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Carlo Chatrian wird die Berlinale verändern. Auf der Piazza Grande in Locarno zeigt er vor 8000 Zuschauern auch Hollywoodfilme.
© Urs Flueeler/Keystone/dpa

Carlo Chatrian: Mediterranes Flair für die Berlinale

Schnelldenker, Schnellsprecher – ein Kino-Intellektueller mit Faible fürs Populäre: Carlo Chatrian wird neuer Chef der Berlinale. Wie man das Publikum gewinnt, hat er in Locarno bewiesen.

Die Piazza Grande in Locarno ist das schönste Freiluftkino der Welt. 8000 Plätze auf dem von alten Bürgerhäusern gesäumten Kopfsteinpflaster, am Horizont die Alpensilhouette, und über der Leinwand wölbt sich der Sternenhimmel. Manchmal zischt eine Sternschnuppe hinunter.

Die Piazza Grande ist die Bühne von Carlo Chatrian, im August, wenn dort das alljährliche Filmfestival läuft. Wenn es einen Inbegriff von Publikumsfestival gibt, materialisiert er sich hier, im Herzen der mittelalterlichen Stadt am Lago Maggiore. Einen Film auf der Piazza zu sehen, ist das Kinogemeinschaftserlebnis schlechthin, von den Stechmücken abgesehen.

Es ist also keine schlechte Nachricht, dass Festivalleiter Chatrian nach sechs Jahren in Locarno die Nachfolge von Berlinale-Chef Dieter Kosslick antritt. Schließlich ist die Berlinale als weltgrößtes Publikumsfestival gleichsam die Piazza Grande unter den internationalen Filmfestspielen. An diesem Freitag tagt der Aufsichtsrat des KBB – der Kulturveranstaltungen des Bundes in Berlin – im Martin-Gropius-Bau. Der muss der Personalie noch zustimmen. Kulturstaatsministerin Monika Grütters wird den „Neuen“ dann offiziell verkünden.

Dieter Kosslick hört mit der 69. Berlinale auf

Carlo Chatrian tritt sein Amt voraussichtlich im März 2019 an, nachdem Kosslick sich im Februar mit der 69. Berlinale verabschiedet hat. Von dem Festival, das er so gründlich erneuert und verjüngt hat, vom Berlinale-Publikum, das ihm am Herzen liegt und in dessen Dienst er seine Arbeit immer gestellt hat, sein Programm, seinen Charme, sein politisches Engagement – seit dann 18 Jahren.

Also wieder ein Mann, auch wenn bei den wichtigen Kulturposten in Berlin – Theaterchefs, Humboldt-Intendanz – der Ruf nach Frauen auf dem Chefsessel zuletzt immer lauter wurde. Aber: eine internationale Wahl. Die Protestbriefschreiber vom November 2017, die 79 Kulturschaffenden, die eine Erneuerung und Entschlackung der Berlinale forderten, wünschen sich „eine herausragende kuratorische Persönlichkeit, die für das Kino brennt, weltweit bestens vernetzt und in der Lage ist, das Festival auf Augenhöhe mit Cannes und Venedig in die Zukunft zu führen“. Fürs Erste trifft das auf Chatrian zu.

Er zeigt keine Berührungsängste mit Hollywood

Chatrian, 1971 in Turin geboren, stammt aus einem Lehrerhaushalt, Mathe, Physik – und ein Filmclub in der Schule. Er studiert in seiner Heimatstadt Literatur und Philosophie, schreibt nebenher für italienische Filmmagazine und arbeitet schon bald für Festivals, Kinematheken und Museen, in Turin, Florenz, Nyon oder Lausanne. In Locarno programmiert er seit 2002 mit. Von 2006 bis 2009 wählt er die Wettbewerbsfilme mit aus, 2008 kuratiert er die Retrospektive, 2012 wird er zum künstlerischen Leiter berufen.

Chatrian – man spricht ihn „Tschatrian“ aus – ist ein Cinephiler, wie er im Buche steht. Er hat Monografien über Hongkongs Meisterregisseur Wong Kar Wai und über große Dokumentaristen wie Errol Morris oder Johan van der Keuken geschrieben, er könnte stundenlang über den Dokumentarfilm und das internationale Autorenkino reden und zeigt keine Berührungsängste mit Hollywood.

Vor Tausenden Zuschauern hat er gefremdelt

Auch wenn man nur spekulieren kann, wie er die Berlinale ausrichten wird, dürfte sich die Außendarstellung des Festivals ändern. Das Profil des 46-jährigen dreifachen Familienvaters, der bisher in einem Dorf im italienischen Aostatal wohnte, unterscheidet sich deutlich von dem seines Vorgängers. Dieter Kosslick kam über Hamburg und die Filmförderung in Nordrhein-Westfalen zur Berlinale, er scheut die große Bühne nicht. Chatrian, ein Kino-Intellektueller mit einem Faible fürs Populäre, soll zunächst ein wenig gefremdelt haben, wenn er auf der Piazza Grande vor Tausenden von Besuchern eine Premiere ankündigte.

