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Erinnerung im Herbstlaub
© dpa

Gauck prüft Bundesverdienstkreuz: Tugce A. – Heldenverehrung als Ersatzhandlung?

Zivilcourage und Zivilfeigheit: Das gehört zusammen. Denn Tugce A. hat gehandelt, viele andere haben nicht gehandelt – das fehlt. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Ariane Bemmer

Wer weiß schon genau, was in Tugce A. vorgegangen ist, als sie in dem Moment, in dem es ihr notwendig erschien, eingegriffen hat in den Konflikt vor dem Offenbacher McDonald’s-Lokal, der ihr Leben besiegeln würde.

Ob sie das Wort Zivilcourage überhaupt gedacht hat?

Oder ob sie vielleicht nicht anders konnte, als sich einzumischen, weil sie das so gelernt hatte: dass die Schwachen vor den Starken beschützt gehören, dass Unrecht nicht einfach geschehen darf, dass man sich auch für Situationen zuständig fühlen soll, die einen persönlich zunächst nichts angehen.

Oder vielleicht hat sie sich aus noch ganz anderen, nicht bekannten Gründen eingemischt. Es ist noch vieles unklar.

Wenn jetzt über Tugces Zivilcourage debattiert wird, ob sie recht hatte mit ihrer Einmischung oder nicht, ob die Polizei nicht besser die Bürger schützen soll, statt sie zur Zivilcourage aufzurufen und fahrlässigerweise in die Gefahr zu schicken, dann ist das nicht alles, was debattiert gehört.

Tugce hat gehandelt, viele andere haben nicht gehandelt – das fehlt. Vor der McDonald’s-Filiale waren offenbar mehr Menschen anwesend als die Konfliktbeteiligten. Aber anders als Tugce haben die anderen sich nicht zuständig gefühlt, als zwei Teenager-Mädchen von der Jungsgruppe bedrängt wurden.

Warum ist das immer wieder so? Dass die Mehrheit, die viel eher die Macht hätte, Situationen gefahrlos zu verändern, diese Macht nicht nutzt, sondern es die Einzelne, den Einzelnen braucht, die dann mit ihrem Einsatz ihre Gesundheit, ihre Unversehrtheit, gar ihr Leben riskieren.

Das Bundesverdienstkreuz soll die junge Studentin gegen die Regeln posthum erhalten

Tugce A. und Dominik Brunner, der Sicheinmischer von der Münchner S-Bahn-Station, werden jetzt in einer Reihe genannt. Das Bundesverdienstkreuz soll die junge Studentin gegen die Regeln posthum erhalten, eine Straße nach ihr benannt werden. Und das alles, bevor geklärt ist, was wirklich geschah.

Sind das nicht Ersatzhandlungen? Erleichtert, dass man selbst nicht dabei war in dieser oder jener unheilvollen Situation, verehrt und feiert man umso frenetischer diejenigen, die gemacht haben, was man von sich selbst nicht mehr unbedingt erwartet. Das ist eine willkommene Ausflucht, mit der man sich um die Frage herumdrücken kann: Geht es hier wirklich um Zivilcourage – oder nicht vielmehr um Zivilfeigheit?

Die rasch aufbrausende Heldenverehrung schafft immer noch mehr Distanz zwischen denen, die sich einmischen, und denen, die sich hinter der polizeilichen Warnung verschanzen, bloß nicht den Helden zu spielen. So wird das Sicheinmischen und Sichzuständigfühlen am Ende zu einer Exoteneigenschaft, zu einem Auftrag für die ganz besonderen Menschen. Das ist eine falsche Entwicklung. Es ist auch jedermanns Sache, wie es hier zugeht.

Einmischung und eine gewisse Form von Sichzuständigfühlen sollten selbstverständlich sein, denn so, wie jedes gerechte und gute Handeln die Welt ein bisschen gerechter und besser macht, macht umgekehrt jedes ungerechte und schlechte Handeln die Welt ein bisschen schlechter.

Das massenweise Wegschauen hat für die Auffälligen, die Aggressiven, die Nichtgesellschaftsfähigen die Möglichkeit eröffnet, sich den Raum zu erobern, in den sich jetzt keiner mehr reintraut. Und so laufen in Deutschland inzwischen einige Menschen durch die Straßen, die Messer in ihren Taschen haben und andere damit umbringen. Wer sich ihnen in den Weg stellt, ist seines Lebens nicht mehr sicher. Und niemand will den Stab brechen über all jene, die hoffen und beten, dass sie nicht in Situationen kommen, in der sich die Frage nach Einmischen überhaupt stellt. Es muss auch niemand ein Held sein. Aber eine Begründung für um sich greifende Nichteinmischung kann das natürlich auch nicht sein.

Das Problem ist, dass Zivilcourage keine einfache Turnübung ist, man kann sie schlecht trainieren. Und jeder zivilcouragierte Held, der am Ende stirbt, ist schlechte Werbung fürs Ideal. Was soll man also empfehlen? Sich oder anderen? Kann man das überhaupt? Oder ist der Mensch in den entsprechenden Situationen seinen Reflexen ausgeliefert: Wenn der Reflex zu helfen größer ist als die Angst um sich selbst, wird einer eingreifen, wenn es sich umgekehrt verhält, dann nicht. Aber einfach wegschauen – das geht auf keinen Fall. Auch sich selbst zuliebe nicht. Wenn sich niemand mehr einmischt, kommt am Ende auch keiner, wenn es einem selbst mal an den Kragen geht.

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