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Eine junge Frau führt unter der Anleitung von Thomas Linhart, Arzt, im Corona-Abstrich-Zentrum (CAZ) Neukölln, ein Selbsttest durch.
© Britta Pedersen/dpa

Alle warten auf die Test-Strategie: So bereiten sich Berlins Bezirke auf Coronavirus-Massentests vor

Mit Herzblut und Improvisationskunst ist in Neukölln ein „Coronatest-Drive-in“ entstanden. Während der Bezirk vorbereitet ist, vertrödelt der Senat ein Konzept.

Es hängt viel ab von diesem kleinen Tupfer in ihrer Hand. Die Frau im Auto legt den Kopf in den Nacken, Mund weit auf, „und ruhig an die Scheibe ran, damit ich schauen kann, ob das tief genug war“, sagt der Helfer, blaue Weste, „Pandemiestab Gesundheitsamt Neukölln“ steht hintendrauf. Die Frau führt das Stäbchen tief in den Rachen, links und rechts vom Zäpfchen abstreichen. „Und jetzt probieren Sie es noch mal in der Nase, bitte.“ Stäbchen zurück ins Röhrchen, und fertig.

Ärztin Sina Berenbrinker reicht der Frau einen Zettel durch die einen Spalt geöffnete Fahrzeugscheibe. Der siebenstellige Code verrät ihr in drei Tagen, ob sie an Covid-19 erkrankt ist. Fällt ihr Mund-Nasen-Abstrich positiv aus, meldet sich das Neuköllner Gesundheitsamt sowieso. Die Frau startet den Motor ihres Mazda, „bleiben Sie gesund!“, ruft sie.

41 Menschen werden an diesem letzten Berliner Apriltag im CAZ getestet, auf diesem Parkplatz zwischen den Glasfassaden des Hotel Estrel und dem Neuköllner Schifffahrtskanal. Alle, das ist die gute Nachricht, werden negativ sein. Die schlechte ist, dass viele Berliner den Überblick verlieren, die Bezirke handhaben das Testen teils unterschiedlich, der Senat vertrödelt ein berlinweites Konzept.

CAZ, das steht für Corona-AbstrichZentrum. In der Öffentlichkeit wurde es als „Corona-Drive-in“ bekannt. Für einen Test auf Covid-19 kann man hier im Auto sitzen bleiben, das Ganze dauert wenige Minuten. Hinfahren, Stäbchen rein, rausfahren, fertig. Seit Eröffnung eine Woche zuvor haben Berenbrinker und ihre Kollegen mehr als 300 Tests durchgeführt.

Bis zu 300 Menschen könnten hier täglich durch, wenn es nötig wird, erklärt Sina Berenbrinker. Sie geht davon aus, dass es nötig wird. Sie leitet das CAZ.

Die Freiwilligen machen das alles erst möglich

Berenbrinker, 30, arbeitet als Kinder- und Jugendärztin in Weiterbildung. Seit eineinhalb Jahren ist sie im Neuköllner Gesundheitsamt angestellt. Die junge Ärztin sei ein Glücksfall, sagen Kollegen. Nur zwei Wochen hatte es gedauert von der Idee, ein eigenes bezirkliches Testzentrum zu entwickeln, bis auf dem Schotterparkplatz des Hotel Estrel der erste Abstrich gemacht wurde.

Funknetzwerk. Sina Berenbrinker leitet die Neuköllner Teststelle; die Ärztin sei ein Glücksfall, sagen Kollegen.
Funknetzwerk. Sina Berenbrinker leitet die Neuköllner Teststelle; die Ärztin sei ein Glücksfall, sagen Kollegen.
© Julius Betschka

Berenbrinker arbeitete ein Konzept aus, ein Kollege im Gesundheitsamt organisierte die praktische Umsetzung: Das Technische Hilfswerk baute aus zwei Wassertanks ein Postenhäuschen für die Sicherheitsleute am Eingang, verschraubte Plexiglas und Spanplatten zu Testhäuschen, eine Veranstaltungsfirma sponserte einen knallroten Truck, der als Büro dient. Ohne Schlafentzug, viel Improvisation, die Freiwilligen und die Hilfe der Hotelbetreiber, sagt Berenbrinker, hätte das niemals geklappt.

