Venezuela: Mit Schüssen zurück zur alten Ordnung
"Maduro fällt" rufen die Aktivisten, doch die Euphorie endet schnell angesichts der Gewalt von Venezuelas Militär. Brutal hat Maduro seine Macht gesichert.
Samstagvormittag sind sie noch ausgelassen, „die Kette darf nicht reißen“, ruft ein Mann mit blauer Weste ins Mikrofon. Auf seinem Rücken steht „Koalition für Hilfe und Freiheit“, in wenigen Minuten sollen Hilfstransporte mit tonnenweise Lebensmitteln und Medikamenten hier über die Grenzbrücke mit dem Namen Simón Bolivars rollen, des Nationalhelden und Kriegsherren, der einst die Spanier aus Südamerika vertrieb.
Damit das gelingt, damit die Lastwagen unbehelligt vom kolumbianischen Cúcuta hinüber nach Venezuela gelangen, haben die freiwilligen Helfer der venezolanischen Opposition entlang der Strecke eine Menschenkette gebildet. Lebende Schutzschilde links und rechts der Straße.
Die Menschen feiern, singen, machen Selfies. Viele von ihnen sind seit 7 Uhr morgens hier, da räumten sie Absperrgitter beiseite und warfen sie hinunter in den Rio Tachira. Sie scheinen fest davon überzeugt, dass ihr Plan aufgeht. Dass die Militärs drüben in Venezuela die wochenlang angekündigte und vorbereitete Hilfe passieren lassen – auf den Weg gebracht von Juan Guaidó, dem selbsternannten Übergangspräsidenten Venezuelas, mit Hilfe Chiles, Brasiliens und der Vereinigten Staaten – und damit die Autorität des Staatschefs Nicolás Maduro untergraben wird.
Auf der anderen Seite schießen sie
Guaidó hatte Maduro aufgefordert, spätestens bis zum 23. Februar die Grenze für die Konvois zu öffnen, Maduro sieht darin eine versteckte Militärintervention der USA.
Ein kräftiger Wind weht über die Brücke, er wirbelt Staub und Sand auf, „es liegt was in der Luft“, ruft ein Helfer. Und dann kommen die Lastwagen. Dutzende Menschen sitzen auf den Ladeflächen, überall sind kleine venezolanische Flaggen zu sehen. „Maduro fällt“, rufen sie von den Lkw herunter, andere schreien: „Ende der Diktatur“.
Ein paar Stunden später ist von der Euphorie nichts mehr zu spüren. Stattdessen kommen die Venezolaner, die am Vormittag noch so voller Hoffnung waren, weinend und fassungslos zurück. Sicherheitskräfte auf der anderen Seite schießen. Mit Tränengas und Gummigeschossen, und laut Amnesty International in einigen Landesteilen auch mit Sturmgewehren.
Die einen hatten Flaggen, die anderen Gewehre. Die alte venezolanische Ordnung ist wieder hergestellt. Die kolumbianische Regierung ordnet die Rückkehr der Lastwagen an, Maduro bricht die diplomatischen Beziehungen zu Kolumbien ab. Auf einer Kundgebung in der Hauptstadt Caracas sagt er, die „faschistische Regierung Kolumbiens“ solle ihre Vertreter binnen 24 Stunden aus Venezuela abziehen.
„Ein kranker Tyrann“
US-Außenminister Mike Pompeo twittert: „The U.S. will take action …“ – die USA werden Maßnahmen ergreifen, „gegen jene, die sich der friedlichen Wiederherstellung der Demokratie in Venezuela widersetzen.“ Und: „Was für ein kranker Tyrann stoppt Nahrung für hungrige Menschen?“
Marco Rubio, US-Senator aus Florida und Donald Trumps Berater in Südamerika-Belangen, sendet ähnlich wütend klingende Tweets, auch Guaidó twittert, die „Ereignisse zwingen mich zu einer Entscheidung“. Er rufe nun das Ausland dazu auf, alle „Optionen“ für die Befreiung seiner Heimat in Betracht zu ziehen. Alle Optionen. Er übernimmt damit die Wortwahl Donald Trumps, der zur Frage nach einem militärischen Eingreifen erklärt hatte, alle Optionen stünden offen.
Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini äußert sich beschreibend: „Die Weigerung des Regimes, die humanitäre Notlage anzuerkennen, führt zu einer Eskalation der Spannungen“, erklärt sie am Sonntag im Namen aller 28 EU-Staaten. „Wir fordern die Strafverfolgungs- und Sicherheitsbehörden nachdrücklich dazu auf, Zurückhaltung zu zeigen, den Gebrauch von Gewalt zu vermeiden und den Eintritt von Hilfe zuzulassen.“
Sie füllen die Rucksäcke mit Steinen
Bei den Kämpfen seien allein auf kolumbianischem Gebiet 285 Menschen verletzt worden, erklärt Kolumbiens Außenminister. Mehr als 60 venezolanische Militärs seien im Lauf des Tages nach Kolumbien desertiert. Ein Video, verbreitet von kolumbianischen Behörden, zeigt drei davon und wie sie auf der Simón-Bolivar-Brücke durch die Menge laufen, Sturmgewehre und Pistolen über ihren Köpfen haltend.
Ein übergelaufener Offizier der Nationalgarde sagt dem kolumbianischen Fernsehsender RCN: „Wir haben den Befehl, die Karawane aufzuhalten, notfalls auch mit Waffen.“
Doch ein Großteil des Militärs bleibt loyal zum sozialistischen Machthaber Maduro. Das sorgt für Wut bei vielen auf und an der Brücke. Immer mehr greifen zu ihren Rucksäcken, füllen sie mit Kieselsteinen aus dem Fluss Tachira.
Ein Teil der Protestierer bleibt dort unten, wirft von dort aus mit den Steinen auf die venezolanischen Militärs. Die schießen von oben, alle paar Minuten werden Verletzte aus der wütenden Menge gezogen. Ein Mann mit einem meterlangen Holzkreuz begleitet nahezu jeden von ihnen auf seinem Weg zu den Krankenwagen. „Sie schießen auf uns“, ruft er und zeigt auf die Wunde eines am Bein verletzten Mannes.
Die Kolumbianer tun nichts
Auch im Grenzgebiet zwischen Venezuela und Brasilien kommt es zu schweren Auseinandersetzungen. In Santa Elena de Uairén sterben nach Angaben einer venezolanischen Menschenrechtsorganisation vier Menschen bei Protesten, einer war ein 14 Jahre alt gewordener Junge. Soldaten sollen das Feuer auf sie eröffnet haben.
Ein in Puerto Rico ausgelaufenes Schiff mit 250 Tonnen Hilfsgütern wird von der venezolanischen Kriegsmarine gestoppt. Nachdem die venezolanische Seite gedroht habe, das Feuer auf den Frachter zu eröffnen, ordnete der puertoricanische Gouverneur dessen Rückkehr an.
An der Simón-Bolivar-Brücke in Cúcuta leisten die Sanitäter Schwerstarbeit. Angesichts der Nachrichten von einer immer größeren Zahl von Verletzten und von Erschossenen in anderen Landesteilen wächst die Wut der Menschenmenge, einige flehen die kolumbianischen Militärs an einzugreifen. Doch die tun nichts. Täten sie etwas, würden sie also die Venezolaner mit Waffengewalt unterstützen, könnte das Krieg auslösen.
Zu diesem Zeitpunkt ist das unbekümmerte Lachen, die Zuversicht auch längst aus dem Gesicht von Juan Guaidó verschwunden. Am Tag zuvor war er über die Grenze gekommen – obwohl ihn die treu zu Maduro stehende Justiz Venezuelas mit einer Ausreisesperre belegt hat. Lachend war er eingetroffen, beteuernd, venezolanische Militärs hätten ihm dabei geholfen. Mitstreiter hatten den Grenzübertritt per Handy dokumentiert.
