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Kaum eine Stadt wirkte im Krisensommer 2015 so überfordert wie Berlin. Die Hangars in Tempelhof sind heute weitgehend geräumt.
© Jensen/dpa

Flüchtlinge in Berlin: Notversorgung ohne Integration reicht nicht

Viele Flüchtlinge leben noch in Notquartieren, warten auf Wohnungen - und fast alle noch auf einen Job. Kämen über Italien nun wieder mehr Asylbewerber in die Stadt, würde es schwierig.

Zwei Kinder zerren an ihrem Arm, vom Flur hallt Gezanke, von der Straße dringt Hupen in dieses Foyer, in dem auch noch ein Elektriker an die Decke klopft, bis kieselsteingroße Schuttbrocken auf den Linoleumboden prasseln, während eine gestikulierende Frau und ihr Mann auf den Tisch zusteuern, an dem Kirstin Frohnapfel sitzt.

„Man ist“, sagt sie leise, „so was wie die Mutter für alle.“

Kirstin Frohnapfel, 35 Jahre, Politologin, dunkle Locken, sitzt im Erdgeschoss der Notunterkunft des Arbeiter-Samariter-Bundes, des ASB, in Alt-Moabit. In dem Heim begann sie als Sozialarbeiterin, nun ist sie die Leiterin. Fast 130 Männer, Frauen, Kinder aus dem Nahen Osten, dem Kaukasus, vom Balkan leben hier. Um sie kümmern sich zwei Sozialarbeiter, zwei Reinigungskräfte, ein Hausmeister, ein Verwalter. Frohnapfel sagt, sie könne sofort drei Leute mehr brauchen - für die Wohnungssuche, die in Berlin ja nicht nur Flüchtlinge überfordert, und die Hauswirtschaft, die in so einem Heim herausfordernd ist.

Dem Haus sieht man an, dass es nicht zum Wohnen, sondern zum Arbeiten gebaut wurde - karge Flure, Neonlicht, Wände in Behördenbeige. Früher hatte hier das Vermessungsamt seinen Sitz, der ASB zog 2013 ein. Im Senat ahnten sie damals, dass die Kriege im Nahen Osten an Berlin nicht spurlos vorübergehen würden. Kamen 2011 fünf Asylbewerber am Tag in Berlin an, gab es im Krisensommer 2015 Tage, da waren es 1000.

„Leider fürchte ich“, sagt Frohnapfel, „wir schaffen das nicht noch mal - wir haben nicht mal alles geschafft, was schon 2015 nötig gewesen wäre.“

Kirstin Frohnapfel ist eine besonnene Frau, niemand, dem Vorwürfe leichtfallen. Sie spricht an diesem Sommertag über die Sorgen, die Flüchtlinge haben, und über die Sorgen, die sie machen. Über Asylbescheide und Wohnungen, über Erwartungen und Enttäuschungen. „Damals, im Sommer 2015, haben sie zu spät reagiert“, sagt Frohnapfel. „Bezirk, Senat, Bundesregierung.“ Jener Sommer hätte den zuständigen Senator Mario Czaja, CDU, fast den Job gekostet.

Gilt als engagiert: Arbeits- und Integrationssenatorin Elke Breitenbach (Linke).
Gilt als engagiert: Arbeits- und Integrationssenatorin Elke Breitenbach (Linke).
© Kai-Uwe Heinrich

Seine Nachfolgerin ist eine Linke. Elke Breitenbach, 56 Jahre, kerzengerader Rücken, kurze Haare, sitzt im Café des Abgeordnetenhauses. Als Oppositionspolitikerin hatte sie Czaja heftig kritisiert - wegen des Verwaltungschaos, fragwürdigen Verträgen mit Heimbetreibern und der von ihr als planlos bezeichneten Gründung des neuen Landesamtes für Flüchtlingsangelegenheiten.

Senatorin Breitenbach: "500 Flüchtlinge? Könnten wir sofort unterbringen!"

Nun ist Breitenbach als Senatorin für Integration, Arbeit und Soziales selbst zuständig. Sie muss beweisen, dass es mit Rot-Rot-Grün besser läuft. Zuletzt kamen 700 neue Asylbewerber im Monat nach Berlin - bald werden es mehr. Täglich landen Hunderte in Italien an, 100 000 Männer, Frauen, Kinder erreichten das Land allein per Boot seit Jahresanfang. Sie kommen aus Nigeria, Guinea oder Eritrea, durchquerten die Sahara, harrten in libyschen Lagern aus. Dazu kommen nach wie vor Tausende aus Nahost, die nach der Schließung der Balkanroute über Italien nach Norden wollen.

