Auf Tour mit dem SPD-Vorsitzenden: Sigmar Gabriels Ausflug ins Private
In seiner Heimatstadt kennt er jede Freske. Wenn Sigmar Gabriel durch Goslar führt, bleiben kaum Zweifel: Er will das ganze Land. Doch wenn Gabriel den September übersteht, fangen die Probleme erst richtig an.
Die Aussicht ist großartig, bloß das Wetter – na ja, sozialdemokratisch eben: trübe mit gelegentlichen Niederschlägen. Aber trotzdem, der Blick vom Rammelsberg auf Goslar, die alte Kaiserstadt, und dann weiter übers wellige Harzvorland bis nach Braunschweig ... wenn Sie genau hingucken, sagt Sigmar Gabriel, dann können Sie da hinten unser Haus sehen. Die Familie ist dort vor vier Jahren hingezogen, ein ehemaliger Aussiedlerhof am Stadtrand. Solche haben sie nach dem Krieg den Flüchtlingen zugeteilt, Bauern aus Ostpreußen oder Schlesier waren das in dieser Gegend meistens. Er kennt sich gut aus mit der Geschichte, weil er hier geboren ist. Oder soll man besser sagen: trotzdem? „Wir sind Flüchtlinge“, sagt Gabriel. Er erzählt das ohne Betonung wie nebenbei, deshalb fällt einem die Gegenwartsform erst nachträglich auf: Er hat nicht „waren“ gesagt. Sondern „sind“.
Mit dem Blick ins Private bezwecken Politiker meist etwas
Politiker privat ist immer eine heikle Angelegenheit. Einerseits wüsste man als Wähler und als durchschnittlich klatschsüchtiger Journalist schon gerne, was an normalem Leben hinter den Damen und Herren steckt, die sonst in Kostüm und Anzug Politikersätze drechseln. Andererseits gerät jeder, der sich ins Private schauen lässt, sofort in den Verdacht, dass er etwas damit bezweckt.
Der Verdacht ist oft berechtigt. Angela Merkel hat ihren letzten Bundestagswahlkampf praktisch mit privaten Dönekes gewonnen. Was die Kanzlerin auf den Marktplätzen politisch zu sagen hatte, weiß heute kein Mensch mehr – aber dass ihr Mann über zu wenig Streusel auf dem selbstgebackenen Kuchen meckert!
Bei Gabriel haben vor drei Jahren alle Beobachter aufgemerkt, als er dem „Zeit“-Journalisten Bernd Ulrich seine Kindheit erzählte. Eine grausige, tief traurige Geschichte ist das von einem kleinen Jungen aus kleinen Verhältnissen mit einem brutalen Vater, der obendrein ein unbelehrbarer Nazi blieb bis ins Grab.
Diesmal mach’ ich euch den Kanzlerkandidaten!
Die Geschichte wurde 2013 zu einem Zeitpunkt publik, als sich viele fragten, ob der vom Start weg angeschlagene Kanzlerkandidat Peer Steinbrück nicht besser gleich wieder geht und der SPD-Chef einspringen muss. Vielleicht war der Termin auch bloß Zufall. Das Buch zur Geschichte ist jedenfalls bis heute nicht erschienen. Dafür tauchten Gabriel und seine Frau Anke vor fünf Wochen in der „Bunten“ auf. Das war garantiert kein Zufall. Die Wartezimmer-Leserschaft weiß seither nicht nur, dass die Zahnärztin die 3000 Quadratmeter Garten selbst pflegt, sondern erfuhr auch, dass ihr Mann in den Wochen davor „nicht eine Sekunde“ ans Hinwerfen gedacht habe. Letzteres war zwar blanker Quatsch, unterstrich aber die Botschaft: Diesmal mach’ ich euch den Kanzlerkandidaten!
Und nun also: Sommerreise mit Pressebegleitung. „Goslar hat der Dünow sich ausgedacht“, sagt Gabriel vorsichtshalber am Treffpunkt vor der Kaiserpfalz, einem imposanten Steinklotz, ab dem Jahre 1050 von diversen Heinrichen erbaut. Tobias Dünow ist Gabriels Sprecher. Als er neulich vom Wirtschaftsministerium ins Willy-Brandt-Haus wechselte, zogen die Auguren wieder die Augenbrauen hoch: Sieh an, das Kandidaten-Vorauskommando! Also, der Dünow war’s.
