Der Wirtschaftsminister in Mecklenburg-Vorpommern: Sigmar Gabriel gegen den Wind
In Mecklenburg-Vorpommern stehen Wahlen an. Sigmar Gabriel wird von links und rechts bedrängt, muss verlässlich wirken. Kann das gut gehen?
Sigmar Gabriel hat sich die knallrote Outdoorjacke übergezogen. "Sie passt noch", sagt er zufrieden. Neun Jahre ist es her, als sein Anorak auf einem Foto neben der ebenfalls rotbejackten Kanzlerin berühmt wurde. Angela Merkel und ihr damaliger Umweltminister Gabriel waren auf Grönland, auf einem Polarkreuzer bestaunten sie mit sorgenvoller Miene die Effekte des Klimawandels. Das Foto galt als Symbol für zwei, die sich auch bei eisigen Außentemperaturen gut verstehen, über Parteigrenzen hinweg.
Heute ist Gabriel nicht im ewigen Eis unterwegs, sondern nur im wechselhaften Sommerwetter auf der Ostsee. Die politischen Bedingungen aber sind stürmischer, als sie es damals waren. Gabriel ist inzwischen SPD-Chef und er kann immer noch mit Merkel – kämpfen aber tut inzwischen jeder für sich allein.
Zwei wichtige Landtagswahlen stehen an, Vorboten der Bundestagswahl 2017. In Mecklenburg-Vorpommern wird schon am Ende der Ferien gewählt, am 4. September. Kurz darauf folgt Berlin. Zwei Wahlen im Osten, mit einer eher unberechenbaren Wählerschaft. Die SPD hat zwei Ministerpräsidenten zu verlieren, sie fürchtet ein weiteres Erstarken der AfD und die Reaktion der Wähler in Zeiten von Terrorangst. In den vergangenen Wochen ist eine völlig neue politische Gemengelage entstanden.
Schon im März hatte die SPD wichtige Wahlen in Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt nach historisch schlechten Ergebnissen verloren. In Magdeburg war die Schmach besonders groß, da zog die AfD an den Sozialdemokraten vorbei. Beide Parteien adressieren ähnliche Wählermilieus: Menschen, die nicht viel haben außer ihren Ängsten. Vor Abstieg, vor Überfremdung. Unter SPD-Wählern waren traditionell immer auch Menschen, die mit Fremden fremdeln. Lange konnte die Partei sie auffangen, oder sie wählten eben gar nicht. Und nun?
SPD verliert in Umfrage kräftig
Es liegt nun auch an Gabriel als Vorsitzendem, das Ding zu drehen. Wenn die SPD nicht bald die Erzählung des ewigen Niedergangs überwindet, geht auch die Wahl 2017 verloren. Also bündeln die Genossen ihre Prominenz im Nordosten. Kürzlich präsentierte Arbeitsministerin Andrea Nahles in der Landeshauptstadt Schwerin Pläne für eine Angleichung der Ostrenten auf Westniveau. Auch Sigmar Gabriels traditionelle Pressesommerreise führt in diesem Jahr nach Mecklenburg-Vorpommern.
An Bord der Rostock 7 schippern der SPD-Chef, die Journalisten und Ministerpräsident Erwin Sellering am Montagnachmittag durch den Rostocker Hafen. Der dient der SPD-Landesregierung als Erfolgsgeschichte ihrer 18 Jahre dauernden Regierungszeit. 13.000 Arbeitsplätze hängen am Port, wie der Hafenchef berichtet. Jährlich würden drei Millionen Tonnen mecklenburgisches Getreide in den Iran und nach Saudi-Arabien verschifft. Kreuzfahrtschiffe starten. Das war nicht immer so. Nach der Wende habe der einst größte Hafen der DDR zwei Drittel seines Umsatzes eingebüßt. Und sich dann trotz der Konkurrenz in Hamburg erfolgreich neu erfunden.
Gabriel hört aufmerksam zu. Seine SPD kämpft im Nordosten im Ungewissen. Eine Umfrage bescheinigte ihr im Juni 22 Prozent – einen Einbruch von 13 Prozentpunkten gegenüber der letzten Wahl 2011. Die AfD kommt in dieser Erhebung auf 19 Prozent. Wahlsieger wäre die CDU mit 25 Prozent. Die nächste Meinungsumfrage wird erst Mitte August veröffentlicht, zwei Wochen vor der Wahl. Aber es sind keine guten Vorzeichen für die Sozialdemokraten.
Gabriel hat sich vorgenommen, allen Zweifeln zu trotzen. Gerade war er ein paar Tage im Urlaub mit seiner Familie, auf Sylt und Amrum. Braungebrannt ist er und erholt. Sogleich teilt er den Journalisten seine Meinungen zu aktuellen Themen mit. Zum Beispiel zur Drohung des türkischen Außenministers, den Flüchtlingsdeal mit der EU aufzukündigen: "In keinem Fall darf sich Europa erpressen lassen." Sollte die Türkei beschließen, die Flüchtlinge wieder durchzuwinken, sei Europa "notfalls" stark genug, das zu meistern. Die SPD-Landeschefin Hannelore Kraft hatte kürzlich noch gestanden, sie sei froh, dass die Grenzen geschlossen seien. Sie ist nicht die einzige, die so denkt, die Angst vor einem neuen Anstieg der Flüchtlingszahlen hat. Aber in der SPD wollen sie sich auch nicht Erdoğans Machtspielchen ergeben.
