Wie der Fall Tugce Albayrak die Menschen berührt: Sehnsucht nach Zivilcourage
Ein Mann startet eine Petition, ein Politiker fährt zu einer Beerdigung, eine Studentin organisiert eine Mahnwache – für Tugce Albayrak. Eine junge Frau, die keiner von ihnen kannte. Die Vorbild wurde. Und von der mehr bleiben soll als bloßes Andenken.
Es war der Abend des 26. November, Karl Lempert saß gemeinsam mit seiner Frau vor dem Fernseher. Sie sahen einen Beitrag über eine junge Frau, die sich für andere eingesetzt hatte – und diesen Einsatz mit ihrem Leben bezahlte. An diesem Abend hörte Karl Lempert zum ersten Mal von Tugce Albayrak.
Lempert schrieb einen kurzen Text. Er verlangte, die junge, 22 Jahre alte Frau aus dem Fernsehen mit dem Bundesverdienstkreuz auszuzeichnen, „die junge Frau, die Rückgrat bewiesen hat und eingeschritten ist, als viele weggeschaut haben“, so formulierte er das. Lempert lud den Text auf der Petitionsplattform Change.org hoch. Dann konnte er nur noch staunen. „Ich habe mich gewundert“, sagt er, „dass gleich am Anfang so viele Unterschriften reinkamen.“ Der 49-Jährige erzählt davon am Telefon. Er wohnt in Hannover, weit entfernt von Offenbach, wo Tugce Albayrak nach Tagen im Koma starb.
Innerhalb kurzer Zeit unterschrieben 100 000 Menschen seine Petition, inzwischen sind es mehr als 200 000. Die allermeisten von ihnen kannten Tugce Albayrak nicht.
Die Bundesregierung verkündete, sie unterstütze das Anliegen. Bundespräsident Joachim Gauck sagte, er werde die Sache prüfen.
Symbol für Zivilcourage
Da waren längst in ganz Deutschland tausende Menschen auf die Straße gegangen, um Tugce Albayrak zu gedenken. Sie legten Blumen nieder, hielten Kerzen in den Händen und Schilder. Manche weinten. Die allermeisten von ihnen kannten Tugce Albayrak nicht.
Eine junge Frau wird zu einem Symbol für Zivilcourage und Mut. Ihr Schicksal bewegt Menschen über die Grenzen des Landes hinaus. Dabei weiß bis heute niemand genau, was passiert ist in jener fraglichen Nacht, in der die Lehramtsstudentin Tugce Albayrak offensichtlich einschritt, um anderen zu helfen.
Geht man von den Informationen der Staatsanwaltschaft Offenbach aus und von dem, was Freundinnen von Tugce der Presse erzählt haben, verlief alles folgendermaßen: Es ist die Nacht zum 15. November, auf dem Heimweg von einem Diskobesuch in Frankfurt machen Tugce und ihre Freundinnen bei einem McDonald’s in Offenbach halt. Als sie Hilferufe von der Toilette hören, geht Albayrak ihnen nach. Sie sieht, wie zwei junge, möglicherweise betrunkene Mädchen von drei jungen Männern belästigt werden. Sie greift ein. Andere Besucher kommen ihr zu Hilfe und werfen die jungen Männer raus. Doch die warten vor der Tür, und als Tugce Albayrak und ihre Freundinnen das Restaurant verlassen, gibt es erneut Streit.
Der Täter schweigt
Ein Überwachungsvideo zeigt, wie einer der Männer – der 18-jährige und wie sich im Nachhinein herausstellt: polizeibekannte Sanel M. – aufgebracht über den Parkplatz läuft. Er geht auf die Mädchen zu, ein Freund stellt sich ihm in den Weg. Immer wieder stößt er Sanel M. zurück. Plötzlich steht Tugce Albayrak genau hinter dem Mann, der seinen wütenden Freund zurückhält. Sanel M. schlägt an ihm vorbei und trifft Tugce Albayrak an der Schläfe. Sie stürzt und prallt mit dem Kopf auf den Asphalt.
