Griechenland: Radikale Wandlung: Alexis Tsipras hat in den Abgrund geschaut
Syriza-Chef Alexis Tsipras hat Griechenland zu weiteren Sparmaßnahmen verpflichtet - und ist bei seinen Landsleuten populärer als je zuvor. Doch nach den Verhandlungen mit den Gläubigern steht jetzt die schwierigste Aufgabe an: der Kampf gegen seine eigene Partei. Ein Porträt.
Da sitzt er nun auf der Regierungsbank und schaut zu, wie sich seine eigenen Leute zerfleischen. Es ist Freitagmorgen im Athener Parlament, und die entscheidende Abstimmung steht kurz bevor. Die Augenringe des griechischen Premiers sind tiefschwarz, die Debatte begann weit nach Mitternacht. In den vergangenen Stunden hat Alexis Tsipras gemeinsam mit den Fernsehzuschauern in den griechischen Bars oder Wohnzimmern verfolgt, wie sich seine Syriza-Partei zerlegt. In Echtzeit, live und in Farbe. Abgeordnete, die sich gegenseitig Verrat vorwerfen, beleidigen und verletzen. Die von sich glauben, das Land zu retten, und den anderen unterstellen, es in den Abgrund zu reißen. Abgeordnete, die vor wenigen Monaten noch gemeinsam demonstriert und gefeiert haben. Spätestens in diesem Moment weiß er, es ist vorbei. Er wird regieren, aber anders, als er sich das wohl je vorstellen konnte.
Es sind die vielleicht schwierigsten Tage in der Karriere des erst 41-jährigen Regierungschefs. Er schwankt zwischen Neuwahlen und Aussitzen, zwischen Durchwurschteln und Konfrontation. Dass sich eine Partei spaltet, während sie die Regierung stellt, ist so in 40 Jahren Demokratie in Griechenland noch nicht vorgekommen. Niemand weiß, wie es in den nächsten Wochen weitergeht.
Es ist nicht die Art von Schwierigkeiten, die Tsipras bisher kannte. Die Gegner seiner Politik sitzen nicht mehr im Ausland, mit der verhassten Troika, den Anzugträgern aus Brüssel und Washington, hat er sich geeinigt. Die Konservativen stützen seinen Kurs. Der Widerstand kommt nun aus den eigenen Reihen. Und diese Opposition ist gefährlich.
Als Tsipras zu seiner 40-minütigen Rede ansetzt, in der er seinen gerade geschlossenen Kompromiss mit den Geldgebern verteidigen wird, weiß er: Seine Partei ist in ihrer bisherigen Form Geschichte. Das Bündnis, das vom überzeugten Kommunisten bis zum gemäßigten Sozialdemokraten so viele unterschiedliche Strömungen vereinen konnte, wird das Regieren nicht überleben. Wird die Entscheidung ihres eigenen Chefs nicht aushalten. Und die steht fest: Wenige Stunden später wird sein neuer Finanzminister Euklid Tsakalotos mit Zustimmung des Parlaments nach Brüssel fliegen und das Kreditpaket für weitere drei Jahre beschließen.
Währenddessen wird ein anderer Mann, der Tsipras’ Politik in den ersten Monaten wie kein anderer geprägt hat, mit „Nein“ stimmen und anbieten, nach dem Finanzministeramt auch sein Abgeordnetenmandat niederzulegen. Weil er die Regierung nicht mehr unterstützen kann. Yanis Varoufakis weiß, dass Tsipras sich entschieden hat. Gegen die Revolution. Für neue Kredite aus Brüssel.
Alexis Tsipras hat in den Abgrund geschaut
Doch warum hat Tsipras seinen Kurs so radikal geändert? Was ließ ihn innerhalb kurzer Zeit vom kompromisslosen Kämpfer gegen die Austerität und brennenden Verteidiger der nationalen Souveränität zum Pro-Troika-Politiker werden – bereit, schlussendlich sehr viel härtere Auflagen zu akzeptieren als diejenigen, wegen derer er ein ganzes Land zum Referendum aufrief?
War es vernünftiges Einlenken oder Feigheit? Diese Frage bestimmte nahezu jede politische Debatte der vergangenen Wochen in Griechenland, während sich die alljährliche Sommerruhe so gar nicht über Athen legen wollte.