Dabei müsste sein Chef sich gar nicht entschuldigen. Die Sommerreise ist der Termin im politischen Jahreslauf, der den Ausflug ins Private erlaubt. Und außerdem gäbe Sigmar Gabriel einen großartigen Stadtführer ab. Er kann die Kleinigkeiten erklären auf den Fresken im Kaisersaal – Kaiser Heinrich vor Canossa ist nur klein und schwarz-weiß zu sehen, weil den erzprotestantischen Preußen der Kniefall vor dem Papst nicht in die frisch aufgelegte Erzählung vom tausendjährigen Deutschen Reich passte.
Hier protestierte er gegen Strauß, riskierte den SPD-Rauswurf
Stadtführer Gabriel kann zugleich die großen Linien ziehen von den Wandbildern aus dem 19. Jahrhundert hin zur düsteren Verklärung des Dritten Reichs. Und zwischen alledem lässt er den rebellischen Juso Sigmar umherwuseln. Der hat vorn auf der Wiese gegen Franz Josef Strauß demonstriert, woraufhin man ihm den Ausschluss androhte, weil die SPD aus Angst vor bösen „Bild“-Schlagzeilen einen Anti-Anti-Strauß-Demo-Beschluss gefasst hatte. Der hat auch gegen die Veteranentreffen der Waffen-SS protestiert – „800 bis 1000 Leute, bis in die 80er ging das“, sagt er. „Aber wir waren die ’Nestbeschmutzer’, nicht die!“
Man muss dazu wissen, dass für ein Nachkriegskind der Generation ’59 dieses Goslar so ungefähr der übelste oder, je nachdem, der ideale Ort war zur Entwicklung von Widerspruchsgeist. Um die Ecke liegt Bad Harzburg, wo Industriegrößen sich mit Hitler zur „Harzburger Front“ verbündeten. Die Regierung von Braunschweig hat, als erste „braune“ in der Weimarer Republik, den Österreicher eingebürgert. Nach dem Krieg kamen die Vertriebenenverbände mit ihren Wir-wollen-alles-wiederhaben-Reden.
Der kleine Sigmar hat bei den Schlesiertreffen im Akkordeonorchester gespielt. Der große Sigmar sagt, dass er später gelernt hat zu unterscheiden zwischen den Kraftsprüchen der Funktionäre und dem echten Heimatgefühl der Menschen.
Heimat ist Gabriel wichtig. Er kennt hier jedes Haus und seine Geschichte, besser als die Ureinwohner. Der Flüchtling, selbst noch das Flüchtlingskind muss sich Heimat aneignen, die eigene genau so wie die alte. Die Mutter kam aus Ostpreußen, da war er öfter. Nächste Woche will er zum ersten Mal nach Jelenia Gora. Im früheren Hirschberg im Riesengebirge ist der Vater geboren. Der Prügler, Sadist, Nazi. Und trotzdem.
Im vertraulichen Gespräch geht's nur um die Gegenwart
Wir könnten jetzt noch lange weiter erzählen vom Juso Sigmar oder von der Verblüffung des Vertriebenenchefs Herbert Hupka, dass der SPD-Ministerpräsident von Niedersachsen das Kampfblatt der Riesengebirgler namens „Bergwacht“ kannte, oder darüber, dass der SPD-Vorsitzende, Vizekanzler und Wirtschaftsminister sich im Urlaub ausgerechnet hat, dass er im Schnitt pro Woche gerade mal 20 Stunden daheim bei Frau und Töchterchen ist – wenn also nicht genau in diesem Moment der schon erwähnte Tobias Dünow gesagt hätte: Nun schalten wir bitte die Mikrofone ab und gehen rein ins Restaurant „Maltermeisterturm“ zum Hintergrundgespräch. Das ist vertraulich, weshalb für den Leser hier leider der Vorhang runtergeht. Nur so viel: Man landet da abrupt in der Gegenwart.
