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Rosa Müller-Dombois bereitet das Vlies für die Schutzmasken zum Schneiden vor.
© Kitty Kleist-Heinrich

Berliner Taschenunternehmen verändert Produktion: So kompliziert ist die Umstellung auf medizinische Schutzmasken

Die Firma Bagjack produziert in Marzahn normalerweise Fahrradtaschen. Die kurzfristige Umstellung auf Mundschutze lohnt sich wirtschaftlich nicht.

Gerade ist eine Mitarbeiterin damit beschäftigt, ein etwa tausend Meter langes Gummiband zu entwirren. Anderes war nicht lieferbar, sagt Peter Brunsberg – auch an Gummibändern gibt es einen Mangel in Deutschland. Brunsberg hat aus Holz ein kleines Schneidebrett gebaut, auf dem zwei Längen eingezeichnet sind, 45 Zentimeter für das Band über den Ohren, 23 Zentimeter für das Band unter den Ohren. Ein Angestellter wird hier künftig den ganzen Tag Bänder in der richtigen Länge abschneiden.

Pro Band dauert das etwa drei Sekunden, am Tag sollten 2000 geschnitten werden, hat Brunsberg ausgerechnet. Er hat drei neue Arbeitskräfte eingestellt. Zunächst für zwei Monate. Sie arbeiten sonst in einem Veranstaltungsunternehmen, aber wegen der Coronakrise gibt es dort zurzeit für sie keine Beschäftigung. Mit Nähen hatten sie bisher nichts zu tun.

Peter Brunsberg, Geschäftsführer der Firma Bagjack, hat dieses improvisierte Schneidegerät selbst entworfen.
Peter Brunsberg, Geschäftsführer der Firma Bagjack, hat dieses improvisierte Schneidegerät selbst entworfen.
© Kitty Kleist-Heinrich

Peter Brunsberg, ganz in schwarz gekleidet, mit bunten Buttons auf der schwarzen Kappe, ist Inhaber von Bagjack, einem Berliner Unternehmen im Marzahner Gewerbepark Georg Knorr. Eigentlich stellt es hochwertige Taschen her. Vor einem Monat erhielt Peter Brunsberg die Anfrage, ob er nicht auch die dringend notwendigen Schutzmasken für Krankenhäuser produzieren könne. Brunsberg dachte, mit etwas Glück könnte das ein guter, langfristiger Auftrag sein. Er sagte zu.

Ab Montag ist in öffentlichen Berliner Verkehrsmitteln das Tragen einer Schutzmaske Pflicht. Seit jeder Mensch jedem Menschen eine sehr konkrete Gefahr ist, es ein potenziell tödliches Virus einzudämmen gilt, ist der Bedarf an Masken weltweit enorm.

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Für medizinische Masken hat das Bundesgesundheitsministerium in Deutschland zuletzt einen Bedarf von fünf bis zehn Millionen FFP2-Masken pro Woche ausgeschrieben. Mit acht bis zwölf Milliarden Masken pro Jahr rechnet Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier, wenn alle Menschen hierzulande wieder arbeiten gehen können sollen.

Schutzmasken werden schon lange günstig in China produziert, in Deutschland versuchen Unternehmen erst seit der Coronakrise, selber welche in hohen Stückzahlen herzustellen. Dem Gesamtverband Textil und Mode zufolge haben 40 Prozent der Betriebe in der Branche damit begonnen, Schutzausrüstung zu produzieren oder bereiten sich darauf vor. Für viele bedeutet die schnelle Umstellung eine immense Herausforderung.

Die 1000 Quadratmeter große Fabrik in Marzahn, in der seit dieser Woche mehrere hundert zertifizierte FFP2 Masken produziert werden, sieht gleichzeitig ordentlich und unordentlich aus. Zwischen Regalen stehen leere Paletten, Werkzeugkoffer, in einer Ecke ein Skateboard, in der anderen eine Hantelbank. An manchen Stellen klebt das Bagjack-Logo.