Ähnlich wie Kosslick ist Carlo Chatrian ein Schnelldenker und Schnellsprecher, der mit großer Leidenschaft für das Kino lebt und stets den Dialog sucht, mit ausgezeichneten Networking-Fähigkeiten und der Gabe, Entwicklungen frühzeitig zu erkennen. Chatrian ist neugierig, das Kino ist für ihn ein Ort für Entdeckungen. Das schlägt sich auch im Programm von Locarno nieder.

Manche halten ihm seine Radikalität vor

Vor zwei Jahren kamen acht der 17 Filme im Wettbewerb von Regisseurinnen. Die beste Quote unter den großen Festivals. Auch für den philippinischen Guerillafilmemacher Lav Diaz, der vor 2016 mit seinem achtstündigen „A Lullaby to the Sorrowful Mystery“ einen ganzen Wettbewerbstag der Berlinale in Beschlag nahm, engagierte Chatrian sich. Als erster Leiter eines A-Festivals nahm er ihn 2014 in den Wettbewerb. Prompt gewann Diaz den Hauptpreis, den Goldenen Leoparden.

Seine Radikalität wird Chatrian gelegentlich auch vorgehalten, Locarno hat sich unter seiner Leitung den Ruf eines auch elitären Festivals erworben. Mit dem Vorwurf kann Chatrian wenig anfangen. Schließlich ist es ihm gelungen, im Windschatten der Oscar-Showbühne Venedig – die keine vier Wochen nach Locarno eröffnet – die großen Hollywoodstudios an den Lago Maggiore zu locken. Er macht Programm fürs Publikum, ohne gefällig zu sein.

Unberechenbar bleiben: Das ist sein Ziel

„Wenn man ein Festival programmiert, gilt die Regel: Eins plus eins ergibt drei. Bringt man Verschiedenes zusammen, entsteht ein Mehrwert.“ Chatrian setzt auf Gegensätze, auf Vielfalt, will gerade im Wettbewerb unberechenbar bleiben. Damit könnte er Kosslicks Kurs fortsetzen. Auch Locarno hat Chatrian bei seinem Amtsantritt nicht umgekrempelt. Aber er hat Akzente gesetzt, zuletzt etwa mehr Filmdiskussionen eingeführt.

Carlo Chatrian arbeitet gern hinter den Kulissen, er sagt: „Mein Job ist es, die Filmemacher vor mich zu stellen.“ Ein Sprücheklopfer ist der künftige Leiter schon gar nicht. Noch vor einem Jahr, als sein Name erstmals als potenzieller KosslickNachfolger kursierte, wiegelte er im Interview mit „Zeit Online“ ab. Für ein derart großes Festival wie die Berlinale sei er wohl nicht der Richtige. Außerdem spreche er kein Deutsch.

Letzteres dürfte für den ansonsten polyglotten Italiener kein Hindernis sein. Ohnehin operiert die Berlinale heute, gegen die wachsende Konkurrenz aus Venedig und mit dem zweitgrößten Filmmarkt nach Cannes, auf internationalem Niveau.

Der fünfte Berlinale-Chef in 70 Jahren

Qualifizierte Kandidatinnen oder Kandidaten, die sowohl die Kontakte als auch administrative Erfahrung mitbringen, finden sich im deutschsprachigen Raum nicht so leicht. Auch darum musste die Findungskommission um Kulturstaatsministerin Grütters ihre Suche von Anfang an ausweiten. Und: Chatrian ist nicht der erste Chef in der Berliner Kulturszene mit anderem Idiom. Simon Rattle, der scheidende Philharmoniker-Maestro, oder Ben Gibson, der neue Direktor der Film- und Fernsehakademie, sie konnten beide kein Deutsch, als sie an die Spree kamen.

Carlo Chatrian wird der fünfte Berlinale-Chef seit dem Startjahr 1951. Auf den Gründungsdirektor Alfred Bauer, der die Berlinale als Publikumsereignis etablierte – zunächst sogar mit einem Publikumspreis anstelle der Bären –, folgte ein kurzes, folgenreiches Zwischenspiel des Publizisten Wolf Donner, der das Festival vom Sommer in den Winter verlegte. Das machte die Berlinale als internationale Startrampe für die Oscar-Anwärter attraktiv. Moritz de Hadeln festigte dann bis 2000 den Ruf der Berlinale als Ost-West-Drehscheibe, auch nach dem Fall der Mauer. Und der Modernisierer Kosslick musste mit der Herausforderung leben, dass die Verlegung der Oscar-Gala vom April auf Ende Februar/Anfang März der Berlinale bei der Hollywoodpräsenz das Wasser abgrub.