Wir wäre lieber: "Wir machen das"
In Rostock sagt Gabriel, dass Merkels "Wir schaffen das" im Grundsatz weiter richtig sei. Zugleich kritisiert er, das Mantra sei zu wenig gestaltend, lasse viele Fragen offen: "Mir wäre lieber, sie hätte gesagt: Wir machen das." Die Niedersachsen haben so ein Lied, eine inoffizielle Hymne, in der sie sich selbst besingen als "sturmfest und erdverwachsen". Eine Zuschreibung, die dem stolzen Niedersachsen Gabriel wohl auch gefällt. Dazu passt die Sportjacke, die sicherlich nicht zufällig ihren Weg in Gabriels Wahlkampfgarderobe fand. Der SPD-Chef hat sich vorgenommen, Bodenständigkeit, Ruhe und Sicherheit auszustrahlen.
Als geerdet würde er auch sein Verhalten in der Flüchtlingskrise beschreiben. Soziale Sicherheit sei wichtig für alle Bürger, nicht nur für die Flüchtlinge, schrieb er schon im August 2015 in einem Aufsatz für die ZEIT. Man habe angesichts der vielen Zuwanderer eine doppelte Integrationsaufgabe vor sich, müsse auch die besorgten Bürger mitnehmen. Das war, bevor Merkel ihre weitreichende Entscheidung traf, Flüchtlinge aus Budapest nach Deutschland zu lassen. Vieles von der mahnenden Vorsicht, die Gabriel damals thematisierte, ist heute herrschende Meinung. Doch mit ihrem leicht merkelkritischen Kurs hat sich die SPD in der Flüchtlingskrise nicht profilieren können. Sie verschreckte liberale Anhänger – und die Konkurrenz von rechts wuchs.
Jeder Vierte rechtspopulistisch bis rechtsextrem
Wie reagiert die SPD darauf? Die AfD sei keine soziale Partei, sagt Gabriel. Sie benutze die Flüchtlinge als Sündenböcke für ihr reaktionäres Weltbild. Man müsse dem Wähler klar machen, dass es soziale Veränderungen nur mit der SPD gebe. Dass sie die Arbeitslosigkeit in Mecklenburg-Vorpommern gesenkt habe und die Wirtschaft angekurbelt. Dem Land gehe es so gut wie lange nicht, betont auch Ministerpräsident Sellering, wo er kann. "Wenn sich Leistung in der Politik lohnt, muss der Sellering wiedergewählt werden", sagt Gabriel in jede Kamera.
Die Genossen wollen mehr über sich reden und sich weniger von der AfD provozieren lassen. Doch hilft das, vor allem wenn man so grundsolide – manche sagen blasse – Spitzenkandidaten hat wie Sellering an der Küste oder Michael Müller in Berlin? In Mecklenburg-Vorpommern regiert die SPD seit 18 Jahren und der Anteil der potenziellen Protestwähler war lange nicht mehr so groß. Wurden da wirklich alle mitgenommen? Hilft ein schlichtes "Weiter so"?
Ruhe bewahren, Sicherheit vermitteln
Auch sein Gerichtsstreit um die Fusion von Edeka und Tengelmann hängt Gabriel in Rostock nach. Der Vorwurf, er solle in seiner Funktion als Bundeswirtschaftsminister mit Gewerkschaften in Geheimgesprächen gemauschelt haben, werde im Wahlkampf keine Rolle spielen, prophezeit der SPD-Chef vorsorglich. Sein Ministerium prüft rechtliche Schritte. Der Eindruck, hier habe ein sprunghafter Minister die Vorzüge seines Amts für Gefälligkeitsentscheidungen missbraucht, soll schnell entkräftet werden.
Ruhe bewahren, Sicherheit vermitteln. Diese Devise hat Gabriel auch nach den Gewalttaten von München, Würzburg und Ansbach verfolgt. Wo der SPD-Chef sonst oft unter den ersten ist, die sich äußern, hat er sich zurückgehalten und mäßigende Töne angeschlagen. In einem Facebook-Post rief er dazu auf, nichts zu vermischen und keine voreiligen Schlüsse zu ziehen.
Die SPD steht an Merkels Seite und kritisiert die CSU. Die allermeisten Unionsvorschläge zur inneren Sicherheit hält Gabriel für Placebos, Bundeswehreinsätze im Inland für "Unsinn". Die Soldaten dürften der Polizei doch schon längst helfen, wenn es einen Terroranschlag geben sollte. Es sei wichtig, die Freiheit nicht einzuschränken für mehr Sicherheit, sagt Gabriel noch. Es sei nur derjenige sicher, der auch in einem freiheitlichen Staat lebe.
Aber, Herr Gabriel, fragen die Journalisten, wie verkauft man diese Gedanken den Bürgern, die angesichts von Axtattacken und Nagelbomben verunsichert sind? "Fragen Sie mich etwas anderes", antwortet der SPD-Chef. Seufzt freundlich, zieht seine Outdoorjacke glatt und wendet sich ab.
Dieser Text erschien zuerst auf Zeit.de
Von Lisa Caspari