Zehn Menschen arbeiten konzentriert, ohne sich zu unterhalten, nur das Sirren von Maschinen ist zu hören. 20 Mitarbeiter hat das Unternehmen insgesamt. „Wir sind erst vor sechs Wochen umgezogen“ sagt Brunsberg. „Aber dadurch hatten wir auch zufällig genug Platz, um noch zusätzlich Schutzmasken produzieren zu können.“

Wenn man den Raum betritt, sieht man auf der rechten Seite als erstes ein riesiges Regal mit Stoffrollen: rot, blau, gelb, leuchtend orange und ganz viel schwarz. Vlies gab es in dem Regal bisher nicht. Das ist das Material, aus dem medizinische Schutzmasken gemacht werden.

In größerem Umfang wird Vlies in Deutschland nur von zwei mittelständischen Unternehmen hergestellt: Sandler in Franken und Innovatec in Troisdorf bei Bonn. Sandler beliefert den niederbayerischen Autozulieferer Zettl, der im Auftrag der bayerischen Landesregierung Masken produziert und keine weiteren Aufträge entgegennimmt. Bei Innovatec wird Vliesmaterial für rund zehn Millionen Masken am Tag hergestellt, was den deutschen Bedarf decken würde. Doch das Vlies geht ausschließlich ins Ausland.

Früher hat der heute 49-jährige Brunsberg im Inlineskateladen gejobbt, Breakdance getanzt. Als Jugendlicher war er in Ostberlin auf der Ballettschule. „Ist ein cooler Typ“ sagt sein Mitarbeiter Daniel Juhart.

Das professionelle Nähen hat sich Brunsberg zu DDR-Zeiten selbst beigebracht, um coole Fahrradtaschen zu haben, wie es sie damals nur in New York gab. Heute produziert er solche in Serie, dazu Rucksäcke, Laptoptaschen, Geldbeutel. Sein Unternehmen Bagjack, 1997 gegründet, setzt mittlerweile 900000 Euro im Jahr um.

Peter Brunsberg und seine Freundin Rosa Müller-Dombois vor einem der Stoffregale.
Peter Brunsberg und seine Freundin Rosa Müller-Dombois vor einem der Stoffregale.
© Kitty Kleist-Heinrich

Mitte März war es, als Brunsberg von einem Kollegen, mit dem er schon einmal für ein Projekt zusammengearbeitet hatte, angesprochen wurde, ob er sich dem „Fight Konsortium“ anschließen möchte: Ein Zusammenschluss mehrerer Unternehmen und Forschungseinrichtungen, die es sich zum Ziel gesetzt haben, gemeinsam 4,2 Millionen medizinische Masken pro Woche zu produzieren.

Zu den Abnehmern gehört das Stuttgarter Ministerium für Soziales und Integration, das Konsortium führt inzwischen auch Gespräche mit dem Berliner Senat. Der direkte Auftraggeber von Bagjack ist die Sporlastic GmbH in Nürtingen. Das Unternehmen war vorher schon als Zulieferer im medizinischen Sektor tätig und koordiniert für Fight unter anderem die Materialbeschaffung.

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Der wissenschaftliche Input kommt von Textiltechnikinstituten aus Aachen und Chemnitz, Zulassungen und Zertifizierungen gewährleisten die Dekra und das Institut für Arbeitsschutz. Das Projekt- und Netzwerkmanagement sowie die Einkaufs- und Verkaufsverhandlungen übernimmt die Consultingfirma Gherzi.

Sporlastic hat in der vergangenen Woche Rohstoffe die schwer zu bekommenden Vliese nach Marzahn geschickt. Sie stammen von der RKW Group in Gronau. Dazu bekam Brunsberg eine zertifizierte Anleitung.

Sieben Näherinnen und Näher arbeiten für Bagjack in Marzahn.
Sieben Näherinnen und Näher arbeiten für Bagjack in Marzahn.
© Kitty Kleist-Heinrich

Er probierte aus, wie seine Mitarbeiter und er die Masken anweisungsgetreu produzieren können und schickte die Prototypen zurück an Sporlastic. Vor wenigen Tagen erhielten sie den Auftrag und detaillierte Arbeitsanweisungen mit allen Schnittmustern und Maßen. Jetzt sollen sie zunächst so viele Masken wie möglich produzieren, Sporlastic prüft die Qualität und gibt sie an die Abnehmer weiter.

