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Peter Gerhardt lebt seit seiner Geburt in Hohengüstow. Der 60-Jährige ist seit Mai 2019 Bürgermeister der Gemeinde Uckerfelde in der Uckermark.
© Felix Hackenbruch

Brandenburgwahl 2019: „Die Kneipe hielt das Dorf zusammen“

Viele Dörfer in Brandenburg fühlen sich abgehängt, sagt Peter Gerhardt aus Uckerfelde. Trotzdem wohne er gerne da, wo andere Urlaub machen.

Herr Gehardt, Sie sind seit Mai ehrenamtlicher Bürgermeister von Uckerfelde. Wieso genießen Sie nicht einfach Ihre Rente?

Das haben mich viele gefragt. Ich möchte, dass es in meiner Heimat wieder rund läuft. Ich bin Bürgermeister von Uckerfelde, dazu gehören seit der Zwangsvergemeindung 2001 insgesamt vier Ortsteile Hohengüstow, Bertikow, Bietikow und Falkenwalde mit den Ortsteilen Weselitz, Kleinow und Neu-Kleinow. Früher haben alle nur für sich gekämpft, es soll aber wieder eine dörfliche Gemeinschaft entstehen. Ich möchte, dass es eine gemeinsame Entwicklung gibt.

Welche Entwicklung ist am wichtigsten?

Ich möchte, dass sich junge Leute dazu entschließen, auf dem Land zu wohnen. Wir erleben seit ein paar Jahren, dass Menschen, die hier geboren sind, mit ihren Familien zurückkommen. Denen muss man das Dorfleben aber auch schmackhaft machen und Strukturen schaffen. Das ist aber schwierig.

Der Ort hat eine Tankstelle und eine Kita. Reicht das?

Nein, natürlich nicht. Früher hatten wir hier Konsum, Bäcker, Grundschule, Post und eine Gaststätte. Jetzt ist alles dicht. Das ist nicht schön.

Sie wohnen seit Ihrer Geburt in Hohengüstow. Wie war das Dorfleben in der DDR?

Es war ein gutes, harmonisches Miteinander. Die Hälfte der Leute hat in der Landwirtschaft gearbeitet, in der LPG, man kannte sich. Es herrschte Vollbeschäftigung und war gemütlich hier. Als die alte Gaststätte marode war, haben die Leute nach Feierabend in Eigenregie einen Neubau hochgezogen. Und die Gaststätte florierte.

Das schafft Gemeinschaftsgefühl.

Absolut. Wir hatten auch einen Dorfclub, der sich kulturell betätigt hat. In den Wintermonaten hatten wir jedes Wochenende Programm. Skatabende, Faschingsfeiern, bunte Tanzabende, Silvesterfeiern.

Die Kneipe war der Dorfmittelpunkt?

Hier war immer etwas los. Unter der Woche gab es Veranstaltungen, sonntags trafen sich hier alle nach der Kirche. Die Kneipe hielt das Dorf zusammen.

Dann kam die Wende.

Es war ein richtiger Neubeginn. Die Leute in der LPG haben fast alle ihre Arbeit verloren. Was früher 50 Mitarbeiter geschafft haben, konnten jetzt zwei bis drei Mann erledigen. Dadurch wurden über 50 Prozent im Dorf arbeitslos. Viele sind gegangen – vor allem die Jugend. In die Städte, nach Berlin und viele auch in den Westen.

Wie haben Sie diese Zeit erlebt?

Ich war 30 Jahre alt und habe auch vom einen auf den anderen Tag meinen Job verloren. Ich musste mich komplett neu orientieren. Die Währung war weg, die Sicherheit auch. Ein neues Gesellschaftssystem, ein ganz anderes Warenangebot. Das war eine ganz schwierige Zeit.

Haben Sie übers Weggehen nachgedacht?

Ja! Das hat jeder. Für mich stand es aber nicht so richtig zu Debatte – ich bin hier geboren. Zum Glück fand ich schnell wieder einen Job.