Ob der Schlag oder der Sturz die Todesursache war, ist nicht geklärt. Sanel M. ist inhaftiert. Den Schlag hat er zugegeben, nun schweigt er. Die beiden Mädchen, die nach Hilfe gerufen hatten, melden sich erst Tage später bei der Polizei. Über sie und das, was sie bezeugen können, ist nichts bekannt.
Doch fast scheint es, als sei es gar nicht mehr wichtig, was sie sagen könnten, was tatsächlich in dieser Nacht geschah.
Bald kennt jeder den Namen Tugce Albayrak
Bald kennt jeder den Namen Tugce Albayrak. Zeitungen drucken Fotos einer hübschen jungen Frau, dunkelhaarig, mit Freundinnen albernd, mit Mütze, mit Schmollmund. „Tapfere Tugce“ lauten die Schlagzeilen, „Tugce die Mutige“ und, als ihre Familie am 23. Geburtstag der Tochter entscheidet, die lebenserhaltenden Maßnahmen zu beenden: „Tugce – für immer eingeschlafen“.
Da hat Karl Lempert schon beschlossen: Das darf es nicht gewesen sein!
Dabei hat Lempert ausreichend eigene Sorgen. Vor einigen Jahren rutschte seine Frau auf dem nassen Boden in einer Toilette aus, stürzte und schlug mit dem Hinterkopf auf. Sie erlitt eine schwere Hirnblutung und ist seitdem rund um die Uhr pflegebedürftig. Für Karl Lempert wäre es nie infrage gekommen, sie in eine Pflegeeinrichtung zu geben. Karl Lempert mag Tugce Albayrak nicht kennen, aber was Empathie ist und Mitgefühl, das weiß er nur zu gut. Etwas, das oft fehlt.
Bis jemand kommt wie Tugce Albayrak. Jemand, der den Menschen Hoffnung gibt. Der zeigt, dass die Gesellschaft eine bessere sein kann. Die Kraft, die solch eine Figur entwickeln kann, beruht nicht auf Fakten oder den Tatsachen eines polizeilichen Ermittlungsberichts. Sie beruht auf Bildern – und Wünschen. Zu solchen Figuren können Menschen wie Tugce nur werden, wenn sie interpretierbar bleiben, wenn jeder Einzelne seine eigene Geschichte in ihnen sehen kann.
"Dann zeigen wir eben hier unseren Respekt "
Nach allem, was man von Tugce Albayrak weiß, war sie eine engagierte Frau. Sie studierte Lehramt für Deutsch und Ethik, war in ihrer Schulzeit Klassensprecherin. Unter ihren Freunden galt sie als eine, die sich einmischt.
„Für mich ist Tugce ein Vorbild“, sagt Dilan Zaza, „wegen dem, was sie getan hat. Weil ich dasselbe auch von anderen Menschen erwarte.“
Dilan Zaza, hellbraune Locken, im blauen Pulli mit Bildern von Burgern, Hotdogs und Pommes drauf, sitzt mit einer Freundin in einem kleinen Café in der Nähe des Oranienplatzes in Berlin-Kreuzberg. Unweit von der Stelle, an der am vergangenen Sonntag eine Mahnwache für Tugce Albayrak stattgefunden hat. Dilan Zaza hat diese Mahnwache organisiert. Sie ist 26 Jahre alt, studiert Soziale Arbeit, und auch sie hat Tugce nie gekannt.
Als Zaza von Albayraks Schicksal erfuhr, wollte sie sofort nach Offenbach fahren, zu der Mahnwache vor der Klinik, in der Tugce im Koma lag. Aber sie konnte nicht weg, also plante sie kurzerhand eine Veranstaltung in Berlin. „Dann trauern wir eben in Berlin, dann zeigen wir eben hier unseren Respekt für Tugce“, sagt sie. Zaza meldete die Veranstaltung bei der Polizei an, postete eine Einladung bei Facebook und schließlich kamen mehr als hundert Menschen.
