Prozessauftakt im Fall Tugce Albayrak: Sanel M. steht nun vor Gericht - öffentlich verurteilt ist er schon lange
Tugce Albayrak wollte helfen und wurde selbst zum Opfer. Nach ihrem Tod machte das Land sie zur Heldin - und verurteilte Sanel M.. Nun beginnt der Prozess um einen fatalen Streit.
Und dann erträgt sie seine Demütigungen nicht mehr: Hure, Nutte, Schlampe. „Halt endlich die Klappe, du kleiner Hurensohn“, zischt sie zurück. Ein Freund versucht noch, Sanel M. zurückzuhalten. Doch der lässt sich nicht wegdrängen, holt aus. Über die Arme seines Freundes hinweg schlägt er zu, mit der flachen Hand. Trifft Tugce Albayrak im Gesicht. Ihr Körper fällt wie ein Baum zu Boden, der Kopf schlägt auf den Asphalt. Sanel M. und seine Freunde rasen mit einem Auto davon. In einer Blutlache liegt Tugce Albayrak am Boden.
Fünf Monate ist die tödliche Auseinandersetzung auf dem Parkplatz in Offenbach her. Und in dieser Zeit ist der Fall für Macit Karaahmetoglu zu einer persönlichen Angelegenheit geworden. Tugces Leben und ihre Art imponiere ihm, sagt der Stuttgarter Anwalt. Sie sei eine besondere Frau gewesen, die das Klischee der Türkin in Deutschland widerlegt habe und der ein schreckliches Schicksal widerfahren ist. Deshalb habe er den Fall angenommen.
Karaahmetoglu ist ein redseliger Typ, sportliche Statur, 45 Jahre alt. In der türkischen Community gilt er als kleine Berühmtheit. Jahrelang hat er eine Rechtskolumne in der türkischen Tageszeitung Hürriyet geschrieben. Daher kennen ihn Tugces Eltern. Der Anwalt sagt, er gehöre mittlerweile fast schon zur Familie Albayrak. Der Anwalt hat einen Verein gegründet, um Geld für eine Tugce-Albayrak-Stiftung einzusammeln. „Ich will, dass Tugces Mut und Bereitschaft, anderen zu helfen, nie vergessen wird“, sagt Karaahmetoglu. Die Stiftung soll Menschen unterstützen und ehren, die Zivilcourage bewiesen haben.
Das Entsetzen von Tugces Eltern, ihre Trauer hat Karaahmetoglu ganz nah erlebt und versucht zu helfen, wo er konnte. Das Leid nehme Tugces Mutter noch immer alle Kraft. Es sei offen, ob sie sich zutraue, den Prozess persönlich zu verfolgen. Für Karaahmetoglu wäre es eine schwere Niederlage, sollte Sanel M. mit einer Bewährungsstrafe davonkommen. Das gleiche gilt vermutlich für Tugces Familie, die sich bislang allerdings immer sehr besonnen geäußert hat. Man vertraue dem deutschen Rechtsstaat.
Der tödliche Streit beginnt auf der Damentoilette von McDonald’s
Es ist der 15. November 2014, ein Samstag, gegen 3 Uhr in der Nacht, als der tödliche Streit auf der Damentoilette von McDonald’s beginnt. Tugce Albayrak hat in der Panta Rei Bar in Offenbach gefeiert und lässt den Abend mit ihren Freundinnen bei einem Snack ausklingen. Als sie laute Stimmen aus der Damentoilette hört, eilt sie nach Angaben der Staatsanwaltschaft die Treppen hinunter und sieht, wie Sanel M. und zwei Freunde zwei junge Mädchen umringen, die offenbar betrunken auf dem Boden liegen. Tugce fordert die Männer auf, die Damentoilette zu verlassen.
Laut Anklage kommt zum Streit. Tugce und Sanel M. stehen sich Kopf an Kopf gegenüber. Dann tauchen zwei kräftige Männer auf, die Sanel M. und dessen Freunde aus der Damentoilette ziehen. Als Tugce und ihre Freundinnen etwas später vor dem Eingang eine Zigarette rauchen, setzt sich der Streit fort. Sanel M. und Tugce Albayrak beschimpfen sich gegenseitig. Um 4.12 Uhr kommt es laut Ermittler zu dem todbringenden Schlag. Bei dem Sturz bricht hinter Tugces linkem Ohr der Schädel auf einer Fläche von drei mal vier Zentimetern. Sie fällt ins Koma.
