Als Flüchtling in Berliner Arbeitsagentur: Neda Mohammadian integriert jetzt die Deutschen
Sie lebt ihren Traum. In der Arbeitsagentur zwischen Stempeln und Stechuhren. Neda Mohammadian ist aus dem Iran nach Berlin geflüchtet. Und eine der wenigen, die schon einen Job bekommen haben.
Arbeitsagentur Marzahn-Hellersdorf, Neda Mohammadian sitzt am Empfang. Ihre Lippen sind dunkelrot geschminkt, ein breiter Kajalstrich betont ihre großen Augen. Freundlich grüßt sie den ersten Kunden, fragt ihn nach seinem Personalausweis und tippt die Daten ins System. Sie ist noch etwas unsicher. Das Wort „Vermittlungshemmnis“ zum Beispiel hat sie gerade erst gelernt. Jetzt muss sie noch anklicken, was der Mann vor ihr für ein Problem hat: „Leistungsrechtliche Frage“. Wo Mohammadian herkommt, bräuchte man für diesen Begriff einen ganzen Satz.
Neda Mohammadian, 25, ist vor anderthalb Jahren aus dem Iran nach Berlin geflohen. Eine von fast 16 000 Flüchtlingen aus diesem Land, eine von fast einer halben Million Menschen, die allein 2016 nach Deutschland gekommen sind. Und doch ist Mohammadian anders. Sie muss sich nicht mehr selbst in den Arbeitsmarkt integrieren, sie hilft Deutschen dabei.
„Nehmen Sie bitte Platz“, sagt Mohammadian, „Sie werden gleich aufgerufen.“ Die Kollegin neben ihr nickt zustimmend. Gut gemacht, Neda Mohammadian ist noch in der Ausbildung.
Von einer Arbeitsagentur hat sie nie gehört
Dass es so etwas überhaupt gibt, eine Arbeitsagentur, davon hörte Mohammadian im vergangenen Herbst. Sie lernte gerade ihre ersten paar Worte Deutsch, als eine Freundin ihr davon erzählte. „Sie sagte, wer keinen Job hat, bekommt da einen“, erinnert sich Mohammadian. Sie ging hin. Ungefähr zur gleichen Zeit ließ die Bundesagentur für Arbeit ein Konzept entwickeln, wie sie Flüchtlinge ausbilden könnte. Ziel war, zum Sommer dieses Jahres vier Azubis einzustellen. Acht sind es geworden. Neda Mohammadian ist dabei.
Wie schnell Flüchtlinge Arbeit finden, bestimmt, ob ihre Integration gelingt – darin sind sich Politik und Wirtschaft theoretisch einig. Praktisch ist es schwierig. Die 30 größten Unternehmen haben bislang 54 Flüchtlinge eingestellt. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat die Vorstandschefs deswegen für Mitte September ins Kanzleramt zitiert.
Sie mag Ordnung - und Stempel auch
Wenn man Neda Mohammadian glauben darf, dann lebt sie gerade ihren Traum. Die kommenden drei Jahre wird sie sich mit Anträgen und Formularen beschäftigen. Sie wird das 100 Seiten dicke Abkürzungsverzeichnis der Arbeitsagentur studieren, und Paragrafen des Sozialgesetzbuches. Einige kennt sie schon. Den Paragrafen 36 SGB III über die „Grundsätze der Vermittlung“ zum Beispiel. Oder den Paragraf 38 SGB III über die „Rechte und Pflichten der Ausbildung- und Arbeitsuchenden“. Sie mag Ordnung, sagt Mohammadian und Stempel auch. Wenn sie sich etwas wünschen dürfte, dann, dass sie im Jobcenter arbeiten darf, bis sie alt ist. Momentan wohnt sie in Wedding. Bald möchte sie aber nach Hellersdorf ziehen. Da sei es ruhiger, aufgeräumt – richtig schön deutsch.
Die Kollegin neben ihr am Empfangstresen lebt Neda Mohammadians Traum schon seit vielen, vielen Jahren. Groß, blond, die Fingernägel pink lackiert, Mietwohnung in Marzahn-Hellersdorf. Ihren Namen mag sie nicht sagen, Mohammadian nennt sie „meine Mutti“. Mutti geht nächstes Jahr in den Ruhestand und hat Angst, dass ihre Rente dann nicht ausreicht: „Wir können nicht alle reinlassen“, sagt sie. Viele kämen nur wegen der Sozialgelder. Vor allem die Osteuropäer. „Und das mit den Flüchtlingen hat Angela Merkel im letzten Jahr völlig unterschätzt!“
„In unserem Land geht das auch nicht!"