Ihr Tod war ein Weckruf
Facebook macht es sehr leicht, sich zu engagieren. Hier ein Post, da eine Veranstaltung. So kann sich eine Nachricht, oder eben auch ein Aufruf zur Trauer, schnell verbreiten. Einerseits gut, findet Dilan Zaza, andererseits aber auch problematisch. „Viele tun es nur, um selbst Lob zu bekommen“, sagt Zaza. „Die gehen auf die Straße und posten Sachen über Tugce und man lobt sie und sagt: Du machst was Gutes.“ Zaza will kein Lob von den Leuten. Was die Leute denken, sagt sie, sei ihr egal. „Ich will das Lob von Tugce.“
Der Tod von Tugce Albayrak, „das war ein Weckruf“, sagt der grüne Bundestagsabgeordnete Özcan Mutlu. „Sie hat uns an etwas erinnert, das scheinbar im Alltag oft vergessen wird.“ Dieses Etwas – Mutlu beschreibt es als Sehnsucht. Sehnsucht danach, für jemand anderen da zu sein, aufzustehen und Zivilcourage zu zeigen.
Mutlu ist müde. Es ist der vergangene Mittwoch, er ist in seinem Zugabteil eingenickt, gegenüber sitzt seine 14-jährige Tochter. Die beiden sind früh am Morgen aufgestanden, um ins hessische Bad Soden-Salmünster zu fahren, Tugce Albayraks Geburtsstadt, wo sie an diesem Tag beerdigt wird. Nun sind sie auf dem Rückweg nach Berlin. Özcan Mutlu wollte seine Tochter zuerst nicht mitnehmen, schließlich war es ein Schultag, es würde lange dauern und sehr kalt werden. Aber seine Tochter bestand darauf, und so schrieb er ihr eine Entschuldigung für die Schule. „Meine Tochter hat mir gesagt: Für die Werte, für die du
zur Beerdigung gehst, für diese will und muss ich auch hingehen“, sagt er. „Irgendwie hat mich das stolz gemacht, dass sie mitwollte.“
In türkischen Medien heißt es: Deutschland weint um ein türkisches Mädchen!
Auch Özcan Mutlu kannte Tugce nicht. Von ihrem Schicksal erfuhr er aus der Presse. Als er hörte, dass auf dem Berliner Oranienplatz eine Mahnwache stattfinden sollte, ging er dorthin und stand mit all den anderen in der Kälte. „Nach diesem Sonntag sagte ich mir, ich gehe zur Beerdigung. Das ist das Mindeste, was ich tun kann. Da sein, Anteil und Abschied nehmen.“ Bei der Beerdigung lernte Mutlu Tugces Familie kennen, ihre Eltern und ihre Geschwister. Özcan Mutlu hat selbst zwei Kinder. „Da denkt man schon nach. Was wäre, wenn ich an der Stelle dieser Familie wäre. Ich glaube, das hat viele Menschen mitgenommen.“
Tatsächlich sind an diesem Tag knapp tausend Menschen in die hessische Kleinstadt gekommen, um Tugce Albayrak zu verabschieden. Volker Bouffier, der Ministerpräsident Hessens, ist darunter, ebenso wie Hüseyin Avni Karslioglu, der türkische Botschafter, Kamerateams aus Deutschland und aus der Türkei. Alle sammeln sich im und vor dem Islamischen Kulturzentrum im Örtchen Wächtersbach. Nur ein kleiner Sichelmond auf dem Dach lässt vermuten, dass es sich bei dem unauffälligen Haus um eine Moschee handelt. Hinter dem Gebäude führen Bahngleise entlang. Immer wieder übertönt das Donnern eines vorbeifahrenden Zuges die Stimme des Imams. Ein junger Mann steht am Sarg und spricht in ein Mikrofon: „Wir zeigen ihrer Zivilcourage Anerkennung und Dankbarkeit. Für die Hinterbliebenen soll ihr heroischer Tod eine Lektion werden.“
Innehalten beim Trauerzug
Als anschließend die von der Stadt zur Verfügung gestellten Busse dem Leichenwagen durch die Ortschaft und ins benachbarte Bad Soden-Salmünster folgen, halten viele Leute auf der Straße inne.