Da ist zum Beispiel Stefan Siegel, 41, der Psychiater arbeitet in Bayern, hat sich freiwillig gemeldet und erklärt den Menschen, wie der Abstrich vorzunehmen ist. Beate Schmalen, 29, arbeitet normalerweise in der Kulturabteilung des Bezirksamtes. Oder Nenad Henc, 54. Henc ist als Eismeister im Neuköllner Eisstadion angestellt. Jetzt regelt er hier den Einlass. „Aufs Gelände lasse ich nur, wer einen Termin hat“, sagt der kräftige Henc. „Da gibt es keine Ausnahmen.“

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Neuköllns Gesundheitsstadtrat Falko Liecke (CDU) sagt, man wolle durch das CAZ „vor der Lage sein“, sich auf Massentestungen vorbereiten. Dass die Zahl der Infektionen wieder ansteigt, hält Liecke für „sehr wahrscheinlich“. Abstandsgebote werden gelockert, Geschäfte wiedereröffnet.

Wer sich in den Berliner Parks umschaut, sieht wieder Menschen beieinandersitzen, Bier trinken. Es hat Demonstrationen gegeben am Wochenende, am Samstag, dem 9. Mai, war es am Sowjetischen Ehrenmal im Ost-Berliner Treptower Park so voll wie wohl nie in den vergangenen 30 Jahren.

Teste, Testen, Testen - aber wie?

Ärztin Berenbrinker sagt: „Die schnellen Öffnungen machen mir Sorgen.“ Die Reproduktionszahl, die Rate, wie viele Menschen ein Coronainfizierter durchschnittlich ansteckt, stieg am Wochenende nach längerer Zeit wieder auf mehr als eins. Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) hatte deshalb vergangene Woche einen Kurswechsel ausgegeben: „Unser Motto ist testen, testen, testen.“

So sollen Infektionsketten schnell nachvollzogen, Ausbruchsherde rasch erkannt werden. Die Kapazitäten dafür gebe es mittlerweile, sagt Berlins oberste Seuchenbekämpferin, das liegt auch an Orten wie dem CAZ. Aber gibt es auch eine Strategie dahinter oder testet in Berlin jeder, wie er will?

Die Teststellen der Bezirke wurden von der Senatsgesundheitsverwaltung anfangs skeptisch betrachtet. Zu einer gemeinsamen Teststrategie von Bezirken und Land gehören sie nicht. Der Sprecher der Gesundheitsverwaltung sagt mittlerweile aber, dass man die Angebote der Bezirke „positiv“ sehe.

Die in Neukölln getestete Frau im Mazda hat ihren Wagen, braun-metallic, am Ausgang des Test-Drive-ins gestoppt. „Puh, das war unangenehm“, sagt sie. Ihre Augen sind leicht gerötet, der Würgereiz vom Stäbchen. Sie arbeite in einem Neuköllner Pflegeheim, sagt sie, es habe dort einen Coronavirus-Fall gegeben. Weil sich Heime wie dieses zur Todesfalle für alte Menschen entwickeln können, hat der Bezirk beschlossen, einen „Nulltest“ zu machen. Alle 260 Mitarbeiter und Bewohner werden nun getestet.

Das Testdickicht in Berlin wächst

Normalerweise läuft es hier in Neukölln so: Wer ins Abstrichzentrum will, meldet sich telefonisch beim Neuköllner Gesundheitsamt. Laufkundschaft ist nicht erlaubt, nur Menschen, die in Neukölln leben oder in Pflegeeinrichtungen, Krankenhäusern oder bei Polizeiabschnitten im Bezirk arbeiten.