Es gibt dazu viele Theorien, die Wahrheit kennt aber wohl nur Tsipras selbst. Ein Gerücht, das in den politischen Zirkeln Athens heiß gehandelt wird, besagt, dass der Premier auf einen zehn Milliarden-Kredit von Wladimir Putin gehofft habe, mit dem er die Drachme in ihrer Einführungsphase hätte stützen können (der Kreml hat dies stets abgestritten). Eine andere Theorie, die angeblich von Yanis Varoufakis stammt, ist, dass Tsipras insgeheim darauf setzte, das Referendum zu verlieren und erhobenen Hauptes zurücktreten zu können, ohne neue Austeritäts-Maßnahmen unterschreiben zu müssen.
Wieder andere vermuten, Tsipras habe schlicht in den Abgrund geschaut und sei davor zurückgeschreckt. Während der Kapitalverkehrskontrollen ist die Wirtschaft brutal eingebrochen, die Banken waren so gut wie pleite – und Tsipras kam zum Ergebnis: Ein Sparpaket kriegen wir am Ende so oder so. Dann lieber mit dem Euro als mit der Drachme. In etwa so beschreibt es auch Tsipras selbst an diesem Freitag im Parlament. Der Feind, er bleibt für ihn offiziell derselbe: Wolfgang Schäuble wolle Griechenland aus dem Euro drängen. Das dürfe nicht geschehen. Der Subtext lautet: Alle, die mit dem „Grexit“ flirten, spielen den Deutschen in die Hände.
Sicher ist nur, dass Tsipras eine spektakuläre Kehrtwende hingelegt hat. Sein Mittelweg – hart verhandeln, die Sparpolitik stark abschwächen, aber die Euro-Zone nicht verlassen und dadurch sowohl die Partei als auch das Land zusammenhalten – er ist längst gescheitert.
Die Wähler sind bisher nicht das Problem von Alexis Tsipras
Das sah am Abend des 25. Januar noch anders aus. Damals riss Tsipras die Arme in den Nachthimmel, ließ sich von den Massen auf dem zentralen Syntagmaplatz für seinen Sieg feiern. Er versprach, nicht nur Griechenland, sondern ganz Europa verändern zu wollen. „Wir schlagen ein neues Kapitel auf“, rief er in die fahnenschwenkende Menge. „Die Troika in Griechenland ist Geschichte!“
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Tsipras sich nie verbiegen müssen. Schon als Mitglied der kommunistischen Jugend wurde Tsipras großes politisches Talent bescheinigt. Auch seinen Gegnern gegenüber blieb er sachlich, höflich, zugewandt, humorvoll – und in der Sache knallhart. Nicht der polternde Kommunist und EU-Schreck, als den ihn viele zu zeichnen versuchten. Eine Erfahrung, die auch Bundeskanzlerin Angela Merkel nach den Ereignissen mit dem neu gewählten Linken-Führer machte. Der Ton zwischen den beiden Staatschefs sei stets „entspannt“ gewesen, sagt eine, die in Berlin und Brüssel dabei war. Tsipras habe Respekt vor der erfahrenen Politikerin gezeigt, auch in schwierigen Gesprächen sei „schon mal gelacht“ worden. Selbst mit dem in Griechenland als Hardliner verschrienen und zum inoffiziellen Staatsfeind Nummer eins erklärten Schäuble sei der Ton zwar „distanzierter als mit Merkel“, aber „freundlich und verbindlich“ gewesen. Während Varoufakis die Gesprächspartner vor den Kopf stieß, versuchte Tsipras dieselben Inhalte anders zu vermitteln. War bereit, seinen Vertrauten zu opfern, als die Stimmung zu stark kippte. Schaffte es sogar irgendwie, mit Varoufakis menschlich in Frieden zu verbleiben. Der äußerte sich im Parlament sehr viel vorsichtiger als viele andere Kritiker.
Während seines Aufstiegs zum Parteichef bis hin zum Wahlsieg im Januar musste Tsipras zu keinem Zeitpunkt seinen Standpunkt korrigieren, um auch der Mitte der Gesellschaft zu gefallen. Durch die nicht enden wollende Krise hat sich vielmehr die Mittelklasse von allein radikalisiert und gegen die Kürzungspläne in Brüssel aufbegehrt – die Krise hat die Mehrheit quasi zu Tsipras geführt und nicht andersherum. Erst als er schon an der Macht war, musste er anfangen, schmerzhafte Kompromisse zu schließen und Entscheidungen treffen, die seinen eigentlichen Überzeugungen zuwiderliefen – und das fiel ihm schwer.