Eine Stunde nördlich vom Alexanderplatz, aber Berlin und Hohengüstow trennen Welten.
Eine Stunde nördlich vom Alexanderplatz, aber Berlin und Hohengüstow trennen Welten.
© Felix Hackenbruch

Wie erging es den anderen im Dorf?

Viele haben es nicht gepackt – besonders die ältere Generation konnte nicht mehr umdenken, die Umstellung war zu gewaltig. Viele fanden keine neue Arbeit und haben es teilweise bis heute nicht geschafft.

Sind die Menschen hier uneigenständig?

In den alten Bundesländern würde das auch so passieren, dass Menschen ihr Dorf nicht verlassen. Meine Verwandtschaft in Düsseldorf hat uns immer Inflexibilität vorgeworfen. So flexibel wie wir aber waren, das muss uns erst einmal jemand nachmachen. Wir haben uns Arbeit gesucht, wir sind gependelt, haben weite Wege in Kauf genommen.

Ärgert Sie der Vorwurf?

Die Kritik meiner Verwandtschaft hat mich getroffen. Was stimmt: Wir mussten uns früher nicht um alles kümmern. Der Staat hat vieles organisiert. Wer sich heute nicht kümmert, bleibt auf der Strecke. Aber unflexibel, nein. Das gibt es auch im Westen.

Was macht es mit einer Gemeinschaft, wenn man sich nicht mehr im Supermarkt oder der Kneipe trifft?

Der Zusammenhalt ist auseinandergerissen worden. Der Neid hat zugenommen. Früher waren die Lebensrealitäten ähnlicher. Man hat das Gleiche erlebt, fast das Gleiche verdient. Heute pendeln viele, kommen nur am Wochenende ins Dorf. Da entfremdet man sich.

Wo treffen Sie heute Ihre Nachbarn?

Der ganze Kontakt ist schwieriger geworden. Früher hat man sich an jedem Gartenzaun getroffen, heute laufe ich durch das Dorf und denke, dass hier niemand mehr lebt. Die Bürgersteige sind wie hochgeklappt.

Nimmt man es nicht in Kauf, dass die Versorgungslage auf dem Land nicht der einer Großstadt entspricht?

Natürlich, damit muss man leben, wenn man aufs Land zieht. Das habe ich auch in anderen Bundesländern beobachtet, aber da gibt es dann eben auch mal einen richtigen Radweg oder eine bessere Busverbindung. Immerhin, ab September haben wir den sogenannten PlusBus, dann fährt hier stündlich ein Bus. In den kleinen Dörfern von Uckerfelde aber nicht.

Wie stark ist das Vereinsleben?

Wir haben hier noch eine Freiwillige Feuerwehr. Gemeinsam mit dem Förderverein veranstalten sie Trödelmärkte, Weihnachtsbaumverbrennen und 1. Mai-Feiern. Das ist der einzige Verein. Im Nachbardorf gibt es noch einen Heimatverein, aber ansonsten ist es sehr rar.

Geht das Ehrenamt verloren?

Es hängt jedenfalls mit den Personen zusammen, ob eine Feuerwehr überlebt oder nicht. Unser Feuerwehr-Chef ist jetzt 65 Jahre alt und hat in seinem Leben mehr Zeit bei der Feuerwehr als bei seiner Frau verbracht. Noch heute ist er täglich dreimal am Feuerwehrhaus. Da steckt sehr viel Herzblut dahinter, nicht der Staat.

Sollte sich der Staat mehr einbringen im ländlichen Raum?

Zu einhundert Prozent. Die Feuerwehrleute machen alles ehrenamtlich – und wir haben hier direkt an der Autobahn fast täglich schlimme Einsätze. Trotzdem bekommen sie als Aufwandsentschädigung pro Einsatz nicht einmal Mindestlohn. Das ist beschämend. Die Politik sollte das Ehrenamt noch viel stärker entschädigen.

Worum sollte sich die Politik denn noch kümmern?

