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Hereinspaziert. Die Rezeption des „Grand Budapest Hotel“ wurde in einem alten Kaufhaus aufgebaut. Die Görlitzer spielten die Gäste.
© Studio Babelsberg AG

Görlitz und die Oscars: Lobbyarbeit - Was "Grand Budapest Hotel" für die Stadt bedeutet

Neun Oscars! Aber die Nominierung für die wichtigste Hauptdarstellerin haben die Amerikaner vergessen: Görlitz. Die Stadt in Sachsen war fast verloren, da kam Hollywood. „Grand Budapest Hotel“ ist zu ihrem Homevideo geworden.

Wir sind für neun Oscars nominiert!

Die Görlitzer sprechen den Satz mit der gemessenen Würde von Menschen, die wissen, was sie geleistet haben, und leichtem Tremolo in der Stimme, die Betonung liegt auf der Zahl: neun Stück!

Bester Schnitt! Beste Maske! Bestes Drehbuch! Beste Regie! Bester Film! … Niemandem fallen alle neun auf einmal ein.

Schade nur, dass die Amerikaner bei der Verleihung an diesem Sonntag die Nominierung für die beste Hauptdarstellerin vergessen haben: Görlitz. Und für die weltbeste Komparserie: die Görlitzer. Genau vor zwei Jahren drehten die Görlitzer drei Monate lang einen Film, von Januar bis März. Ralph Fiennes, Adrien Brody, Tilda Swinton, Bill Murray, Willem Dafoe, Jeff Goldblum, Harvey Keitel, Jude Law, Owen Wilson, Lea Seydoux und viele andere halfen ihnen dabei.

Doch nach einem Vierteljahr, als die Neugörlitzer schon fast dazugehörten, als schon niemand mehr damit rechnete, waren sie plötzlich wieder weg und hinterließen eine gewisse Leere, eine leise Melancholie, ein Loch im Sein, in der Stadt. Im Fitnessstudio lief man nun nicht mehr Seite an Seite mit Owen Wilson („Nachts im Museum“, „Midnight in Paris“ und fast alle Wes-Anderson-Filme) oder Edward Norton („Fight Club“, „American History X“, „Birdman“) auf dem Laufband. Und in der Restauration „Lucie Schulte“ am Untermarkt fragte keiner mehr, ob er mal das Klavier benutzen dürfe. Jeff Goldblum („Jurassic Park“, „Independence Day“) spielte keinen Jazz mehr bei „Lucie Schulte“.

Gott sei Dank gab es Ablenkung: eine Bücherverbrennung

Nur gut, dass auf dem Untermarkt gleich darauf eine große Bücherverbrennung stattfand, das war zumindest eine gewisse Ablenkung. Die Bücherverbrennung gehörte schon zum nächsten Film, zur „Bücherdiebin“. Und dann wurde es Frühling, und die Saison begann wieder in der „schönsten Stadt Deutschlands“.

„The Grand Budapest Hotel“ eröffnete im letzten Jahr die Berlinale, sogar die Kritiker fanden ihn gut, er spielte weltweit 172,7 Millionen Dollar ein, aber eigentlich ist es ein Görlitz-Homevideo. Denn nur ein Görlitzer kann diesen Film wirklich verstehen.

Schon mit dem allerersten Bild fängt das an. Auf einer großen roten Ziegelmauer steht in riesigen weißen Buchstaben „Old Lutz Cemetery“. Welcher Friedhof bitte schreibt seinen Namen so außen dran?

Normalerweise steht da nämlich, mit denselben mauerhohen Buchstaben: „Wählt Thälmann!“

Schon mancher Ortsfremde, wenn er von der Neiße zum Unter- oder zum Obermarkt wollte, prallte hier zurück, als sei er, nun ja – im falschen Film. Das „Wählt Thälmann!“ ist nicht direkt ein Aufruf zum Klassenkampf, es gehörte zu einem Thälmann-Film, den die Defa in den achtziger Jahren drehte, und hinterher ging die Farbe nicht ab. Weshalb die Stadt die Mauer unter Schutz stellte, als künstlerisch besonders wertvoll. Etwas später wurde die Mauer für einen anderen Film überstrichen. Als die neue Schrift wieder entfernt wurde, ging das „Wählt Thälmann!“ gleich mit ab. Da sahen die Stadtväter keinen anderen Ausweg, als einen Kunstmaler aus Berlin kommen zu lassen, der die Buchstaben wieder originalgetreu anbringen musste. Und nun kam also Wes Anderson, der Texaner, und malte wieder drüber. Kerstin Gosewisch wird ihm gleich gesagt haben, dass da am Ende wieder „Wählt Thälmann!“ stehen muss.

Wie das Kaufhaus zum Hotel wurde

Hereinspaziert. Die Rezeption des „Grand Budapest Hotel“ wurde in einem alten Kaufhaus aufgebaut. Die Görlitzer spielten die Gäste.
Hereinspaziert. Die Rezeption des „Grand Budapest Hotel“ wurde in einem alten Kaufhaus aufgebaut. Die Görlitzer spielten die Gäste.
© Studio Babelsberg AG

Kerstin Gosewisch ist die Filmbeauftragte bei der Görlitzer Stadtverwaltung. Irgendwann, nachdem Jackie Chan 2003 am Untermarkt aus einem Fenster im dritten Stock sprang, um das Seil eines aufsteigenden Fesselballons zu fassen, schien die Einrichtung eines solchen Amtes sinnvoll. Chan unternahm die suizidale Aktion als Diener Passepartout des in 80 Tagen um die Welt reisenden Gentleman Phileas Fogg, der im Jahr 1880 aus Paris fliehen muss, weshalb der Untermarkt aussah wie das Paris von 1880. Paris selber hätte das nie so hinbekommen.

