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Alessandra De Rossi in Lav Diaz’ Acht-Stunden-Film.
©  Bradley Liew

„A Lullaby to the Sorrowful Mystery“ auf der Berlinale: Der Dichter, der Dschungel und die Revolution

Acht Stunden geht dieser Wettbewerbsfilm: „A Lullaby to the Sorrowful Mystery“ des Philippiners Lav Diaz. Eine Stunde wirkt wie eine Ewigkeit, aber nach vier Stunden versteht man, was der Regisseur will.

Acht Stunden! Drei Pressevorführungen und drei Publikumsvorstellungen passen sonst in einen Wettbewerbstag. Hier nun erschienen Regisseur und Schauspieler gewissermaßen schon vor dem Frühstück in Abendgarderobe. Ob auch sie sich fürchteten vor den acht Stunden?

Dieses, nunja, Zeitfenster besitzt den Vorzug, dass man Gedichte ganz rezitieren kann, auch sehr lange, und am Ende des 19. Jahrhunderts neigten die Dichter per se zu einer gewissen Ausführlichkeit, erst recht die Vaterlandsdichter. Tenor: „Und brauchst du Scharlach für deinen Morgen, so vergieße mein Blut!“

Im Geist des todgeweihten Poeten

Diese Ode an sein philippinisches Vaterland, „Mi último adiós“, „Mein letztes Lebewohl“, schrieb der Autor, Patriot, Arzt und Freimaurer José Rizal in der Nacht vor seiner Hinrichtung am 30. Dezember 1896, und wir werden Zeuge, wie das Gedicht sich im Geist des todgeweihten Poeten formt, Zeile um Zeile. Das ist angreifend.

Das ist unzweifelhaft philippinisches Autorenkino. Jedes Land hat das Recht auf sein Autorenkino, auch die Philippinen, selbst wenn die Besonderheit des Autorenkinos darin liegen sollte, dass dem Betrachter oft schon eine Stunde wie eine gefühlte Unendlichkeit vorkommt.

Diaz hat schon einen Elfstünder gedreht

Und welcher Nicht-Philippiner hätte den Namen José Rizal schon gehört? Eine durchaus bedenkliche Erkundigung. Denn dieser philippinische Nationalheld, der am Beginn der Revolution von 1896 stand, studierte einst in Heidelberg Medizin, er illustrierte Wilhelm Buschs „Max und Moritz“, wurde 1887 Mitglied der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte ... So nah also. Aber was wissen wir schon?

Regisseur Lav Diaz, der schon einen Elfstünder gedreht hat, zeigt Rizals Hinrichtung nur in den Augen der Umstehenden, und natürlich macht dieser Tod die Aufständischen noch aufständischer. Nieder mit Spanien, der Unterdrückerin des philippinischen Volkes seit 300 Jahren!

Durch das Äußerliche das Inwendige entdecken

Die Revolution sehen wir nicht, aber dafür singt jemand ein Lied, in Originallänge natürlich, und kaum ist er fertig, trifft ihn der blutige Arm der Reaktion. So weit die Vorgeschichte, erst jetzt betritt „Hele Sa Hiwagang Hapis – A Lullaby to the Sorrowful Mystery“ sein eigentliches Reich, aus dem er und wir mehr als sieben Stunden nicht herauskommen werden: den philippinischen Urwald. Autorenkino: Durch das ganz Äußerliche das Inwendige entdecken! Ohne jede Verdichtung. Man nennt das auch „ambitioniert“.

Drei Frauen und ein sechs Stunden lang schwer hustender Mann suchen den verschwundenen Revolutionsführer Andrés Bonifacio y de Castro, denn eine der Frauen ist die seine. Das hat einen durchaus begrenzten Unterhaltungswert, und warum ist der Dschungel eigentlich schwarz-weiß? Weil wir uns auf das Wesentliche konzentrieren sollen und nicht auf die Farben der Schmetterlinge.

Eine unglückliche Liebe zur Metapher

Einzige Abwechslung: die Komplizen der spanischen Unterdrücker, Mann und Frau. Sie neigt zu Schlürfgeräuschen, er schickt zum Zeichen seiner Miserabilität jedem seiner Sätze ein peinigendes Hohngelächter voraus. Oder sind die beiden nur eine Metapher? Das Autorenkino hatte schon immer eine unglückliche Liebe zur Metapher.

Und während man noch darüber nachdenkt, ob das menschliche Lachen vielleicht als Hohngelächter begonnen hat, ist die erste Halbzeit vorüber. Und ja, diese Kritik wäre nach den ersten vier Stunden wohl auch ein Hohngelächter geworden. Aber dann beginnt man zu begreifen, was Diaz will und wozu er uns acht Stunden als Geisel nehmen muss. Nun zieht hauptsächlich eine zweite Gruppe durch den Dschungel: Ein angeschossener Mann wird durch den Wald getragen, und zwar von einem, der nicht auf diesen zynischen Verächter des eigenen Volkes schießen wollte, sein Freund aber hat es getan. Dabei hasst der Retter wider Willen ihn nicht minder, doch irgendetwas zwingt ihn, den Lungenschuss nicht im Urwald liegen zu lassen: die Menschlichkeit? Gegenüber einem Volksverräter? Der Lungenschuss philosophiert inzwischen über die Freiheit der Kunst.

Ende des Hasses

Als wir schon nicht mehr daran glauben, öffnet sich der Wald und vor uns liegt das Meer. Vor uns? Jawohl, vor uns. Endlich ein anderes Geräusch, Brandung statt Dschungellaut. Dankbarkeit. Läuterung. Glück des Gedankens, der Einsicht. Der Lungenschuss ist ein anderer geworden durch den Marsch seiner Qual, seiner Rettung, ebenso wie der Rettende. Und wir. Auch die Paralleldschungelläufer- Gruppe bricht ihre Suche nach dem Revolutionsführer ab. Ende des Hasses.

Manche Einsichten, vielleicht die tiefsten, begegnen uns nur auf den langen Wegen. Versucht man sie aber in Worte zu fassen, bleibt nur eine Beinahe-Trivialität: Etwa, dass die Freiheit von den Spaniern nur ein Anfang, kein Ende ist. Und dass es keine größere Bürde gibt als eben diese Freiheit. Und dass sie dort liegt, wo keiner sie anfangs vermutet hätte: jenseits des Hasses. Ja sogar jenseits der Revolution.

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