Maduro hat seine Kräfte in Caracas gebündelt
Ein klein wenig wirkte das wie bei einem Teenager, dem ein Streich gelingt. Doch der inzwischen enorm populäre Parlamentspräsident weiß nun wohl wirklich, was es heißt, sich mit einem der brutalsten Politiker Lateinamerikas anzulegen.
Auch aus den Gesichtern seiner prominenten Unterstützer, den Präsidenten Kolumbiens und Chiles und dem Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten, ist die Zuversicht gewichen. Am Freitag hatten sie bei einem vom britischen Unternehmer Richard Branson organisierten Benefizkonzert direkt an der Grenze noch gemeinsam in die Kameras gestrahlt.
Maduro hat seine Kräfte in Caracas gebündelt. Er schafft es, einige tausend Anhänger in der Hauptstadt zu versammeln. Er ruft ins Mikrofon, dass er noch viele Jahre regieren werde. Seine Gegner nennt er trotz deren klaren Wahlsieges bei den letzten freien Parlamentswahlen die oppositionelle Minderheit. An diesem Pult steht niemand, der bereit ist auch nur ein wenig von seiner Macht abzugeben.
Sie zünden einen Bus an, werfen Steine
Gut zehn Kilometer nördlich der nach Simón Bolivar benannten Brücke von Cúcuta steht eine weitere, sie trägt den Namen seines Zeitgenossen und Waffenbruders Francisco de Paula Santander. Auch hier sollten Lastwagen die Grenze überqueren. Zwei von ihnen gehen in Flammen auf. Laut venezolanischer Opposition sollen dafür Sicherheitskräfte der venezolanischen Armee verantwortlich sein. Maduros Sender verbreiten dagegen, dass es die Opposition selber war, die Feuer gelegt haben soll.
Im Cúcuta gegenüberliegenden Urena errichten Protestierer Barrikaden aus brennenden Reifen, zünden einen Bus an, werfen Steine. In San Antonio, dem Ort, in den die Simón-Bolivar-Brücke führt, macht Reuters-TV Fernsehaufnahmen. Sie zeigen zwölf schwarzgekleidete Männer mit Sturmhauben auf Motorrädern. Sie schießen mit Pistolen und Schrotflinten in die Menge, die sich auch hier versammelt hat.
Einige haben weiße Nelken dabei
Guaidós Plan, Maduros Autorität auszuhebeln, ist gescheitert. Innerhalb weniger Stunden steht der Herausforderer relativ hilflos da. Sollte er nach Venezuela zurückkehren, droht ihm wegen seines Grenzübertritts nun die Verhaftung durch die Maduro-Justiz. Am Montag will er sich mit der Gruppe von Lima treffen, ein wegen der Venezuela-Krise gegründetes Bündnis 14 südamerikanischer Länder. In Kolumbiens Hauptstadt Bogota wird auch US-Vizepräsident Mike Pence dabei sein.
So mächtig die außenpolitischen Verbündeten Guaidós auch sein mögen: Er ist ein machtloser Interimspräsident, dem die Sympathien der Mehrheit der Venezolaner gehören, doch der keinerlei Zugriff auf die Institutionen hat.
An der Simón-Bolivar-Brücke sind die wenigen Lokale, die geöffnet haben, überfüllt. Die Menschen starren auf Bildschirme, viele haben Tränen in den Augen. Einige haben weiße Nelken dabei, die sie den Soldaten geben wollten. Dann ruft einer „Libertad, Libertad“. Alle stimmen ein.
Nach Mitteilung von Menschenrechtsgruppen sollen im gesamten Grenzgebiet 29 Menschen von Soldaten angeschossen worden sein.
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