt dabei sicher eine Rolle, die Debatte um den Klimaschutz, die „Fridays for Future“-Demos, die inzwischen auch in 15 Brandenburger Städten regelmäßig stattfinden.

Es dürfte aber auch an der Oppositionsarbeit der Grünen mit Nonnemacher als Fraktionschefin liegen. Die Partei hat ihr Spektrum erweitert. Es geht schon lange nicht mehr nur um Umweltthemen, sondern viel um Soziales, um öffentlichen Nahverkehr, darum, die ländlichen Regionen nicht abzuhängen.

Nonnemacher hat gemeinsam mit der SPD-Abgeordneten Klara Geywitz, die nun für den Bundesvorsitz ihrer Partei kandidiert, das bundesweit erste Paritégesetz auf den Weg gebracht, das zwar bei dieser Wahl noch nicht greift, aber künftig mehr Frauen ins Parlament bringen soll.

Wenn sie in die Regierung kommen, wollen die Grünen stillgelegte Bahnstrecken reaktivieren. Auch die Verbesserung der Hebammenversorgung steht als Ziel im Wahlprogramm. Etwas, das viele Eltern umtreibt, nachdem in Zeiten des Geburtenrückgangs Entbindungskliniken geschlossen wurden und werdende Mütter teils lange Wege zum nächsten Kreißsaal in Kauf nehmen müssen.

Ein Gegengewicht gegen die AfD

Selbst Landtagsabgeordnete anderer Parteien haben wenig an Nonnemacher zu kritisieren. Sie gilt als verlässlich, zupackend, immer gut vorbereitet. Vor zwei Wochen, beim letzten Parteitag der Grünen vor der Wahl, steht Nonnemacher in einer Potsdamer Schulaula auf dem Podium, hält die entscheidende Rede vor der Basis.

„Selbst in ihren vermeintlichen Kernkompetenzen gelingt es Rot-Rot immer weniger, zu überzeugen“, sagt sie. „Wenn Wohlfahrts- und Sozialverbände, Gewerkschaften und Gesundheitsberufe zunehmend bei den Bündnisgrünen anklopfen und das Gespräch suchen, dann zeigt sich: die Sozialdemokratische Beschwörungsformel von dem einen Brandenburg zieht nicht mehr.“

Immer wieder exerziert sie dabei den Wahlkampfslogan der Grünen durch, der sich gegen die rot-rote Politik richtet: „Hallo Zukunft! Tschüss Stillstand.“

Großer Applaus, als sie mit erleichtertem Gesichtsausdruck von der Bühne steigt, auch von den Gastrednern: Neben dem Potsdamer „Klimapapst“ Hans Joachim Schellnhuber spricht der Verdi-Vorsitzende Frank Bsirske. Er ist Grünen-Mitglied.

Bsirske und Schellnhuber ermuntern Nonnemacher beim Parteitag auch, weiter ein Gegengewicht gegen die AfD zu bilden, die in Brandenburg unter ihrem Vorsitzenden Andreas Kalbitz immer weiter nach rechts abdriftet.

Nonnemacher fand schon früh scharfe Worte gegen die AfD. 2014 nannte sie Alexander Gauland, der da noch Fraktionschef in Brandenburg war, einen „geistigen Brandstifter“. „Sie können Ihre Hände nicht in Unschuld waschen, wenn wieder Asylbewerberheime brennen“, rief sie in einer Landtagsdebatte.

Sie rechnete nicht damit, in den Landtag zu kommen

Ihre allererste Rede im Landtag hält Nonnemacher 2009 zum Kampf gegen Rechtsextremismus, den das Land mit dem Handlungskonzept „Tolerantes Brandenburg“ aufgenommen hat. Sie meldet sich freiwillig für diese Rede. Aus den Erzählungen der Eltern weiß sie, wo rechtsextreme Ansichten hinführen können. Der Vater war Wehrmachtssoldat, die Mutter im Arbeitsdienst.

Als kommunalpolitisch erfolgreiche Fraktionsvorsitzende in Falkensee wird sie 2009 gefragt, ob sie bei der Landtagswahl auf der Landesliste kandidieren will. Sie sagt zu, für Listenplatz 5. Ein sicherer Platz. Sicher, um nicht in den Landtag zu kommen, wie sie glaubt.

Aber die Grünen holen 5,2 Prozent, ziehen nach 15 Jahren Abstinenz wieder ins Parlament ein – und stellen fünf Abgeordnete. Am Montag nach der Wahl ist Nonnemacher für den Spätdienst im Klinikum eingeteilt. Sie ruft ihren Chef an, sagt, dass sie nicht kommen kann, weil sie sich nun erst mal um diese Landtagssache kümmern muss.

Es sei ihr unangenehm gewesen, sagt sie, sie fehlte sonst nie. In Spandau arbeitete sie zu der Zeit als Notärztin im Schichtdienst. Wenn der Pieper ging, fuhr sie raus, manchmal war ihr Mann Guido dabei, der auch Arzt ist. Erschütternd sei der Job manchmal gewesen, stressig.

