Das Coronavirus in New York: Die Geisterweltstadt
New York City war ein sich selbst erfüllendes Versprechen. Nun verbarrikadiert sich die Metropole mit ihren 8,5 Millionen Menschen und fürchtet um ihr Leben.
Gestern kam die neue Mitgliedskarte per Post. Anfang Mai sollte die Saison beginnen, wir alle wünschten den Mai herbei, denn wir lieben die Sommerabende auf dem Wasser, dort draußen vor der Freiheitsstatue; wenn über New Jersey die Sonne untergeht und Manhattan leuchtet, wenn manchmal schon der Mond über Brooklyn steht und vom Atlantik noch die Seebrise kommt.
Jetzt, schreibend, kann ich von unserem westlichen Fenster aus den Hudson River sehen. Kein Segel dort draußen, kein Kreuzfahrtschiff, keine Fähre mehr. Das wird nichts werden, im Mai nicht, vermutlich im gesamten Sommer nicht und danach womöglich nie wieder.
Segelsorgen sind private Sorgen, kleine Sorgen, fraglos; so wie 8,5 Millionen Leidenschaften, die nun pausieren müssen. Es geht in diesen Tagen um Größeres. Es geht um Covid-19, nun auch hier. Wochenlang konnten in New York nur wenige Menschen getestet werden, wir alle hier hörten den Präsidenten das Virus verspötteln, den Bürgermeister Alarm rufen, sahen den Gouverneur lässige Seriosität demonstrieren. Stringent war nichts, Warnungen erreichten die Stadt nur geraunt, eine strategische Vorbereitung gar nicht. Auf einmal war Covid-19 da.
Und gleich hinterher kam die Panik der klaustrophobischen Enge.
Unser System, ein Witz: Wer krank ist, geht trotzdem arbeiten, was denn sonst
New Yorker rumpeln in seit Jahrzehnten renovierungsbedürftigen und doch nie renovierten U-Bahnen durch diese Stadt, Tausende fassen dieselben schmierigen Haltestangen an, es geht nicht anders. New Yorker wohnen in Hochhäusern mit denselben Lüftungsschächten, denselben Müllschächten, sie drücken dieselben Fahrstuhlknöpfe.
New Yorker konnten einst rasant zu Fuß gehen, elegant einander ausweichen, doch heute gucken alle auf ihre Telefone, während sie rennend essen. Sie stoßen gegeneinander, permanent. Zwei Meter Abstand? In New York, 2020? Very funny. New Yorker wissen, dass es hier zu wenig Krankenhausbetten gibt. Im Ernstfall einer Abriegelung gäbe es schnell auch zu wenig Nahrung: Manhattan ist eine Insel.
Oh ja, und wir wissen, dass in Wahrheit unser ganzes System ein Witz ist: Wer krank ist, geht trotzdem arbeiten, was denn sonst, da Kranke hier kein Geld erhalten und die Miete dennoch bezahlt werden muss; 70 000 Obdachlose wiederum gehen zu keinem Test und zu keinem Arzt; und 1,1 Millionen weitere New Yorker haben zwar ein Zuhause, aber auch keine Krankenversicherung, und wie sollen nun diese einen Arzt bezahlen? Hunderttausende Menschen kommen hinzu, die illegal in der Stadt sind, jene im Schatten: die Kindermädchen, Putzfrauen, Bauarbeiter, die nicht nach Peru oder Guatemala zurückreisen wollen (weil sie nicht wieder einreisen könnten), also ebenfalls nicht zum Arzt gehen, da sie dort registriert würden.
Diese Stadt weiß, dass sie miserabel gerüstet ist. Die Besitzer von Cafés nageln nun Bretter vor ihre Fenster, bald könnten die Plünderungen kommen.
Diese Stadt hatte immer schon beides: Gemeinsinn und Gnadenlosigkeit
5200 Menschen waren am späten Donnerstag im Bundesstaat New York infiziert, 29 gestorben. Bis zum Beginn dieser Woche hatten nur einige Hundert Leute pro Tag getestet werden können, in zwei Laboren. Von Mittwochabend bis Donnerstagmorgen wurden dann 7584 Menschen untersucht, da endlich einige Dutzend weiterer Labore einsatzbereit waren. Um 2200 stieg mit dieser Erhöhung der Testzahlen sofort die Zahl der Infizierten, vervierfacht hat sie sich damit in den vier Tagen seit Montag, und wir New Yorker können rechnen.
Diese Stadt hatte immer schon beides: Gemeinsinn und Gnadenlosigkeit.
Wir leben hier, weil wir Begegnungen suchen – je älter man wird, desto schwieriger wird es im Leben, neue Erfahrungen zu machen, doch hier passiert täglich irgendetwas zum ersten Mal. New Yorker blicken einander an, sagen „was hat Ihr Sohn für wunderschöne blaue Augen“ zu Fremden, ständig geschieht es, und wo bitte gibt es das in Berlin? Eine meiner liebsten Szenen all der Jahre: Eine alte Dame traute sich während eines Wolkenbruchs nicht über eine Kreuzung; von hinten kam ein junger Mann und griff sich die Frau, trug sie hinüber, stellte sie ab und lief weiter ohne ein Wort. New York, das ist aber auch die Wall Street, ist Verdrängung, ist eisige Härte.