Am Telefon wird dann entschieden, ob die Leute in das Abstrichzentrum kommen können, das ist im Auto möglich, zu Fuß oder mit dem Fahrrad. „Ich find’ das super“, sagt die Frau aus dem Pflegeheim. „Ich wüsste gar nicht, wie man sonst an einen Test kommen soll.“

Wie ihr geht es vielen in Berlin. Es gibt mittlerweile Dutzende Teststellen in der Stadt – wer darf wohin und wann kann man sich überhaupt auf Sars-Cov-2 testen lassen? Acht Krankenhäuser sind offiziell Teststellen. Aber die Fotos von langen Schlangen vor den weißen Zelten der Charité und volle Warteräume haben sich vielen Berlinern eingebrannt. Längst funktioniert das Testen aber auch dort mit Voranmeldung, gut organisiert. Die kassenärztliche Vereinigung hat mehr als 20 Covid-19-Schwerpunktpraxen definiert.

Hinfahren, Stäbchen rein, rausfahren. Berlins Bezirke Mitte und Neukölln bieten Drive-ins an, um sich auf das Coronavirus testen zu lassen. Hier beim Test auf dem zentralen Festplatz in Mitte.
Hinfahren, Stäbchen rein, rausfahren. Berlins Bezirke Mitte und Neukölln bieten Drive-ins an, um sich auf das Coronavirus testen zu lassen. Hier beim Test auf dem zentralen Festplatz in Mitte.
© Davids/Sven Darmer

Überall gilt: vorher anrufen. Zeitgleich mit Neukölln hat auch der Bezirk Mitte einen Test-Drive-in auf dem Zentralen Festplatz im Ortsteil Wedding installiert – hier halfen Schausteller –, der Bezirk Reinickendorf hat mittlerweile ebenfalls eine Anlaufstelle errichtet. In Mitte, in den Ministergärten im Regierungsviertel, hat eine private Teststelle aufgemacht.

Dort kann sich jeder für 60 Euro einen Antikörpertest erkaufen. Die einen nennen das Wildwuchs, die anderen sprechen von einem „erfreulichen Pluralismus“.

Langsam kommt die Routine

Sina Berenbrinker sitzt im roten Anhänger, den blauen Mund-Nasen-Schutz ins Gesicht gezogen. Es regnet. Am Abend zuvor kamen die Männer vom Technischen Hilfswerk. Berenbrinker: „Unsere Retter“. Mit Euro-Paletten zogen sie einen Boden in die Testzelte ein, sonst stünden die Helfer jetzt im Schlamm. „Langsam kommt aber die Routine“, sagt die Ärztin. Nur einen Drucker gebe noch immer nicht.

Ihr roter Anhänger sei kein offizieller Arbeitsplatz der Berliner Verwaltung, deshalb hätten sie zwar einen Laptop vom Bezirk bekommen, auch eine Heizung hat Gesundheitsstadtrat Falko Liecke organisieren lassen. Aber dem Drucker stehen Verwaltungsvorschriften des Landes Berlin im Weg. Berenbrinker fährt deshalb jeden Morgen vor Dienstbeginn mit dem Fahrrad zum Gesundheitsamt im Süden Neuköllns, holt dort Namenslisten ab und radelt wieder zur Teststelle.

Zwei Frauen kommen beim Corona-Abstrich-Zentrum (CAZ) Neukölln an. Nenad Henc (rechts) weist sie ein.
Zwei Frauen kommen beim Corona-Abstrich-Zentrum (CAZ) Neukölln an. Nenad Henc (rechts) weist sie ein.
© Britta Pedersen/dpa

Durchs Walkie-Talkie knarzt die Stimme von Eismeister Nenad Henc. „Das ist der vorletzte heute.“ Einer, der sich für diesen Tag nachgemeldet hat. Weil die Infektionslage gerade ruhiger ist, bekommt man in Neukölln noch für den gleichen Tag einen Termin. Im Bezirk gibt es zurzeit nur einstellige pro Tag.