Menschen blicken aus den Fenstern oder stehen in den Haustüren. Einige filmen mit ihren Telefonen, andere nehmen ihre Kinder in den Arm. Ein alter Mann fährt im Rollstuhl auf den Bürgersteig und winkt den Bussen. Und in türkischen Medien heißt es: Deutschland weint um ein türkisches Mädchen!
„Es gab ja in der Geschichte der Bundesrepublik oft Opfer mit Migrationshintergrund. Mit denen haben sich wenige solidarisiert“, sagt Mutlu. Dass dies nun bei Tugce so anders gewesen sei, das habe ihn positiv überrascht. „Ich wünsche, dass das tatsächlich ein nachhaltiges Zeichen dafür ist, dass wir uns ein wenig in Richtung Normalität entwickeln.“ Anerkennend spricht er davon, dass Volker Bouffier bei der Beerdigung war. „Vor zehn Jahren“, sagt Mutlu, „wäre ein Volker Bouffier nie auf die Idee gekommen, auf so eine Beerdigung zu gehen.“ Und das für Stunden. „Ich habe mich darüber gefreut und es ihm auch gesagt. Ich kann mich noch sehr gut an die Brandopfer von Mölln und Solingen erinnern. Als Bundeskanzler Kohl sagte, er betreibe keinen Beileidstourismus.“
Ist es ihr Mut, der die Menschen berührt?
Ist es Tugce Albayraks Mut, der die Menschen so berührt? Weil er die Frage aufwirft, ob man selbst auch so gehandelt hätte. Und ist dann die Verehrung dieser jungen Frau vielleicht auch Ausdruck des schlechten Gewissens, dass die Antwort möglicherweise „Nein“ heißen könnte?
Die Unterzeichner von Karl Lemperts Petition kommen inzwischen aus 167 Ländern, von Afghanistan bis zu den Weihnachtsinseln. Und obwohl ein Bundesverdienstkreuz normalerweise nicht posthum verliehen wird – unmöglich ist es nicht. Auch Dominik Brunner hatte die Auszeichnung 2009 nach seinem Tod erhalten. In der Münchner U-Bahn war er vier Jugendlichen zu Hilfe gekommen, die von zwei anderen Jugendlichen belästigt wurden. Auf einem S-Bahnhof kam es zum Zusammenstoß. Dominik Brunner starb kurz darauf. Zwar nicht an den Verletzungen des Kampfes, wie Gerichtsprotokolle später belegten, sondern an einem Herzstillstand aufgrund eines vergrößerten Herzens. Doch seinen Tod machte dies nicht weniger traurig, seinen Einsatz nicht weniger mutig.
Was immer in der Nacht zum 15. November 2014 geschah, auch Dilan Zaza wünscht sich, dass Tugce Albayrak das Bundesverdienstkreuz erhält. Selbst wenn sich dadurch wohl nichts ändert. „Es wird immer dasselbe sein“, sagt sie. „Johnny K., Dominik Brunner und jetzt eben Tugce. Nach zwei Jahren wird man es vergessen. Und erst wenn es wieder passiert, wird man sich erinnern. Ja, da war doch was.“
Was am vergangenen Sonntag an Blumen und Kerzen auf dem Oranienplatz niedergelegt wurde, ist verschwunden.
Dieser Text erschien auf der Reportageseite.