Wegen ihrer Zivilcourage, die ihr offenbar zum Verhängnis wurde, nahm das ganze Land Anteil am Schicksal der Lehramtsstudentin aus Gelnhausen. Während der zwei Wochen, die sie im Koma lag und mehr noch, als die Ärzte ihren Hirntod feststellten und sich die Eltern an Tugces 23. Geburtstag entschlossen, die lebenserhaltenden Maschinen abzustellen. Tugce Albayrak starb am 28. November 2014.
Die CDU-Fraktion Offenbach wollte eine Brücke nach ihr benennen
1500 Menschen kommen an diesem Tag zum Krankenhaus, um Abschied zu nehmen. Es gibt Mahnwachen, nicht nur in Offenbach, sondern überall in der Republik. München, Hamburg, Berlin. In der Öffentlichkeit setzte sich schnell die Lesart durch, dass hier eine Heldin gestorben ist. Türkische Medien bezeichneten sie gar als Märtyrerin. Die CDU-Fraktion Offenbach wollte eine Brücke nach ihr benennen, Bundesligastürmer Haris Seferovic widmete ihr sein Tor gegen Dortmund und schließlich forderten 200000 Menschen in einer Online-Petition, Tugce posthum das Bundesverdienstkreuz zu verleihen. Selbst Bundespräsident Joachim Gauck und Kanzlerin Angela Merkel lobten Tugces Einsatz.
Nicht die grausame Tat selbst hatte die Volksseele so aufgebracht, sondern das Gefühl, dass die junge Frau sterben musste, weil sie genau das Richtige getan hatte, weil sie Mut bewiesen hatte. Und wie in jeder Heldengeschichte, gibt es auch in dieser einen Gegenspieler: Sanel M.
An diesem Freitag beginnt nun vor dem Landgericht Darmstadt der Prozess gegen den mutmaßlichen Täter. Sanel M. ist wegen Körperverletzung mit Todesfolge angeklagt. Seit Mitte November sitzt er in Untersuchungshaft. Da bei 18-Jährigen häufig noch das Jugendstrafrecht greift, läge das Strafmaß bei einer Verurteilung zwischen sechs Monaten und zehn Jahren Haft. Viel ist über den 18-Jährigen mit serbisch-montenegrinischem Pass nicht bekannt: in Offenbach geboren, zum Zeitpunkt der Tat arbeitslos und mehrfach vorbestraft.
„Er hat eine gesteigerte subjektive Wahrnehmung und verfügt über eine geringe Empathiefähigkeit“, sagt Anwalt Karaahmetoglu. Das könne man schon an dem Vorstrafenregister von Sanel M. ablesen. „Einmal hat er einem zehnjährigen, unbeteiligten Jungen das glühend heiße Metallteil eines Feuerzeugs in den Nacken gedrückt“, sagt der Anwalt. „Er habe es einfach so getan, ohne besonderen Grund, hat er hinterher der Polizei gesagt.“ Für diese Tat saß Sanel M. 2012 eine Woche im Jugendarrest. Viermal sei Sanel M. in den vergangenen zweieinhalb Jahren verurteilt worden: wegen versuchten Diebstahls, gemeinschaftlicher räuberischer Erpressung, gemeinschaftlichen Versuchs des Diebstahls in einem besonders schweren Fall sowie wegen gefährlicher Körperverletzung.
Bei McDonald’s kreuzen sich in dieser Nacht die Wege von Sanel M. und Tugce Albayrak zum ersten Mal. Sie ist eine hübsche junge Frau mit langen schwarzen Haaren, geboren in Bad Soden-Salmünster. An der Universität Gießen studiert Tugce Deutsch und Ethik auf Lehramt. Statt eine Studentenbude zu mieten, pendelt sie, wohnt weiter bei ihren Eltern und ihren beiden Brüdern in Gelnhausen, wo sie auch aufgewachsen ist. Ihre Freizeit verbringt Tugce mit ihrem Freund, spielt Klavier, feiert gerne.
Wie hat sich der Streit hochgeschaukelt? Wer trägt die Verantwortung für die Eskalation?
Warum Tugce sterben musste, versucht nun das Gericht zu klären. Unstrittig sind eigentlich nur die Augenblicke unmittelbar vor der Tat. Die stummen Mitschnitte einer Überwachungskamera zeigen die Schlichtungsversuche, den Schlag und den Sturz. Gegenüber der Polizei hat Sanel M. seinen Schlag zugegeben. Auch was das heftige Wortgefecht betrifft, decken sich die Zeugenaussagen weitgehend. Die drei Richter und zwei Schöffen werden also vor allem folgende Fragen zu klären versuchen: Wie hat sich der Streit hochgeschaukelt? Wer trägt die Verantwortung für die Eskalation? Woran ist Tugce gestorben? Und: War sich der alkoholisierte Sanel M. den möglichen Folgen seines Schlages bewusst? Zwei Stunden nach der Tat wurden noch 1,4 Promille gemessen.