„Kämen heute 500 Flüchtlinge an“, sagt Breitenbach, „könnten wir sie sofort unterbringen.“ Und das Gleiche am nächsten Tag, ja drei Wochen lang.

Die Bundesregierung gibt keine Prognose ab. In den Ministerien aber rechnen ein paar erfahrene Beamte schon wegen des Familiennachzugs für 2017 mit fast 500 000 Flüchtlingen. Nach Gesetzeslage müsste Berlin fünf Prozent davon unterbringen. Das wären 25 000 Männer, Frauen, Kinder pro Jahr. In der Praxis kamen jedoch immer mehr Flüchtlinge in Berlin an als vorgesehen. Viele haben hier Verwandte, andere ziehen dem Dorf, in das sie von Amts wegen sollen, die Metropole vor.

Berlin, ausgerechnet. Kaum eine Stadt wirkte im Sommer 2015 so überfordert wie Berlin. Die Szenen vor dem kaputtgesparten Lageso, dem Landesamt für Gesundheit und Soziales, waren selbst der „New York Times“ eine Geschichte wert. Vor dem Amt, nicht weit vom ASB-Heim in Moabit, warteten Hunderte auf Termine. Flüchtlinge campierten in Parks, es gab Massenschlägereien. Medikamente kamen wegen Vorschriften, die für Notlagen gefährlich ungeeignet sind, zu spät an. Frohnapfel stellte Feldbetten im Foyer des ASB-Heims auf; Familien, die vom Lageso rüberliefen, fragten nach Plätzen. Frohnapfel rief bei Hostels an, die aber auch niemanden mehr aufnahmen.

Nach dem Chaos im Sommer 2015, bauten Mitarbeiter des Lageso mit Gittern einen Korridor für die Asylbewerber.
Nach dem Chaos im Sommer 2015, bauten Mitarbeiter des Lageso mit Gittern einen Korridor für die Asylbewerber.
© Bensch / REUTERS

Im Sommer 2015 mussten Freiwillige das Lageso, ja die Stadt retten. Die Ehrenamtlichen von „Moabit hilft“, das sagte auch Breitenbachs Vorgänger Czaja, seien quasi unverzichtbar gewesen. Sie verteilten Wasserflaschen, suchten Quartiere, halfen beim Papierkram.

Czaja gründete dann das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten, das LAF. Dort kümmern sich 400 Mitarbeiter um Räume, Registrierung, Integrationskurse. Und auch Breitenbach bewegte in acht Monaten Amtszeit einiges: Die von Flüchtlingen belegten Turnhallen wurden frei, neue Häuser gebaut.

Vor Breitenbach liegt eine Liste, die der Stadt helfen soll, falls die Nachrichten aus Italien noch schlechter werden. Breitenbach fährt mit dem Zeigefinger über das Papier: Neubau da, Umbau dort, Ergänzungsbau hier. 10 000 Menschen könnten in 104 Heimen in allen Bezirken unterkommen - ohne dass Turnhallen belegt würden. Bis 2019 soll das LAF zudem 15 000 neue Wohnplätze schaffen.

Die Notversorgung scheint gesichert, davon geht man selbst bei „Moabit hilft“ aus. Reichen, das wissen die Helfer, wird das nicht. In vielen Heimen, in vielen Flüchtlingsfamilien hat sich eine gefährliche Dynamik entwickelt.

Ein Junge tippt Frohnapfel hektisch an die Schulter, hält ihr ein Handy hin: „Du Internet machen!?“ Frohnapfel sagt, dass sie im Gespräch sei, sich aber bald kümmere. „Was sollen die Leute machen?“, fragt sie. „Viele Familien warten und warten, auf eine Wohnung, einen Job.“

In vielen Flüchtlingsheimen herrscht Lagerkoller

Seit 2013, seit Kirstin Frohnapfel in Alt-Moabit anfing, kamen 1,6 Millionen Asylbewerber nach Deutschland. In Berlin waren es 90 000, die meisten blieben. Einer der Männer, denen Frohnapfel im Sommer 2015 ein Feldbett ins Foyer stellte, wohnt immer noch im ASB-Haus - er ist nicht der Einzige. Was wird aus Familien, die lange in Notquartieren leben? Die keine Aussicht auf einen Job haben, weil Qualifikationen fehlen? Die keine Wohnung bekommen, weil selbst Alteingesessene vergeblich suchen?