Die Gegenwart fühlt sich für Sigmar Gabriel nicht erfreulich an. Der erste Teil der Sommerreise führte nach Mecklenburg-Vorpommern. Der SPD droht bei der Landtagswahl am 4. September nicht nur die Abwahl des Ministerpräsidenten Erwin Sellering, sondern schlimmstenfalls der Platz hinter der AfD. Dagegen kann auch ein urlaubsgebräunter und gut gelaunter Bundesvorsitzender wenig ausrichten. Dass Angela Merkels CDU-Heimatverband ebenfalls zittert, ist kein Trost. Bei den drei Landtagswahlen im Frühjahr hat Malu Dreier in Rheinland-Pfalz die SPD und ihren Chef gerettet. Diesmal muss er selber ran.
Der 4. September wird also absehbar kompliziert, zum Ausgleich wird der 5. September schwierig. Genau am Tag nach der Wahl sollen die Delegierten eines SPD-Konvents über das Freihandelsabkommen Ceta abstimmen. Freihandelsabkommen sind schwer in Verruf geraten auf der linken Seite des Parteienspektrums, seit sie nicht mehr mit irgendwelchen Wirtschaftszwergstaaten verhandelt werden, sondern mit mächtigen, durchsetzungsfähigen Ländern wie den USA oder eben Kanada.
Scheitert Ceta, kann er als Wirtschaftsminister aufhören
Gabriel will Ceta. Er ist als Wirtschaftsminister angetreten um zu beweisen, dass ein Sozi soziale Marktwirtschaft kann. Die Energiewende hat sich als schwieriges Exempel erwiesen, weil auch Sozialdemokraten aus ihren Häuschen ungern auf Hochspannungsmasten und Windräder gucken. Wenn die SPD ihm das Abkommen mit Kanada verweigert, schließt er das Ministerbüro besser gleich von außen ab.
Aber bei genauerem Hinsehen stehen seine Chancen nicht schlecht. Er hat zwei gute und ein fieses, jedoch wirkungsvolles Argument. Gabriel kann darauf verweisen, dass zu den umstrittenen halbprivaten Schiedsgerichten zwischen EU und Kanada erfolgreich nachverhandelt wurde, und er kann daran erinnern, dass in Ottawa kein böser neoliberaler, sondern ein guter grünlicher Ministerpräsident sitzt. Außerdem konnten die Delegierten des Konvents in den letzten Wochen bei Lektüre der Zeitungen durchaus den Eindruck gewinnen, dass ihnen für ein Ja zu Ceta ein Nein zu TTIP winkt – dem vollends verschrieenen Abkommen mit den USA. Selbst der Termin direkt nach dem Wahlsonntag muss kein Nachteil sein. So masochistisch ist womöglich nicht mal die SPD, dass sie sich erst vom Wähler ein blaues Auge hauen lässt und dann das zweite selber malträtiert.
Wenn der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel also den 5. September heile übersteht – na gut, dann wird es zur Abwechslung mal schwierig. Nicht wegen dieser peinlichen Geschichte mit der Ministererlaubnis im Fall Edeka/Tengelmann, sondern ab da dann ganz generell.
Die Ministererlaubnisgeschichte ist zu Gabriels Glück relativ kompliziert. Es geht um Fragen des Verwaltungsverfahrensrechts wie die, ob ein Minister sich in einem kartellrechtlichen Ministererlaubnisverfahren wie ein Minister verhalten darf oder wie ein Beamter handeln muss. Im ersten Fall hätte er mit Vertretern des Einzelhandelsmultis Edeka über den Kauf von Kaisers/Tengelmann vertraulich reden dürfen, im zweiten wären das unzulässige „Geheimgespräche“ gewesen, wie das Oberlandesgericht Düsseldorf urteilte. Bis das ausprozessiert ist, kann dauern. So lange kann der SPD-Chef hemdsärmelig behaupten, er habe gar nicht anders handeln können, um tausende Arbeitsplätze zu retten.
Angela Merkels Schwäche bringt der SPD keine Erfolge
Nein, die Schwierigkeit, die dann folgt, ist von ganz anderer Größenordnung. Die SPD braucht einen Kanzlerkandidaten, ob sie will oder nicht. Eigentlich muss das der Vorsitzende sein, ob er will oder nicht. Nur weiß die SPD nicht mehr so richtig, ob sie ihn will oder nicht.