Neda Mohammadian sieht sie ernst und fragend an. „Bei dir ist das was anderes“, sagt Mutti. „Du willst arbeiten und unter unseren Bedingungen leben.“
Ein Mann unterbricht die beiden. Um seinen Arm trägt er einen Verband. Schnittverletzung, sagt er, habe er sich selbst zugefügt wegen seiner Frau. Die habe ihm einfach das Kind weggenommen. Mutti mustert ihn. Er spricht laut. Seine Haare sind schwarz, der Teint dunkel. „Und jetzt?“, fragt sie. Der Mann beruhigt sich ein bisschen. Ja, wütend sei er wohl, aber er werde seine Frau schon nicht umbringen. „In unserem Land“, sagt Mutti und ihr Ton wird streng, „geht das auch nicht.“
Neda Mohammadian versucht seit einiger Zeit herauszufinden, was das ist, „unser Land“, und wie man sich am besten anpasst an „unsere Bedingungen“.
Sie sah sich Youtube-Videos über „die perfekte Bewerbung“ an
Um für das Programm genommen zu werden, hatte sich Neda Mohammadian vorab Youtube-Videos über „die perfekte Bewerbung“ angeschaut. Es galten die gleichen Standards wie bei jeder Bewerbung für die Arbeitsagentur. Um Spannungen zu vermeiden, wurden für die Flüchtlinge Extra-Ausbildungsplätze geschaffen. Sie waren keine Konkurrenz für die übrigen Bewerber. Insgesamt haben 48 Azubis ihre Lehre begonnen. Die Flüchtlinge bekommen aber zusätzlich Nachhilfe.
Oft fehlen den Geflüchteten die notwendigen Qualifikationen oder Zeugnisse, die zeigen, was sie in ihrer Heimat gelernt haben. Und: Nur etwa ein Drittel kann sich auf Englisch verständigen. Die Wenigsten sprechen oder verstehen Deutsch.
Auch Neda Mohammadian hat in Berlin anfangs nur persisch geredet. „Deutsch ist kompliziert“, sagt sie. Besonders Worte, die wie „statt“ und „Stadt“ identisch klingen, aber etwas ganz anderes bedeuten. Mittlerweile bildet sie einfache Sätze, beherrscht Deutsch auf A2-Niveau. Von sechs Stufen ist das die zweitunterste. Die Ausbildung bei der Arbeitsagentur ist deswegen besonders schwierig. Es ist ein Job, bei dem viel gesprochen, gelesen, geschrieben wird - auf Verwaltungsdeutsch.
Kollegen fragten: Wie sicher ist es, sie einzustellen?
Bei ihrem Vorstellungsgespräch im vergangenen November erzählte Neda Mohammadian, dass sie im Iran Informatik studiert hatte. Ihre Stärke? „Habe fleißig gesagt.“ Ihre Schwäche? „Bin ein wenig zurückhaltend.“
Peter Lutz ist Leiter der internen Verwaltung aller Berliner Arbeitsämter. Er erinnert sich noch gut an die Gespräche im Winter. Die, die kamen, seien extrem engagiert gewesen. Doch weil die meisten Flüchtlinge die duale Ausbildung in Betrieb und Berufsschule nicht kennen, bewarben sich nur 23 Mädchen und Jungen. Lutz zweifelte, ob das Experiment gelingt. Er und sein Team hatten kaum Erfahrung mit geflüchteten Menschen. Und die Neuankömmlinge kaum mit der deutschen Verwaltung - jedenfalls keine gute.
Viel hat sich Peter Lutz anhören müssen: Die arabischen Männer lassen sich doch nichts von einer Lehrerin sagen! Die verstehen doch kaum Deutsch. Tragen die Frauen ein Kopftuch? Wie sicher ist es, sie einzustellen? Was, wenn ein Terrorist unter ihnen ist?
Bisher, sagt Lutz, gebe es keine Probleme zwischen Frauen und Männern. Ein polizeiliches Führungszeugnis mussten aber alle Bewerber vorlegen.
50 Meter entfernt hängt ein Wahlplakat der NPD
Die Mitarbeiter der Arbeitsagentur wurden vorab über das Programm informiert. Die meisten seien offen dafür gewesen, sagt Lutz. „Manche zeigten aber schon eine gewisse Antihaltung.“ Das Kollegium bilde nunmal die Bandbreite der Gesellschaft ab. In Bezirken wie Mitte, Kreuzberg und Neukölln würden Kunden und Mitarbeiter mit ausländischem Aussehen kaum noch auffallen.
Doch das hier ist nicht Neukölln.
50 Meter entfernt von dem Tresen, hinter dem Neda Mohammadian sitzt, hängt ein Wahlplakat der NPD. Der Bezirk ist berüchtigt. In diesem Jahr wurde in Marzahn-Hellersdorf eine schwangere Geflüchtete auf einem Parkplatz verletzt. Ein Mann bedrohte eine Gruppe Flüchtlingskinder mit einem Messer. Eine Gruppe Neonazis belagerte eine Flüchtlingsunterkunft, hetzte Hunde auf die Bewohner. Aus einem Auto heraus, das an einem Heim vorbeifuhr, fielen Schüsse. Und seit 2013 das Asylbewerberwohnheim in der Carola-Neher-Straße errichtet wurde, gab es immer wieder Demonstrationen von Rechten und Anwohnern. Dass längst nicht alle so verständnisvoll sind wie Mutti, ist nur eines der vielen Dinge, die Neda Mohammadian über Deutschland noch wird lernen müssen.