In vielen Heimen, berichten Sozialarbeiter, mache sich ein Lagerkoller breit. Flüchtlinge, die Alkohol gemieden hätten, seien nun öfter betrunken. Die Enge, der Lärm, das Warten führen zu Enttäuschungen, Aggressionen, dazu käme der Hass aus der Heimat. Immer wieder prügelten sich, sagen Beamte, etwa Sunniten und Schiiten. Aus der bundesweiten Polizeistatistik 2016 geht hervor, dass unter Tatverdächtigen - gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil - überdurchschnittlich viele Geflüchtete sind. In den Integrationsklassen, berichten wiederum Lehrer, kämen viele Jungen nicht zum Unterricht, weil sie Geld nach Hause schicken müssten, weshalb sie auf dem Schwarzmarkt arbeiteten. Und salafistische Prediger haben schon im Sommer 2015 Flüchtlinge angesprochen.

Was die Integration betrifft, sind wir seit dem Krisensommer 2015 nicht weiter“, sagt Cornelia Seibeld. Sie ist die integrationspolitische Sprecherin der CDU im Abgeordnetenhaus und kennt die Berichte aus den Heimen, den Schulen, den Ämtern. „Wir haben hohe Erwartungen geweckt“, sagt Seibeld, „die Flüchtlinge dabei aber zu Passivität statt Eigeninitiative erzogen.“ Die Heime werden oft durch Caterer versorgt. Flüchtlinge, die Integrationskurse schwänzen, müssen kaum Konsequenzen fürchten - es fehlt ja schon für den Grundbedarf das Personal.

„Es gibt nicht mal genug Deutschklassen für diejenigen, die sich engagieren wollen“, sagt Seibeld. Bis heute ist zudem nicht klar, welcher Flüchtling eigentlich Arzt und welcher lieber Lagerarbeiter werden möchte. Ein Assessment wie im Einwanderungsland Kanada fehlt in Deutschland noch.

Die Zentrale des LAF, dem Nachfolger des Lageso, liegt in der Bundesallee in Wilmersdorf. Früher saß hier die Landesbank. Bislang ist das Haus vom Massenansturm verschont geblieben. Im LAF ist man vorbereitet, wenn die Menschen von den Schlepperkähnen aus Italien nach Berlin kommen sollten. Es gibt Übersetzer für das in Eritrea gesprochene Tigrinya, das westafrikanische Hausa, arabische Dialekte sowieso. Aber, wie es ein LAF-Fachmann ausdrückt, Flüchtlinge seien „kein Gewinnerthema“ mehr, wenn man schnelle Hilfe benötige, reagierten Lokalpolitiker, Beamte, Nachbarn zögerlicher als vor ein, zwei Jahren.

Eigentlich bräuchte es, sagt Heimleiterin Frohnapfel in Alt-Moabit, so was wie einen New Deal, ein gesellschaftliches Abkommen über Wohnungsbau, Sozialarbeit, Lehrer - und Arbeit.

Vielleicht viel wichtiger als eine eigene Wohnung ist ein richtiger Job. Wer arbeitet, lernt die Regeln eines Landes kennen, trifft Einheimische, erfährt Anerkennung. Wer nicht arbeitet, verlernt womöglich den Tag zu strukturieren und bleibt eher unter seinesgleichen.

Wo ist die „deutsche Flexibilität“, von der Merkel sprach?

In Berlin suchen 29 000 Flüchtlinge einen Job - und das sind nur diejenigen, die im Jobcenter registriert sind. Geflüchtete mit unklarem Aufenthaltsstatus, Alte, viele Kranke sind nicht mitgezählt. Und Frauen meldeten sich oft gar nicht an, das sagen Jobcenter-Mitarbeiter, aber auch Flüchtlinge selbst, weil Frauen nach der Tradition ihres Heimatlandes für den Haushalt da zu sein hätten.

