Streit in der Koalition um Corona-Eindämmung: Grüne kritisieren fehlendes Test-Konzept – Kalayci „stinksauer“
Schulen und Kitas sollen sich weiter öffnen, um ein angekündigtes Konzept für systematische Coronavirus-Tests gibt es Streit. Vor allem SPD und Grüne beharken sich.
Am vergangenen Montag ging Berlins Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) in die Offensive: „Testen, testen, testen“ laute das Motto für die Corona-Eindämmung in den kommenden Wochen, erklärte Kalayci im Gesundheitsausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses.
Sie kündigte an, künftig sollten alle Menschen mit Covid-19-Symptomen getestet werden; ebenso alle Kontaktpersonen von bestätigten Fällen, auch wenn sie keine Krankheitsanzeichen aufwiesen. Von einer "sehr deutlichen Erweiterung" sprach die Senatorin und versuchte damit offenbar den Unmut zu lindern, der sich zuletzt vor allem beim Koalitionspartner Grüne, aufgestaut hatte.
Der Schuss ging nach hinten los. Weil Kalayci wesentliche Details schuldig blieb und auch nach der tags darauf anberaumten Senatssitzung über die Ausweitung der Testzahlen keine wirkliche Teststrategie präsentiert wurde, wird die Kritik an der Senatorin nun auch persönlich geäußert.
Grüne "entsetzt" über fehlendes Konzept für Tests
Catherina Pieroth, gesundheitspolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion, moniert, dass Kalayci ein Konzept zwar seit Wochen ankündige, aus ihrer Sicht aber nicht liefere.
Mit Blick auf die Lockerungen in vielen Lebensbereichen und die nahende Rückkehr vieler Kinder in Schulen und Kitas sagte Pieroth dem Tagesspiegel: „Wir reden über Bereiche, die sich schon bald zu Infektionsherden entwickeln können. Dass noch immer Konzepte für systematische Tests fehlen, entsetzt mich.“
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Wolfgang Albers, gesundheitspolitischer Sprecher der Linksfraktion und Vorsitzender des Gesundheitsausschusses, pflichtete ihr bei und erklärte: "Die Senatorin hat kein Konzept, auch wenn das mehrfach angekündigt wurde. Ich kann die Kritik der Grünen schon verstehen." Er schränkte ein, auch diese hätten bis dato keine ihm bekannten Konzepte geliefert.
Kalayci: Selbstverständlich gebe eine Strategie
Kalayci wiederum, seit Ausbruch der Krise unter Hochdruck und immer wieder mal - vor allem aus dem Lager der Grünen - in der Kritik, reagierte pikiert. Selbstverständlich gebe es eine Strategie, erklärte sie und fügte hinzu: "Wir haben das alles am Dienstag im Senat besprochen."
Berlin sei im Verglich zu anderen Bundesländern "wirklich sehr weit" und die Gesundheitsverwaltung "sehr sehr schnell". Alle Mitglieder gefährdeter Gruppen jeden Tag zu testen sei "illusorisch", erklärte Kalayci noch und wies grundsätzlich darauf hin, dass Tests eine Momentaufnahme bedeuteten. Wer heute negativ getestet werde, könne am Tag darauf schon infiziert sein, sagte die Senatorin und stellte damit indirekt den Sinn und Zweck von Tests grundsätzlich in Frage.
Hin zu kommt: Kalayci widersprach sich gleich mehrfach selbst: Nachdem sie die am Dienstag im Senat besprochene Vorlage zunächst als Strategie bezeichnet hatte, sagte sie wenig später, diese sei "im Werden". Ganz ähnlich hatte sich ihr Sprecher Moritz Quiske Stunden zuvor geäußert.
Die Strategie werde „gerade erarbeitet“ und „in nächster Zeit und so schnell wie möglich“ vorliegen, sagte Quiske. Aus dem Umfeld Kalaycis hieß es, diese sei "stinksauer" ob der öffentlichen Kritik der Grünen. Zu dem Vorwurf, der Senat habe sie erstmals vor zwei Wochen mit der Erarbeitung eines Konzepts beauftragt, schwieg Kalayci.
Michael Müller ohne Zeitplan für systematische Tests
Den Druck auf die Senatorin eher noch erhöhen dürfte ein Interview des Regierenden Bürgermeisters Michael Müller (SPD) im „Inforadio“ am Donnerstagmorgen. Nach dem mehrfach angekündigten Konzept systematischer Tests in Pflegeheimen sowie Kitas und Schulen gefragt, blieb Müller einzig der Verweis auf die angekündigte Steigerung der Testzahlen, unter anderem für medizinisches Personal, aber auch Beamte von Feuerwehr und Polizei.
Auf die Frage nach flächendeckenden Tests in Bereichen wie Pflegeheimen oder Kitas und Schulen sagte Müller: "Das kann ich Ihnen jetzt auch nicht sagen, wann wir dafür die Möglichkeiten haben, das flächendeckend überall zu machen."
Klar ist: Von einer systematischen Strategie – insbesondere für Pflegeheime sowie Kitas und Schulen – war die am Dienstag vorgelegte Besprechungsunterlage Kalaycis weit entfernt. Dem Papier zufolge sollen - neben Symptomträgern und Kontaktpersonen - zunächst Menschen getestet werden sollen, die neu in Pflege-, Behinderteneinrichtungen oder vergleichbare Einrichtungen aufgenommen werden.
Über den Umgang mit dort bereits lebenden Menschen wurde keine Aussage getroffen. Angekündigt wird stattdessen ein "Konzept", wonach pro Bezirk vier Pflegeeinrichtungen komplett durchgetestet werden sollen. Berlinweit gibt es rund 600 Pflegeheime.
Hinzu kommt: Beschäftigte in den Einrichtungen, in Krankenhäusern oder auch bei Rettungskräften sollten nicht systematisch getestet werden, solange sie keine Symptome zeigten. Beschäftigte mit Kontakt zu Covid-19-Patienten wiederum sollten sich „nach einmaliger Anleitung“ selber testen – ein Einfallstor für falsche Tests und verfälschte Ergebnisse.
Für die Kitas wurde mit Tests für 12.000 Mitarbeiter kalkuliert – einem Drittel aller Beschäftigten. Der Bereich Schule, ab der kommenden Woche kehren zahlreiche Lehrer und Schüler zurück in die Klassenräume, fehlt in dem Papier völlig. Angekündigt wird stattdessen eine Studie, für die Schüler wie Lehrer per Abstrich und Antikörpertest auf aktive oder überstandene Infektionen untersucht werden sollen.