Als Jugendliche in Hessen geht sie zu Anti-Atomkraft-Demos, engagiert sich im Frauenhaus. Mit 17 zieht sie von zu Hause aus, wohnt in WGs. Sie und ihre ältere Schwester sind die ersten in der Familie, die Abitur machen, Nonnemacher mit 1,0. Vor allem die Mutter, eine überzeugte Sozialdemokratin, unterstützt sie in ihrem Streben nach Bildung. „Und das zu einer Zeit, als man im Westen jungen Frauen sagte: Du kannst ja Sekretärin werden.“

Keine steht so oft am Mikrofon wie sie

Nach der ersten Anti-Rechts-Rede wird Nonnemacher schnell zur Redekönigin im Landtag. Keine steht so oft wie sie am Mikrofon. In der zu Ende gehenden Legislaturperiode hat sie 392 Reden gehalten, an manchen Plenartagen spricht sie 14 Mal. Innenpolitik und Kommunales, Migration und Soziales – sie deckt das Spektrum wichtiger Themen ab, zu denen es viele Anträge und deshalb auch viele Debatten im Parlament gibt.

Auch vom politischen Gegner gibt es dafür Lob. „Sie ist megafleißig, eine Kämpferin, voller Energie“, sagt Sebastian Walter, Spitzenkandidat der mitregierenden Linken, die diesmal fürchten müssen, von den Grünen stimmenmäßig überholt zu werden. Außerdem „ehrlich, keine Schauspielerin“. Ihr Lachen ist auch noch da, wenn die Kamera längst jemand anderen ins Visier genommen hat. Anders als bei Andreas Kalbitz, der sein Lächeln je nach Aufmerksamkeitsgrad an- und ausknipsen kann.

Walter sagt auch: „Aber es kommt nicht immer so gut, wenn man den Eindruck erweckt, dass man alles besser weiß.“

Nonnemacher liest viel, arbeitet Akten durch, bereitet sich gründlich auf Sitzungen vor, was man zum Beispiel regelmäßig im NSU-Untersuchungsausschuss des Brandenburger Landtags feststellen konnte, wo sie als Obfrau saß. Ein Ausschuss, für den 3000 Aktenordner angelegt wurden. Nonnemacher fragt präzise: In der Akte XY auf Seite soundso, da habe doch gestanden, dass Herr X Herrn Y an jenem Tag an jenem Ort um jene Uhrzeit getroffen habe.

„Ich bin da vielleicht auch etwas zwanghaft“, sagt Nonnemacher. Samstag und Sonntag, vor Plenarsitzungen, geht sie im Dachgeschoss ihres Hauses „in Klausur“ wie sie es nennt, geht zwölf Stunden lang Redemanuskripte durch. „Verstehen Sie mal. Ich hasse es, irgendwo hinzugehen und das Gefühl zu haben, nicht gut vorbereitet zu sein. Genauso so wie Unpünktlichkeit, mag ich auch nicht.“

„Sie sind mir grundsätzlich zu grün.“

Ein älteres Ehepaar tritt an den Wahlkampfstand. Der Mann wickelt umständlich einen Blumenstrauß aus Papier, überreicht ihn Nonnemacher. „Wir wollen Ihnen danken“, sagt er. Das Paar war vor einiger Zeit bei Nonnemacher in der Bürgersprechstunde. Es ging um einen komplizierten Erbschaftsstreit, der das Paar zermürbte. Nonnemacher wandte sich direkt an den Linke-Justizminister. Nun sei Bewegung in die Sache gekommen, erzählt die Frau. Es gibt endlich einen Gerichtstermin.

Wenig später läuft ein Mann über den Bahnhofsplatz. Als er Nonnemacher sieht, wird er laut. Er sei gar nicht einverstanden mit den Grünen, schimpft er los. Alles schlecht, einfach alles, was von den Grünen komme, sei schlecht. „Sie sind mir grundsätzlich zu grün.“ Nonnemacher versucht erst gar nicht, mit ihm ins Gespräch zu kommen. „Der macht mich nervös mit seinem Gekreische“, sagt sie.

Nonnemacher tritt gemeinsam mit dem 26 Jahre jüngeren Landtagsabgeordneten Benjamin Raschke an. Ein sehr unterschiedliches Spitzenduo. „Ich bin Vegetarier, bei Ursula darf es auch gerne mal ein Schnitzel sein“, sagt Raschke, der die nur knapp 1,60 Meter große Kollegin um anderthalb Köpfe überragt. „Fundamental-ökologisch-grün“ sei sie nicht, sagt Nonnemacher von sich selbst.

Vor einigen Wochen postet sie bei Facebook ein Foto. Es zeigt eine junge Frau mit dunklerem Teint, Hochsteckfrisur und Abendkleid. Daneben stehen Nonnemacher und eine Frau mit Kopftuch. „Unsere ’Jüngste’ hat Abitur! Sara mit ihren zwei Müttern“, schreibt sie zu dem Foto. Sara kommt 2015 aus dem Iran nach Deutschland, lebt als alleinreisende Minderjährige in einer Unterkunft, besucht die Schule in Falkensee.

Umweltbewusst. Aber nicht weltfremd

Über die dortige Willkommensinitiative erfahren die Nonnemachers von Sara. Weil ihre jüngste Tochter gerade ein Freiwilliges Soziales Jahr in Bolivien absolviert und ein Zimmer leer steht, nehmen sie Sara auf. Als die Tochter zurückkehrt, bleibt Sara. „Sie ist wie ein viertes Kind für mich“, sagt Nonnemacher. Zur Abiturfeier laden die Nonnemachers Saras leibliche Mutter aus dem Iran ein, schenken ihrer Ziehtochter den Führerschein. Denn bei allem Umweltbewusstsein ist Ursula Nonnemacher nicht weltfremd: „Verstehen Sie mal. Ohne Führerschein hat man auf dem Ausbildungsmarkt einfach schlechtere Chancen.“

Marion Kaufmann

Zur Startseite