„Ich gehe nicht davon aus, dass er sich im Klaren darüber war, die junge Frau mit seiner Ohrfeige töten zu können“, sagt Stephan Kuhn, der Verteidiger des Angeklagten. Lange hat der Frankfurter Jurist die Öffentlichkeit gemieden. Er hätte wohl auch kaum etwas zu gewinnen gehabt – zu erdrückend ist aus Kuhns Sicht die öffentliche Vorverurteilung seines Mandanten. Der 38-Jährige arbeitet auch als Nebenklage-Anwalt im Münchener NSU-Prozess.
Sein Mandant sei angesichts des Prozesses sehr angespannt, das Aufeinandertreffen mit der Familie von Tugce belaste ihn enorm. In der Untersuchungshaft habe Sanel M. etliche Morddrohungen erhalten, ein Mithäftling habe ihm die Nase gebrochen. Aus Sicherheitsgründen durfte er nicht am Sportangebot der JVA teilnehmen. Einmal in der Woche konnten ihn seine Eltern und seine zwei kleinen Brüder besuchen.
Anwalt Kuhn kritisiert, dass viele seinen Mandanten nach der Tat sofort als einen jungen Mann ohne jede Perspektive abgestempelt hätten. „Wenn jeder vorbestrafte Jugendliche, der seit drei Monaten keinen Ausbildungsplatz hat, perspektivlos ist, dann sieht es schwarz aus in unserer Gesellschaft“, sagt der Anwalt. Kuhn weiß, dass die Prognose einen nicht geringen Einfluss auf das Strafmaß haben dürfte. „Zwei Tage nach der Tat hätte mein Mandant ein Vorstellungsgespräch für einen Ausbildungsplatz gehabt“, sagt Kuhn. Sanel M. habe gehofft, einmal bei der Post eine feste Stelle zu bekommen.
Unglück oder die fast schon absehbare Tat eines gefährlichen jungen Mannes?
Zehn Verhandlungstage hat die Kammer vorerst angesetzt. Vor dem Gerichtsgebäude wollen Studenten mit einer Mahnwache an die Zivilcourage von Tugce erinnern. Rund 60 Zeugen sowie zwei Gutachter werden vor der großen Strafkammer des Landgerichts Darmstadt aussagen – darunter Freundinnen von Tugce Albayrak, Freunde von Sanel M., Angestellte von McDonald’s, Rettungssanitäter und bereits heute die beiden 14-jährigen Mädchen, die Tugce beschützt haben soll. Die Öffentlichkeit soll während der Aussage der Mädchen aber ausgeschlossen werden.
Der Ort, an dem der Konflikt seinen Anfang genommen hat, liegt im Untergeschoss des Fast-Food-Restaurants. Eine verwinkelte Treppe führt hinunter zu den Toiletten. Die Eingänge für Frauen und Männer liegen direkt nebeneinander. Eine eingelassene Glasscheibe in der Tür erlaubt den Blick in den engen, gut ausgeleuchteten Vorraum mit den Waschbecken.
Gut möglich, dass Sanel M. und zwei Freunde den zwei 14-Jährigen, die sie betrunken auf dem Boden der Damentoilette liegen sahen, zunächst helfen wollten. So behaupten es einige Freunde von Sanel M. Die Freundinnen von Tugce sprechen hingegen von Schreien, die bis hoch ins Restaurant zu hören gewesen seien – der Grund, warum Tugce hinuntereilte, um zu helfen.
Jetzt, da der Prozess beginnt, lastet die Hoffnung der Familie mehr denn je auf Macit Karaahmetoglu. Denn es ist nicht ausgeschlossen, dass das Gericht Tugces Tod als ein großes Unglück bewerten könnte. Als einen Unfall, der ausgelöst wurde durch einen Streit wie er unter Jugendlichen jeden Tag vorkommt. Karaahmetoglu wird versuchen, das Gericht zu überzeugen, dass es sich nicht um ein Unglück handelt, sondern um die fast schon absehbare Tat eines gefährlichen jungen Mannes.
Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.
Arne Bensiek