Und nun schließen die Bars, die Läden, die Restaurants, das MoMA und das Metropolitan Museum, die ganze Stadt ist längst zugesperrt, muss es sein, und viele Menschen werden arbeitslos. All die Schlaglöcher, der Dampf, der aus dem Asphalt aufsteigt, das passt schon hierher: New York ist ja deshalb der Schauplatz von Katastrophenfilmen und von düsteren Serien wie „Gotham“, wo alles zischt und blubbert und niemand mehr solidarisch ist, weil die Filmbilder der Wirklichkeit ähneln.
Corona wird Menschen verändern. David Brooks dachte in der „New York Times“ über „Social Distancing“ nach, die Frage nämlich, was aus unserem Gemeinsinn wird, wenn wir zwar Hilfe suchen, physisch aber voneinander abrücken müssen, da der Mitmensch der Feind ist – und Brooks erinnerte an die Spanische Grippe von 1918, die deshalb nicht im kollektiven Gedächtnis verankert sei, weil die Menschen danach nicht darüber reden mochten. Sie schämten sich jener Menschen, zu denen sie geworden waren.
Zu St. Patrick’s Day gab es keine Parade mehr
Ich blicke aus dem anderen Fenster, das Empire State Building leuchtet noch im Norden Manhattans. Es leuchtete am vergangenen Montag, dem St. Patrick’s Day, grün und weiß und orange, das sind Irlands Farben. Es gab keine Parade mehr.
Ja, die grellen Lichter der großen Stadt, „bright lights, big city“, wie Jay McInerny schrieb, sie existieren noch, nur die Menschen verbergen sich jetzt, wir auch. Mein Blick hinaus aus dem 30. Stock: Dort liegt Houston Street (Hau-sten gesprochen, anders als Ju-sten, die Stadt in Texas); Houston Street also ist eine der Adern dieser Stadt, Verbindung von Ost nach West, jetzt ohne Autos, ohne Fußgänger.
Südlich der Houston (Soho bedeutet South of Houston) verwirren noch immer die krummen Straßen der Gründerzeit, als wüst durcheinander gebaut wurde. Von der Houston aufwärts wurde 1811 das Gitter über Manhattan gelegt, „The Grid“: elf Avenues führen von Süd nach Nord, 220 Straßen von Ost nach West.
Fußgänger und Radfahrer war ich dort unten, als ich die Wohnung noch verlassen konnte. Und der Manhattan Yacht Club war mein Stadtzentrum, wurde es 2007, als ich mit dem Rennrad durch Lower Manhattan fuhr und in Battery Park, hinter dem einstigen World Trade Center, die im Gleichklang wippenden Masten entdeckte.
Ich stieg die Treppe hinab, damals, entdeckte das schwimmende Clubhaus; eine Stunde später und danach eigentlich täglich schipperten wir hinaus auf den Fluss. Und dort draußen waren wir frei.
In Clubs wie diesem trafen sich in New York Bankerinnen mit Schauspielern, UNO-Menschen, Politikerinnen, Schriftsteller, Anwälte, alle offen für alle anderen. So öffnete sich die Stadt auch für mich, so fand ich hinein, jenseits der Korrespondentenwelt. Das war mein New York. Alle hier haben ihres: New York City ist die Vollversammlung individueller Leidenschaften. Denn 8,5 Millionen Menschen leben ja in dieser Stadt, weil sie etwas Besonderes wollten, weil sie etwas träumten, wollten, erhofften; ansonsten wäre New York auch vor Corona schon eine Zumutung gewesen, zu eng, zu laut, zu teuer.
Ein öffentlicher Raum, den es auf dieser Erde nur einmal gab
Wir alle haben einen Handel mit der Stadt abgeschlossen. Wir verzichten auf Platz, klappen unser Bett abends aus der Wand und morgen wieder hinein, und umgekehrt machen wir’s mit dem Tisch, wie auch sonst, 45 Quadratmeter kosten 3000 Dollar.
Nicht weiter schlimm. Im Gegenteil. Denn was wir dafür bekamen, war nicht bezahlbar. Wir bekamen einen öffentlichen Raum, den es auf dieser Erde nur einmal gab.
Mein New York bestand aus Stephanie Blythe und Anna Netrebko in der Metropolitan Opera und aus Al Pacino oder „Hamilton“ in den Theatern des Broadway. Es bestand aus Daniil Trifonov in Carnegie Hall. Aus The Strand, dem weltbesten Buchladen; die signierten Erstausgaben verstecken sich im dritten Stock.
Mein New York, das waren Bryant Park und das Center of Photography, das marokkanische Café Mogador im East Village, das waren das Anjelica Film Center, die Old Town Bar, die Lesungen von David Mitchell und natürlich mein Team, die Rangers, die Eishockey spielen, wie es das in Deutschland niemals zu sehen gibt, im Madison Square Garden, der auch nur hier stehen kann.
Links liegt der Garden, von unserem Nordfenster aus, dunkel, tot.
Klaus Brinkbäumer
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