In den ersten Tagen, erzählt Berenbrinker, habe es aber schon den ein oder anderen Zwischenfall gegeben. Menschen hätten versucht, sich einen Test zu erschummeln. „Die kamen am ersten Tag und sagten, sie hätten einen Termin“, erzählt die Ärztin und lacht. „Da war die öffentliche Terminvorgabe noch gar nicht gestartet.“

Sie werden beschimpft, sind Schuld an allem

Am zweiten Tag habe eine Frau die Helfer am CAZ beschimpft, sie sei Altenpflegerin und müsse sich jetzt sofort testen lassen. Berenbrinker habe ihr erklärt, dass sie später mit einem Termin wiederkommen könne. „Die Frau ließ sich nicht beruhigen“, sie sei mit der Drohung verschwunden, nun alle ihre Kollegen anzustecken, jaja, das habe man nun davon, das sei dann auch nicht ihre Schuld.

Berenbrinker schüttelt den Kopf. „Es muss noch besser kommuniziert werden, dass es viele andere Orte gibt, um sich testen zu lassen.“ Aus mehreren Bezirken hört man das: Die Kommunikation der Gesundheitsverwaltung müsse besser werden. Man wolle die Lage nicht wieder so eskalieren wie Mitte März, als alle Amtsärzte in einem Brief an Senatorin Kalayci die Absage aller Veranstaltungen forderten.

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Dilek Kalayci kündigte an, künftig sollten alle Menschen mit Covid-19-Symptomen getestet werden; ebenso alle Kontaktpersonen von bestätigten Fällen. Von einer „sehr deutlichen Erweiterung“ der Tests sprach sie. Die Laborkapazitäten geben das mittlerweile her, mehr als 57 000 Tests pro Woche sind möglich, durchgeführt wird nur etwas mehr als die Hälfte.

Bezirke tragen die Kosten für die Tests selbst

Vor Wochen soll Kalayci ein Testkonzept angekündigt haben, geliefert hat sie bislang ein vierseitiges Stichpunktepapier. Von einer wirklichen Strategie sei das weit entfernt, kritisieren linke und grüne Gesundheitspolitiker. „Wir reden über Bereiche, die sich schon bald zu Infektionsherden entwickeln können“, sagt Catherina Pieroth, gesundheitspolitische Sprecherin der Grünen. „Dass noch immer Konzepte für systematische Tests fehlen, entsetzt mich.“

Neuköllns Amtsarzt Nicolai Savaskan sagt, es brauche nun eine landesweite Teststrategie. Die Bezirke untereinander kommunizierten bereits miteinander. „Wir wollen gleich agieren, nur dann sind die Ergebnisse auch vergleichbar“, sagt Savaskan.

Bislang kommen die Berliner Bezirke selbst für ihre Teststellen auf. Das sei für eine Zeit lang tragbar, weil viel Material gespendet wurde, Freiwillige den Aufbau übernahmen, heißt es aus Neukölln und Mitte. Die Finanzierung der Tests selbst ist – neben ihrer Verfügbarkeit – das größte Problem. Die Krankenkassen wollen für Testungen von Symptomlosen nicht bezahlen, auch nicht für die aus den Alten- und Pflegeheimen.

Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) strebt an, die Krankenkassen per Gesetz zur Finanzierung der Tests zu verpflichten. Am Donnerstag soll im Bundestag darüber entschieden werden.

Warten auf das angekündigte Konzept

Mittlerweile ist das Neuköllner Team von Ärztin Berenbrinker so eingearbeitet, dass sie den Rhythmus der Tests von einem Zehn- auf einen Fünf-Minuten-Takt verkürzt haben. „Wenn jemand, der Symptome hat, heute sagt, er hat nicht die Chance, einen Abstrich zu machen, dann stimmt das nicht“, sagt sie. „Wir haben noch gute Kapazitäten nach oben.“ Neukölln ist vorbereitet.

Und Berlin? Kalaycis Vorlage zufolge sollen – neben Symptomträgern und deren Kontaktpersonen, die laut Robert Koch-Institut ohnehin getestet werden müssen – künftig auch Menschen getestet werden, die in Pflegeheimen oder Einrichtungen für Behinderte aufgenommen werden. Angekündigt wird ein „Konzept“, wonach pro Bezirk vier Pflegeeinrichtungen durchgetestet werden sollen. Insgesamt 48 Heime wären das – rund 600 gibt es in Berlin.

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