Immerhin ist Chatrian der Erste, der von einer Findungskommission gesucht wurde. Und zwar von einer, die sich von Experten beraten ließ und tatsächlich in der ganzen Filmwelt nach einem geeigneten Chef fahndete, das gab es so noch nie. Bei der Wahl Wolf Donners 1975 hatte man sich nach einer Zeitungsannonce kurzerhand für einen Kandidaten aus den eigenen Reihen entschieden. Bei de Hadeln 1978 sprach das gesamte Kuratorium mit den Kandidaten. Und Dieter Kosslick war der Favorit des damaligen Kulturstaatsministers Michael Naumann.

Ein zweiter Name fehlt noch. Es ist eine Frau

Diesmal wurde die Kommission im Dezember 2017 aus den Reihen des KBB-Aufsichtsrats bestückt, mit Monika Grütters, Mariette Rissenbeek, der Geschäftsführerin von German Films – die Einrichtung bewirbt den deutschen Film im Ausland – und mit Björn Böhning, damals noch Berliner Senatskanzleichef. Inzwischen firmiert Böhning als Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit und Soziales, er sitzt nicht mehr im Aufsichtsrat, blieb aber Findungskommissionär.

Vier Bundespolitiker, vier Vertreter des Landes Berlin, vier Führungspersönlichkeiten aus der Kunst- und Kulturszene, darunter Ulrich Khuon als Intendant des Deutschen Theaters und die Generaldirektorin der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, Marion Ackermann: Die Zwölferrunde muss noch Ja zu Carlo Chatrian sagen – und dazu einen zweiten Namen absegnen, eine Neuerung in der Berlinale-Leitungsstruktur. Die Aufgaben werden künftig geteilt, zwischen kaufmännischer und künstlerischer Leitung. Wobei Chatrian als Chefkurator und Programmmacher die inhaltliche Linie bestimmen wird, so unabhängig wie möglich.

Zwar klingt Doppelspitze auf Augenhöhe eigentlich besser. Aber hier kommen die Kunst und das Programm zuerst, vor den Sponsoren-, Personal-, Marketing- und Finanzfragen.

Der Name der zweiten Person ist noch nicht durchgesickert. Fest steht, es ist eine Frau, eine, die das Berliner Pflaster gut kennt. Es darf weiter spekuliert werden: Eine gestandene Filmförderin wie die viel gehandelte Medienboard-Chefin Kirsten Niehuus oder NRW-Filmstiftungs-Chefin Petra Müller wird sich kaum auf solch eine unterstützende, begleitende Funktion einlassen. Vielleicht ja Anne Leppin? Die Geschäftsführerin der Deutschen Filmakademie ist als langjährige Produzentin und Herstellungsleiterin eng verbandelt mit der deutschen Filmszene. Am Freitag kurz nach 14 Uhr soll die Besetzung des Postens verkündet werden. Und vielleicht ja auch die genaue Arbeitsteilung.

Zu viele Unterschefs – das soll sich ändern

Das Duo hat einiges vor sich. Nein, entschlacken muss es das Festival nicht, wie in der Protestnote vom November gewünscht. Bei fast einer halben Million Zuschauern in zehn Februartagen sollte das Programm umfänglich und vielfältig bleiben. Auch die nach außen so elegante, leichthändige Organisation wünscht man sich weiter, die Freundlichkeit sowieso. Aber etwas mehr Ordnung in den über die Jahre ins Kraut geschossenen Sektionen mit ihren immer zahlreicheren Spezialreihen tut not.

Derzeit hat das Panorama eine Dreierspitze, auch das Forum wird interimistisch von drei Chefinnen geleitet. Zu viele Unterchefs – auch das sollte sich ändern.

Und da ist die Oscar-Frage. Muss die Berlinale die hochkarätigen Arthouse-Werke und Star-Vehikel aus den Vereinigten Staaten weiter Venedig und Toronto überlassen? Oder lässt sich mit einer Vorverlegung in den eigentlich unattraktiven Januar vielleicht doch der ein oder andere Oscar-Anwärter ergattern, als Europastart außer Konkurrenz im Friedrichstadt-Palast?

Ach ja, die Winterspiele. Dieter Kosslicks sonniges Gemüt ließ die Kälte manchmal vergessen. Die Wahl des Italieners vom Lago lässt sich auch so deuten: dass die Berlinale gar nicht genug mediterranes Flair brauchen kann.

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