Kontaktverfolgung per Handydaten: So funktioniert die Corona-App
Wissenschaftler präsentieren eine App, die bei der Kontaktverfolgung helfen soll. Die Bundesregierung setzt große Hoffnungen in die Technik.
Eine Initiative von 130 Wissenschaftlern und Technologie-Experten aus verschiedenen Institutionen und Unternehmen aus acht europäischen Ländern hat heute eine Technologie vorgestellt, mit deren Hilfe es möglich sein soll, Kontakte von Covid-19-Infizierten mit dem Handy nachzuverfolgen. Daran beteiligt ist das Robert Koch-Institut (RKI), das im Auftrag des deutschen Gesundheitsministeriums arbeitet.
Die Bundesregierung setzt große Hoffnungen in die App zur Nachverfolgung von Corona-Infektionsketten, die aktuell in Berlin getestet wird. Man suche „mit Hochdruck“ gemeinsam mit dem Robert Koch-Institut (RKI) nach einer Lösung, sagte die stellvertretende Regierungssprecherin Ulrike Demmer am Mittwoch in Berlin. Sie betonte, diese App könnte grenzüberschreitend in Europa funktionieren.
Ein Sprecher des Gesundheitsministeriums sagte, die Nachverfolgung von Kontaktpersonen von Corona-Infizierten sei „digital einfacher als wenn jemand im Gesundheitsamt anfängt zu telefonieren“.
Auf Basis der Technologie soll nun in den nächsten Wochen eine App entwickelt werden, die sich möglichst viele Menschen herunterladen sollen. Genaue Zeitpläne sollen in Kürze vorgestellt werden. Klar ist: Die App ist nur sinnvoll, wenn möglichst viele Menschen sie herunterladen. Die Teilnahme der Bevölkerung an dem Projekt soll aber freiwillig sein.
Der Tagesspiegel hat mit den Initiatoren des Projekts gesprochen.
Wie kann Technologie dabei helfen, die Verbreitung des Coronavirus einzudämmen?
Salathé: Mit Technologie lassen sich Situationen nachvollziehen, bei denen zwei oder mehr Personen mit Telefonen mit kurzer Distanz über einen längeren Zeitraum zusammen waren. Wir haben bei Covid-19 das Problem, das die Krankheit schon ein paar Tage ansteckend sein kann, bevor ein Mensch Symptome entwickelt und sich testen lässt. Das macht diese Rückverfolgung so wichtig.
Heißt das, mit einer App könnten wir alle wieder raus?
Salathé: Bei so vielen Fällen, wie wir sie bei einer weiteren exponentiellen Verbreitung gehabt hätten, würde eine App wenig nutzen. Da hilft nur der Lockdown. Aber wenn es weniger werden, können wir mit Hilfe von Technologie versuchen, jeden kleinen Ausbruch zurückzuverfolgen und ein neues Buschfeuer rechtzeitig einzudämmen. Das Coronavirus wird so schnell nicht verschwinden, nicht, ehe der Impfstoff da ist. Aber so lange können Sie keine Gesellschaft und keine Wirtschaft hinter verschlossenen Türen halten. Die asiatischen Kollegen haben uns gezeigt, dass es möglich ist, das öffentliche Leben mit dem Virus wieder aufzunehmen – auch mit Hilfe von Technologie.
Die Überwachungstechnologie der asiatischen Staaten gilt vielen Europäern aber eher als abschreckendes Beispiel.
Boos: Unser Ziel ist es, Covid-19 zu bekämpfen, ohne die Leute auszuspionieren. Unsere Privatsphäre ist ein Grundrecht. Die Intention der Lösung, die wir entwickelt haben, ist es das zu respektieren. Sie soll sicher sein, anonym und freiwillig. Wir danken, dass wir hiermit das beste aus beiden Welten vereinen.
Wie genau funktioniert das?
Wiegand: Unsere Lösung basiert auf der Bluetooth-Technologie. Damit ist es möglich, die Abstände zwischen zwei Smartphones zu messen. Dabei geht es darum festzustellen, ob sich jemand über eine längere Zeit weniger als zwei Meter zu jemand anderes aufgehalten hat. Und das insbesondere in geschlossenen Räumen. Wenn Sie eine App mit unserer Technologie nutzen, gibt sich Ihr Handy automatisch den Smartphones anderer App-Nutzer in Ihrer Nähe zu erkennen. Jede Begegnung innerhalb einer kritischen Distanz, die länger als ein paar Minuten gedauert hat, wird für 21 Tage auf dem Telefon verschlüsselt gespeichert. Dabei ist völlig irrelevant, wem das andere Telefon gehört oder wo die Begegnung stattgefunden hat. Wir erstellen keine Bewegungsprofile und wir tracken keine Mobilfunkdaten. Wir messen nur Distanzen.
Wie stellen Sie sicher, dass die gespeicherten Begegnungen nicht auf reale Personen zurückgeführt werden können?
Wiegand: Die Kommunikation läuft verschlüsselt. Die Mobiltelefone senden einander Codes, die ständig wechseln. Diese Codes werden gespeichert, dezentral, direkt auf dem Gerät. Ihre Mobilfunknummer wird nicht mitgeschickt, nicht ihr Aufenthaltsort, auch nicht Ihre Mac-Adresse. Sie selbst sind nicht identifizierbar, weder für die anderen Nutzer, noch für den Betreiber der App.