Die Leute verdienen nichts mehr in der Landwirtschaft. Früher gab es hier nicht nur Raps und Getreide, sondern auch Kartoffeln. Lohnt sich aber nicht. Es gibt auch keine Tierhaltung mehr. Früher sah man auf jeder Wiese Kühe. Heute gibt’s im ganzen Kreis keine Kuh mehr. Auch die Schweinemastanlage hat vergangenes Jahr dichtgemacht. Die Wiesen sind jetzt leer. Das ist politisches Versagen, wenn die Landwirte nicht ausreichend für ihre Nutztierhaltung vergütet werden.

Haben Sie weitere Wünsche an die Politik?

In Uckerfelde haben wir noch kommunalen Wohnungsbau aus der DDR. Große Blöcke, bei uns im Dorf zwei Wohnhäuser mit insgesamt 24 Einheiten. Das würde heute auf dem Land niemand mehr so bauen und oft stehen die Wohnungen teilweise leer. Selbst voll besetzt sind die mit Modernisierungs- und Unterhaltskosten nicht wirtschaftlich zu betreiben. Außerdem sind die Wohnungen teilweise noch mit Altschulden aus DDR-Zeiten belastet, die uns nach der Wende nicht erlassen wurden. Daran knabbern wir bis heute und müssen den Haushalt an anderen Stellen zusammenstreichen. Kürzlich war Finanzminister Christian Görke hier, wir haben ihn darauf angesprochen. Er hat uns aber auf nach der Wahl vertröstet.

Was erwarten Sie von der Landtagswahl?

Ich hoffe, dass sie nicht so schlecht ausfällt und die AfD nicht zu stark wird. Ich habe aber noch keine Wahl erlebt, nach der sich alles zum Positiven gewandelt hätte. Nach der Wahl ist vor der Wahl. Selbst wenn die AfD stärkste Kraft wird, glaube ich nicht, dass wir das hier spüren werden.

Bei der Europawahl bekam die AfD in den umliegenden Dörfern teils über 40 Prozent.

Das ist ein Zeichen der Unzufriedenheit, aber auch der Empfänglichkeit der Menschen hier für die Parolen der AfD. Ich glaube, dass die Asylpolitik noch immer das Thema ist, das die Menschen bewegt. Gerade die nicht so betuchten und die Sozialhilfeempfänger haben den Eindruck, dass es den Asylbewerbern besser gehe als ihnen.

Gibt es hier Flüchtlinge?

Nein, in unserer Gemeinde nicht.

Muss die Politik weniger wirtschaftlich denken?

Die ländlichen Regionen müssen stärker finanziell bedacht werden. Eine Gemeinde, die nicht mal ihren Haushalt ausgeglichen bekommt, kann doch nichts mehr investieren. Wir haben noch unseren alten Saal, den wir betreiben, obwohl es nicht wirtschaftlich ist. Aber er wird gut genutzt von Vereinen oder für private Feiern. Sobald wir wieder Geld haben, will ich auch in den kleinen Dörfern Orte für Feste wiederherstellen.

Abgesehen vom Dorffest: Gibt es weitere Gründe auf dem Land zu leben?

Meine alten Arbeitskollegen aus Berlin kamen oft zurück aus dem Urlaub und waren ganz begeistert. Es stellte sich heraus, dass sie in der Uckermark waren, nur drei Kilometer von hier entfernt. Ich wohne da, wo andere Urlaub machen. Man hat die Ruhe und die Natur. Ich gehe regelmäßig wandern – herrlich!

Sie haben zwei Söhne. Sind die geblieben?

Der eine ist in die Gegend von Hamburg gezogen, der wird nicht mehr zurückkommen. Mein anderer Sohn wohnt heute wieder in unserem Dorf, hat Familie, hat ein Haus gebaut und ist aktiv in der Feuerwehr. Er gehört zu der Gruppe, die zurückgekommen ist. Wenn die Politik die Weichen richtig stellt und nicht nur in Speckgürtel von Großstädten investiert, dann wird es die Dörfer auch noch in einigen Jahrzehnten geben.

Das Gespräch führte Felix Hackenbruch.

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