Tsipras war bereit, viel zu riskieren, um dem Schicksal seiner Vorgänger zu entkommen: am Ende von den Wählern für ein Programm abgestraft zu werden, das er selbst nicht inhaltlich befürwortete. In den ersten Wochen im Amt hat er dem Kabinett geschworen, dass er sich an seine sozialen Wahlversprechen halten wolle.
Die Wähler sind bisher aber nicht Tsipras’ Problem. Ein Großteil derer, die Syriza von weniger als fünf Prozent 2009 auf mehr als 36 Prozent im Januar gebracht haben, forderten laut Umfragen, dass er genau diese Kehrtwende vollziehen solle. Oder noch besser: Sie wollten, dass die Sparmaßnahmen für die Ärmeren zwar abgeschwächt werden, aber die Reichen und Mächtigen endlich ihre Privilegien verlieren. Daran, dass Tsipras bis heute kaum an Popularität eingebüßt hat, obwohl er ein Sparprogramm unterzeichnete, das in vieler Hinsicht härter ist als das seiner Vorgänger, zeigt, wie viel die Griechen ihm verzeihen. Tsipras, der charmante und für alle wählbare Linke, scheint für den Wähler alternativlos geworden zu sein.
Personenkult um den politischen Anführer ist nicht untypisch für Griechenland. Die meisten Parteien sind klar auf ihre Spitze zugeschnitten, Syriza war eines der wenigen echten Basis-Projekte und steht nun vor dem Zerreißen.
Die Wähler mögen zwar an der Kompetenz der Partei zweifeln. Aber an Tsipras? Da heißt es meist: „Er wird schon wissen, was richtig ist.“ Zumindest für den Moment ist Tsipras das unumstrittene Machtzentrum Griechenlands.
Tsipras hat sich entschieden - was daraus folgt, ist unklar
Diese Verantwortung setzt dem jungen Regierungschef zu. Er ist blass, nach dem letztem Gipfel zeigten viele Fotos die Herpesbläschen an der Lippe des Regierungschefs. Seine Mutter beschwerte sich in der Presse, ihr Junge schlafe und esse kaum noch. Trotzdem bleibt Tsipras höflich, auch den Widersachern aus den eigenen Reihen gegenüber. Ex-Energieminister Panagiotis Lafazanis nannte das Abkommen mit den Geldgebern eine „Guillotine“. Der „Grexit“ sei dagegen eine echte Alternative. Bis zu einem Drittel der Syriza-Mitglieder könnte Lafazanis bei einer möglichen Abspaltung folgen, auch die Parteijugend hat sich solidarisiert. Sie alle sind überzeugt: Am wichtigsten Punkt der Verhandlungen hat bei Tsipras Angst die Überzeugung geschlagen.
Hier ähnelt sich die Situation von Angela Merkel und Alexis Tsipras ironischerweise stark. Beide müssen mit einer Fraktion im Parlament kämpfen, die sich moralisch und ökonomisch im Recht wähnt. Die Verteidigung des Kompromisses, der keine Seite wirklich befriedigt hat, fällt schwer.
Tsipras’ Situation ist allerdings um einiges angespannter. Er regiert nur noch mit Hilfe der Opposition, den Parteien, die er selbst für korrupt und schuldig am heutigen Zustand Griechenlands hält.
Tsipras hat sich entschieden. Aber was aus dieser Entscheidung folgt, ist unklar. Versucht er, auf einem Parteitag zu retten, was zu retten ist? Die Abgeordneten zu versöhnen, die sich im Parlament gegenseitig persönlich tief verletzt haben? Oder setzt er eine Vertrauensabstimmung durch, die er dann zu verlieren sucht, um schnelle Neuwahlen herbeizuführen? Das galt bisher als wahrscheinlichste Lösung. So könnte er kritische Abgeordnete loswerden, indem er sie einfach nicht mehr auf die Liste für das Parlament setzt. Am Dienstagmittag heißt es allerdings aus Athen, das Parlament werde bis zum Ende der Sommermonate auf Feriengröße geschrumpft. Eigentlich ein übliches Vorgehen in der Hauptstadt, doch damit fiele die Vertrauensabstimmung bis Ende September wohl aus. Vielleicht gibt Tsipras damit erneut äußerem Druck nach. Vielleicht hat er sich aber auch einfach gefragt, was bei Neuwahlen und dem Rausschmiss seiner Kritiker noch von dem Mann übrig wäre, der im Januar die Arme in den Nachthimmel riss. Versprechen könnte er in diesem Wahlkampf wohl kaum noch etwas.