Der Lehrer mahnt: In ganzen Sätzen! Auch wenn es falsch ist!
Den ersten Tag ihrer Ausbildung hatten Mohammadian und ihre Mitschüler aus Syrien, Afghanistan, Iran, Kamerun und Aserbaidschan Anfang des Jahres. Zuerst gab es sechs Wochen Deutschunterricht. Danach zwei Tage die Woche Praktikum und drei Tage Unterricht. Mathe, Deutsch, Politik, Gesellschaftskunde.
Eine Unterrichtsstunde im Frühjahr, Neda Mohammadian sitzt in ihrer Klasse. Die Schüler sollen erklären, was das Verfassungsgericht macht. „Legen Sie bitte das Handy weg“, sagt der Lehrer zu einem jungen Mann aus Syrien. Es dauert ein paar Minuten, bis sich jemand meldet. „Überprüft Gesetze und nicht Menschen“, sagt einer der Schüler. Der Lehrer mahnt: In ganzen Sätzen! Auch wenn es falsch ist!
Später fragt er: Was heißt Gewaltenteilung? Aus der letzten Reihe ruft einer: „Was, Gewalt? In Deutschland?“ Weil einige von ihnen Angst vor Behörden und Uniformen, haben, besuchte die Klasse schon die Polizei. Ein anderes Mal den Bundestag. Der Mix der verschiedenen Sprachen und Kulturen führt zu einigen Missverständnissen. Beim Begriff „Kundenfreundlichkeit“ dachten zum Beispiel einige Schüler, der Kunde müsse freundlich sein. Und als Verwaltungschef Lutz eine Klasse mal mit aufgestelltem Daumen lobte, waren einige irritiert. In manchen Ländern des Mittleren Ostens gilt die Geste als obszöne Beleidigung oder Aufforderung zum gleichgeschlechtlichen Sex.
Sie will wählen können und frei leben
Über das Leben, das sie hinter sich gelassen hat, spricht Neda Mohammadian nicht gerne, und versucht es dann doch. Im Iran habe sie zwar studieren können, aber Informatik sei eine Männerdomäne. Sie hätte nur mit Frauen zusammenarbeiten dürfen und ein Kopftuch tragen müssen, was sie ablehnt. „Ich möchte mich so kleiden, so arbeiten, so leben wie ich will“, sagt sie. Sie will wählen können, nicht von einem Mann abhängig sein. „Wer im Iran keinen Job hat“, sagt sie, „lebt auf der Straße.“ Dass sie hier anderen Arbeit vermittelt, musste sie ihren Eltern und Freunden erklären. Was sie tut, begreift in ihrer Heimat sonst niemand.
Noch weniger gern spricht sie über ihre Flucht. Sie war mit einer Gruppe unterwegs, kannte niemanden. Die tausend Kilometer bis zur türkischen Grenze ist sie zum Großteil gelaufen. Ab und zu waren sie auch im Auto unterwegs. Neda Mohammadian konnte nicht schlafen, nicht essen ... - sie hört auf zu erzählen. „Sonst geht es mir sehr schlecht“, sagt sie. Als sie in Berlin ankam, hatte sie einen Hörsturz, war tagelang fast taub. Der Stress, die Anstrengung seien schuld, sagte der Arzt.
Die Worte waren einfach verschwunden
All die Erfahrungen, über die sie nicht nachdenken möchte, belasten sie. Als sie im Juli eine Prüfung hatte, war sie furchtbar aufgeregt. Sie sollte definieren, was ein Dienstleister ist. „Ich wusste es, aber konnte nicht reden“, sagt Neda Mohammadian. Die Worte waren einfach aus ihrem Gedächtnis verschwunden. „Habe gedacht, dass ich nicht geschafft habe“, sagt sie. „Habe viel geweint.“
Heute macht es ihr keine Angst mehr, dass sie noch nicht ganz korrekt spricht. Am Empfangstresen lächelt Neda Mohammadian jetzt höflich, wenn sie etwas nicht versteht, fragt nach. Sie fühlt sich etwas sicherer. Vor zwei Wochen wurde ihre Aufenthaltsgenehmigung bis 2017 verlängert. Ihr Asylverfahren steht noch aus. Doch weil sie eine Ausbildung hat, müsste sie fünf Jahre bleiben dürfen.
Bald ist Mittagspause, die verbringt Neda Mohammadian oft mit Mutti. Die beiden Frauen treffen sich inzwischen auch nach Feierabend. Geht es nach Mohammadian, sind sie ja vielleicht auch bald Nachbarn.
Morgen jedenfalls wird Mohammadian wieder zur Bundesagentur für Arbeit kommen. Sie freut sich schon darauf. Stechuhren, sagt sie, mag sie auch.