[Verfolgen Sie in unseren Liveblogs die aktuellen Entwicklungen zum Coronavirus in Berlin und zum Coronavirus weltweit.]
Wie erfahre ich, ob ich Kontakt zu einer infizierten Person hatte?
Wiegand: Eine Person die positiv auf das Coronavirus getestet wird, erhält vom Gesundheitsamt einen Code. Den können Sie in Ihre App eingeben. Sie tun das freiwillig. Wenn Sie sich dafür entscheiden, wird Ihre Distanzhistorie der letzten 21 Tage auf einen Sicherheitsserver hochgeladen. Alle Appnutzer, die sich in den vergangenen Tagen in einer kritischen Distanz zu Ihrem Telefon befunden haben, erhalten dann einen Warnhinweis.
Es gibt Epidemiologen, die halten eine technische Lösung für nicht sinnvoll. Ein Kritikpunkt ist, dass die Distanz allein noch nichts darüber aussagt, ob eine Ansteckung stattgefunden haben könnte.
Salathé: Wir wissen noch nicht alles über das Coronavirus und seine Ansteckungswege, aber wir wissen: Eine Infektion über Tröpfchen ist möglich. Und größere Tropfen kommen zwei Meter weit. Darum empfiehlt das RKI, einen entsprechenden Abstand zu halten, darum fragen die Gesundheitsämter dieses Merkmal für die Rückverfolgung auch ab. Unsere Technologie tut dasselbe, nur automatisch.
Was ist, wenn ich mein Mobiltelefon nicht dabei habe, oder es in der Jacke an der Garderobe hängen bleibt?
Wiegand: Wir haben nicht nur Epidemiologen, Ingenieure und Programmierer in unserem Team, wir haben auch Verhaltensforscher an Bord. Die denken, dass der Glaube an die Sinnhaftigkeit einer solchen App die Menschen dazu bewegen könnte, ihr Verhalten anzupassen, etwa ihr Telefon bei sich zu tragen.
Wenn die App-Nutzer künftig ständig Warnungen auf ihren Mobiltelefonen erhalten, könnte das nicht auch Panik verbreiten? Und wenn sich dann plötzlich alle testen lassen wollen, reichen die Testkapazitäten dann aus?
Wiegand: Panik entsteht doch vor allem, wenn die Menschen nicht wissen, wer infiziert ist und wer nicht. Aber natürlich kann die Technologie den Kampf gegen das Coronavirus nicht allein gewinnen. Die Testkapazitäten müssen parallel ausgeweitet werden. Und wir werden alle lernen müssen, unsere Gewohnheiten zu verändern: Distanz zu wahren und große Menschenansammlungen zu meiden. Wenn alle mitmachen, werden sich die Warnungen in Grenzen halten.
Hintergrund-Informationen zum Coronavirus:
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Stichwort mitmachen: Wie viele Menschen müssen die Corona-App herunterladen, damit sie funktioniert? Gerade bei den älteren Menschen hat längst nicht jeder ein Smartphone.
Salathé: Ein realistisches Ziel sind 60 Prozent der an einer Begegnung beteiligten Personen. Studien aus Oxford haben gezeigt, dass das reicht, um einen nennenswerten Effekt zu erzielen. Einen Effekt würden Sie auch schon bei 30 oder 40 Prozent erzielen, nur eben weniger stark. Wichtig ist vor allem, dass wir diejenigen erreichen, die viel unterwegs sind und sich mit anderen treffen. Wenn die Reiseaktivitäten wieder zunehmen ist es außerdem unerlässlich, dass die verschiedenen Apps über die Grenzen hinweg miteinander kompatibel sind.
Wie wollen Sie das erreichen?
Boos: Jedes Land, das mitmachen möchte, kann auf Basis unserer Technologie eine App entwickeln oder die Technologie in eine bestehende App integrieren. Wir haben diese Lösung gemeinsam mit 130 Kollegen aus 8 europäischen Ländern entwickelt. Führende Köpfe aus Wissenschaft und Wirtschaft haben viele Nächte lang gemeinsam durchgearbeitet, ohne Auftrag, aus eigenem Antrieb, weil wir davon überzeugt sind: Wir wollen das Potenzial der Technologie nutzen, um das Coronavirus zu bekämpfen und die Beschränkungen unserer Freiheit wieder aufheben zu können. Dabei wollen wir keine neuen Beschränkungen einführen oder unsere Grundwerte antasten. Unsere Lösung ist eine durch und durch europäische, basierend auf gemeinsamen Ideen, gemeinsamer Arbeit und unseren gemeinsamen Werten.
Thomas Wiegand leitet das Fraunhofer Heinrich-Hertz-Instituts HHI und ist Leiter der Fokusgruppe „AI for Health“ bei der ITU/WHO. Marcel Salathé ist Professor für Digitale Epidemiologie an der ETH Lausanne. Hans-Christian Boos ist Gründer der AI-Firma Arago und Mitglied im Digitalrat der Bundesregierung.
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