Seit vergangener Woche hängt die Vliesrolle jetzt neben anderen Stoffen in einem sogenannten Teppichpaternoster, der langsam ruckelnd hoch und runter fährt. Brunsbergs Partnerin Rosa Müller-Dombois, 47, die für den Zuschnitt verantwortlich ist, muss dann nur noch auf den Knopf drücken, damit der weiße Stoff auf der Fläche ausgerollt wird. Über der Schnittfläche hängt eine viereckige Lampenkonstruktion, die ihnen ein befreundeter Elektriker gebaut hat. Der ganze Bereich sieht dadurch aus wie ein überdimensionales Zahnarztzimmer.

Mit diesem Teppichpaternoster werden die Stoffe zur Ablage gefahren. Müller-Dombois wählt hier das Vlies für die Schutzmasken aus.
Mit diesem Teppichpaternoster werden die Stoffe zur Ablage gefahren. Müller-Dombois wählt hier das Vlies für die Schutzmasken aus.
© Kitty Kleist-Heinrich

Da sie mit Vlies bisher noch nicht gearbeitet hatte, musste Müller-Dombois drei Stunden experimentieren, um herauszufinden, welches Messer sie für den Schnitt verwenden kann. Das vorgegebene, zertifizierte Schnittbild für die Masken konnte sie in den Computer einspeisen.

Wenn das Vlies auf dem Schnittbereich liegt und sie auf Start drückt, dauert es acht Sekunden, bis das automatische Rollmesser, ähnlich wie ein Pizzamesser, den Stoff für eine Maske ausgeschnitten hat. Die ersten 235 liegen jetzt am anderen Ende der Fabrik bei Daniel Juhart.

Acht Sekunden dauert es, bis das automatische Rollmesser den Stoff für eine Schutzmaske ausgeschnitten hat.
Acht Sekunden dauert es, bis das automatische Rollmesser den Stoff für eine Schutzmaske ausgeschnitten hat.
© Kitty Kleist-Heinrich

Der 30-Jährige, die langen dunklen Haare hygienisch im Zopf, sitzt in einem zwei Quadratmeter großen, durch Trennwände abgeteilten Bereich und schaut stur auf die schnellen Bewegungen seiner Nähmaschinennadel. Er näht die wenigen Zentimeter des Stoffes zusammen, der später die Nase bedecken sollen.

15 Sekunden braucht er für diesen Abschnitt. Drei Tage, um alle Maskenteile allein fertig zu nähen. Juhart trägt als einziger in der Fabrik Mundschutz und Handschuhe. Es liegt in seiner Verantwortung, dass keine Viren auf die Masken gelangen, die Ärzte und Pfleger in Baden Württemberg tragen sollen.

Zugleich soll er gucken, wie sich die Abläufe in der Maskenproduktion und das Produkt verbessern lassen: „Ich suche nach Fehlern und Stolpersteinen und rechne aus, welche Schritte in welcher Aufteilung am sinnvollsten sind und wie lange sie jeweils dauern.“

„Ich kann nur drei von meinen Mitarbeitern für die Maskenproduktion rausnehmen, da die anderen die bereits laufenden Aufträge produzieren müssen“, erklärt sein Chef Peter Brunsberg. Juhart hat an der Akademie für Künste in Berlin Modedesign studiert. „Es fühlt sich gut an, etwas Sinnvolles beizutragen“, sagt Juhart.

Die ersten 235 Masken werden von Mitarbeiter Daniel Juhan genäht. Er trägt als einziger Mitarbeiter selbst eine Maske.
Die ersten 235 Masken werden von Mitarbeiter Daniel Juhan genäht. Er trägt als einziger Mitarbeiter selbst eine Maske.
© Kitty Kleist-Heinrich

Wenn er die Masken zusammengenäht hat, werden sie umgelegt und mit der Kettelmaschine bearbeitet. Inhaber Brunsberg hat extra für die Masken zwei Kettelmaschinen für jeweils 1500 Euro gekauft. Kettelmaschinen sind automatisierter und haben mehr technische Möglichkeiten als übliche Nähmaschinen, zum Beispiel Absaugevorrichtungen.