„Vieles wäre schneller zu schaffen gewesen“, sagt Stephan von Dassel in seinem Büro. Die Bundespolitik hätte die Lage als nationale Aufgabe erkennen und die „deutsche Flexibilität“, von der Angela Merkel 2015 sprach, durchsetzen müssen. Dassel, für offene Worte bekannt, ist Grüner und Bezirksbürgermeister von Mitte. Das ASB-Heim, das Lageso, der Kleine Tiergarten, in dem Obdachlose, wenn auch nicht mehr die Flüchtlinge campen - alles befindet sich vor seiner Rathaustür. Dassel, ein schlanker, lebhafter Grübler mit schwarzer Brille, war vor der Berlin-Wahl 2016 als Sozialstadtrat ein mindestens so scharfer Kritiker des Senats wie die damalige Oppositionspolitikerin Breitenbach. Als das Lageso zusammenbrach, forderte Dassel die Ausrufung des Katastrophenfalls. So hätten bestimmte Regeln umgegangen, das Chaos schneller beseitigt werden können.

Erst Sozialstadtrat, nun Bürgermeister von Berlin-Mitte: Stephan von Dassel (Grüne).
Erst Sozialstadtrat, nun Bürgermeister von Berlin-Mitte: Stephan von Dassel (Grüne).
© Kembowski/dpa

Weil Dassel die Dinge, so muss man es wohl sagen, in die eigene Hand nahm, leitete der Senat, in dem nun auch seine Grünen mitregieren, ein Disziplinarverfahren ein: Dassel habe, so der Vorwurf, die Hostelkosten für offiziell nicht registrierte Wohnungslose übernommen - und sich so in privatrechtliche Angelegenheiten eingemischt. Neue Flexibilität? Nicht in Berlin.

Doch nicht deswegen ist Dassel sauer. Er hat ein viel massiveres Problem als das Disziplinarverfahren - und damit sind nicht die fehlenden Wohnungen gemeint, also familiengerechte Unterkünfte, die es in Mitte noch viel weniger gibt als in anderen Bezirken. Vielmehr müssen Dassels Fachleute in den Ämtern in Mitte 30 Prozent aller Berliner Asylbewerber betreuen. Die Zuständigkeit richtet sich nämlich nicht nach Wohnort, sondern nach Geburtsdatum: jeder der zwölf Bezirke für einen der zwölf Monate. Mitte hat es schlecht getroffen, der Bezirk ist für Januar zuständig. Weil alle Flüchtlinge, deren Geburtstag unbekannt ist, als Januarkinder registriert werden, versorgen die Jugendämter und Jobcenter in Mitte rund ein Drittel aller Neuankömmlinge. „Dass das auch der neue Senat nicht geändert hat“, sagt Dassel, „enttäuscht mich.“

„Heute kein Geschrei, kein Geschubse?!“

Und so fahren täglich Hunderte aus Marzahn, Köpenick und Spandau nach Mitte, um dort bei dem für sie zuständigen Jugendamt oder Jobcenter vorzusprechen. Ortsbesuche können die Mitarbeiter aus Mitte kaum noch leisten. Eine Stunde nach Köpenick fahren, eine zurück, weil es dort Ärger in einer Familie gegeben haben soll, deren Hausvorstand im Januar geboren wurde? Unmöglich.

Nun dauerten die Dinge in Berlin schon immer länger als etwa in Hessen, wo Heimleiterin Frohnapfel aufgewachsen ist. Aber das hiesige Tempo bringt sie manchmal an ihre Grenzen. Vor drei Jahren ist erwogen worden, aus der ASB-Notunterkunft ein solides Heim zu machen. Erst prüfte das Lageso, dann das LAF, nun könnte der Ausbau beginnen - wenn denn das Bauamt zustimmt.

Immerhin, darüber wird man sich in Mitte freuen, kündigt Senatorin Breitenbach an: Die umstrittene Verteilungsregel solle geändert werden.

Ein Wachmann mit Papieren kommt an Frohnapfels Tisch, der Elektriker klopft die marode Decke ab. Im Foyer rufen drei Ehrenamtliche zwölf Kinder zusammen, es soll in die Schwimmhalle gehen. „Zuhören!“, sagt eine junge Frau in Leggings. „Heute kein Geschrei, kein Geschubse, okay?!“

Kirstin Frohnapfel wird weiter reden, planen, schlichten. Sie will das, was sie seit Jahren sehr gut macht, vielleicht noch ein klein bisschen besser machen können. Frohnapfel lässt sich zur Fachwirtin für Sozialwesen weiterbilden. Das ist krisensicher.

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