Das Problem hat zwei Dimensionen. Die eine heißt Angela Merkel. In einem Personenwahlkampf ist eine amtierende Bundeskanzlerin gegen jeden Herausforderer im Vorteil, es sei denn, die Leute wären sie leid. Nun schwebt Merkel nicht mehr über allen Wassern. Der krasse Absturz in ihren Beliebtheitswerten nach der Woche der Anschläge zeigt es ja überdeutlich. Ob das nur die Antwort auf ihre unterkühlte Reaktion auf Amok und Terror ist oder der Ansehensverlust nachhaltig bleibt – keiner weiß es.
So oder so hilft Merkels Schwäche der SPD aber nicht. Die Leute laufen nicht zu ihr über, und in die Kerbe reinhauen können die Sozialdemokraten auch nicht. Die SPD ist sogar die einzige Partei, die das nicht kann. Selbst die Grünen gehen auf Oppositionsdistanz. Nur die Regierungspartei SPD ist an eine Flüchtlingspolitik gebunden, die auch ihre ist.
Die zweite Dimension des K-Problems heißt Sigmar Gabriel. Donnerstagnachmittag sitzt er im Berufsschulzentrum von Peine in einer kleinen Arena, einer Art betongewordenem Stuhlkreis. Schüler fragen, Politiker antwortet – Türkei, Erdogan, Flüchtlingsdeal. Die Antworten sind vizekanzlerisch. Nein, kein Abbruch der Kontakte: „Wenn Erdogan demnächst nur noch Wladimir Putin als Kumpel hat, wird’s nicht besser.“
Aber aus dem Augenwinkel hat er die ganze Zeit schon den Libanesen vorne links mit der Basecap beobachtet. „Du bist doch unzufrieden!“ Der Junge druckst. Gabriel lässt nicht locker – trau’ dich, sag’ schon. Es ist, sagt der junge Mann, wegen der Medien und dem ZDF. Wenn so ein Anschlag passiert wie in München. „Es heißt immer am Ende: Moslem, Flüchtling, Terrorist!“ Ein zweiter Schüler sekundiert: Immer wird der Islam in den Dreck gezogen, wo doch im Koran, in seinem Koran nichts davon stehe, dass man töten solle!
Wenn alles schief geht, bleibt noch: Lehrer
Gabriel sagt, dass er das auch findet, und hält ansonsten dagegen. Dass der „Islamische Staat“ die Religion missbrauche, aber dass man auch nicht sagen könne, Terror habe mit Islam gar nichts zu tun. Dass man nach Nizza auch in München erst mal an Islamisten gedacht habe – „is’ doch logisch!“ Und dass man den deutschen Medien nun wirklich keine Islamhetze vorwerfen könne. Glaubt ihr nicht? Dann soll doch eure Lehrerin mit euch eine Medienauswertung machen. „Und wenn die fertig ist, dann komm’ ich wieder, und wir diskutieren!“
Der Jungen mit der Basecap guckt immer noch zweifelnd, aber er klatscht dann doch mit. Diese Politiker gewordene Rauflust hat ja auch was! Wenn er gut drauf ist und von sich selbst überzeugt, dann kann dieser Sigmar Gabriel Leute mitreißen und überzeugen wie nur wenige. Nur dass er wenig später vom Gegenteil genau so überzeugt sein kann und noch etwas später von etwas Drittem, weil er eine Chance wittert, ein Gewinnerthema vielleicht, endlich eins ...
Die SPD ist eine ehrwürdige, alte Partei. Manchmal kann sie ihrem Vorsitzenden nicht mehr folgen. Und was dann? Wenn alles schief geht, frotzelt Sigmar Gabriel, könne er sofort zurück in den alten Beruf: Deutsch für Ausländer. Sein Arbeitsvertrag mit dem Bildungswerk der Volkshochschulen Niedersachsen ruht nur. „Aber die wählen jetzt alle SPD, damit ich bloß nicht zurückkomme.“ Na, dann muss er’s ja vielleicht doch wagen.