Sie sind flexibler einsetzbar. Nach der Überarbeitung mit der Kettelmaschine werden die Gummibänder auf die Maske genäht. Vier bis fünf Minuten dauert es, wenn man alle Teilprozesse addiert, um eine Maske bei Bagjack zu produzieren.

Vier bis fünf Minuten dauert die Produktion einer Maske.
Vier bis fünf Minuten dauert die Produktion einer Maske.
© Kitty Kleist-Heinrich

300 bis 500, maximal 1000 Masken werden sie hier in der Halle am Tag produzieren. Bei einem Auftrag bis Jahresende könnten sie die Produktionskapazitäten stark erhöhen und 5000 Masken am Tag produzieren, sagt Brunsberg. Dafür würde er noch 20 weitere Menschen einstellen. Bei einem noch längeren öffentlichen Auftrag könnte Bagjack auch die Prozesse automatisieren. Erst dann würde sich die Produktion für das Unternehmen auch wirtschaftlich lohnen.

Doch der Auftrag gilt zunächst nur bis Juni. „Vielleicht gibt es danach ja wieder billige Masken aus China, mit den Preisen können wir nicht mithalten.“ Brunsberg muss gut kalkulieren, um mit seiner kurzzeitigen Produktionsumstellung kein Minus zu machen. Das ist nicht nur für ihn schwierig, sondern auch für alle anderen medizinfremden Unternehmen, die ihren Beitrag in der Krise leisten und Schutzmaterial produzieren wollen.

Die meisten von ihnen sind auf politische Aufträge angewiesen. Die Politikerinnen und Politiker müssen versuchen, trotz des sich ständig ändernden Kenntnisstandes vorausschauende Entscheidungen zu treffen, wann und in welchem Umfang Aufträge sinnvoll sind.

In Marzahn ist das Gummiband noch immer nicht entwirrt. Fürs Zuschneiden gibt es natürlich auch Maschinen. So ein Gerät steht auch hier bei Bagjack, ein senkrechter Glaskasten, der an eine Popcornmaschine erinnert, und Gurte für die Taschen zurechtschneidet, Klettbänder oder Reißverschlüsse. Für die schmalen Gummibänder ist sie nicht geeignet. Eine Umstellung wäre möglich, aber nicht so schnell, wie sie produzieren sollen.

Das Entwirren und Aufrollen dieses Gummibandes hat mehrere Tage gekostet.
Das Entwirren und Aufrollen dieses Gummibandes hat mehrere Tage gekostet.
© Kitty Kleist-Heinrich

„Wenn bei der Politik das Interesse besteht, Kapazitäten für Schutzmaterial in Deutschland aufzubauen, dann stehen wir bereit“, sagt Brunsberg. Für sein Unternehmen würde es viel vereinfachen, in Lieferketten aufgenommen zu werden, Prozesse zu automatisieren, vor allem: langfristig planen zu können. Aber wer kann das schon, zur Zeit?

Über seinen Einsatz in der Coronakrise ärgert er sich nicht. „Auch, wenn wir davon nicht wirtschaftlich profitieren, hat sich der Auftrag gelohnt. Ich sehe das als unseren Beitrag, den wir in dieser Krise leisten können.“

Die Masken, die Bagjack in vergleichsweiser kleiner Stückzahl produziert, sind nicht billig und nur für den einmaligen Gebrauch geeignet. „Es gibt auch dumme Kommentare auf Facebook, von wegen solche Firmen wollen sich an der Krise bereichern. Das stimmt nicht. Ich kann darüber nur lachen“, sagt Brunsberg. „Die Leute, die so etwas schreiben, haben keine Ahnung von der Textilproduktion.“

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