Die Görlitzer wussten gar nicht, was sie überzeugender finden sollten: Jackie Chan als Fensterspringer oder Jackie Chan („Jackie Chan – Die Superfaust“, „Jackie Chans Erstschlag“, „Sie nannten ihn Knochenbrecher“), wie er auf dem Fahrrad durch die Stadt fuhr und nach allen Seiten grüßte, wie man das in kleinen Städten macht.

Die Handlung von Jackie-Chan-Filmen ist gewöhnlich leicht verständlich, was schon seine Titel andeuten, bei einem Wes-Anderson-Film ist das etwas anders.

Im August 2012 lief Kerstin Gosewisch zum ersten Mal mit Wes Anderson durch ihre Heimatstadt. War es ein Zufall, dass sie einen Monat zuvor im Flugzeug sein „Moonrise Kingdom“ gesehen hatte? Oder war es gar ein Zeichen, eine Vorbedeutung?

In „Moonrise Kingdom“ hören wir zu Beginn viele Minuten lang einer populärwissenschaftlichen Schallplatte zu, die erklärt, wie ein großes Orchester funktioniert. Nur Banausen fragen an dieser Stelle das Nächstliegende: Was soll das? Die Wes-Anderson-Gemeinde schaut, hört, schweigt und genießt. So wie Kerstin Gosewisch.

Plötzlich stand er da - "irgendwie zerbrechlich"

Der ist genauso alt wie ich, Mitte vierzig, wir teilen die gleiche Weltsicht, den schau ich mir mal an, dachte sie. Und dann stand er da, „so introvertiert, so irgendwie zerbrechlich“ und akut hilfsbedürftig, in demselben ollen Shirt, in dem sie ihn schon im Internet gesehen hatte. Sie zeigte ihm jedes Haus, jeden Stein, jeden Baum ihrer Stadt.

Am Ende hing alles am Kaufhaus. Anderson hatte Fotos vom alten Kaufhaus Strauss gesehen, das nach dem Vorbild des Berliner Wertheim-Kaufhauses am Leipziger Platz gebaut wurde, welches vor 100 Jahren als das schönste Deutschlands galt, das größte Europas war es sowieso. Dessen Innenraum wollte Anderson zur Lobby seines Grand Budapest Hotel machen. Das Problem war nur: Niemand kam da rein, es gehörte, fest verschlossen, zur Hertie-Konkursmasse. Es war schon Oktober 2012, als die Genehmigung doch noch eintraf. Im Januar begannen die Dreharbeiten.

Görlitz hatte schon fast vergessen, wie schön es war. Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs lag die alte Handelsstadt, einst reich geworden durch Tuche und ein Blaufärbemittel, plötzlich nicht nur am A… der Welt, sondern sogar an dem der DDR, zuverlässig abgeschirmt von den Mondlandschaften der Braunkohletagebaue. Sie war fast unzerstört, doch was nützte ihr das? Ruß und saurer Regen fraßen sich in die alten Renaissance- und Barockfassaden, wer konnte, verließ die Innenstadt.

Es geschieht nicht oft im Leben, dass man auf seinen Kontoauszug guckt und plötzlich ist da eine Million mehr drauf. Görlitz ist das 1995 zum ersten Mal passiert. Ein Münchener Anwalt meldete sich, er sei beauftragt, der Stadt eine Million zu überweisen und habe genau zwei Bedingungen: Erstens, dass das Geld nur für die Altstadtsanierung ausgegeben werde und zweitens, dass der Spender inkognito bleibe. Er ist es bis heute. Die Görlitzer Altstadt erwachte.

"Wie dünn die alle waren!" Hollywood trifft Görliwood

Hereinspaziert. Die Rezeption des „Grand Budapest Hotel“ wurde in einem alten Kaufhaus aufgebaut. Die Görlitzer spielten die Gäste.
Hereinspaziert. Die Rezeption des „Grand Budapest Hotel“ wurde in einem alten Kaufhaus aufgebaut. Die Görlitzer spielten die Gäste.
© Studio Babelsberg AG

In 80 Tagen um die Welt, das mag schon eine Leistung sein, aber in Görlitz schafft man es in fünf Minuten durch mehrere Jahrhunderte, rein architektonisch gesehen. Anderson brauchte sie alle. Schon im ersten großen Hotelfilm Hollywoods, in „Menschen im Hotel“ von 1932, gibt es nur Hauptrollen, denn MGM kam auf die avantgardistische Idee, alle Rollen mit allen Stars zu besetzen, die es hatte. Man nennt das auch All-Star-Cast. Damals war Greta Garbo der heimliche primus inter pares, hier sind es Ralph Fiennes als Concierge M. Gustave H. und sein Lehrling, der Lobbyboy Zero (Tony Revolori).

Die beiden Abgesandten des gehobenen Beherbergungswesens bilden das Nervenzentrum des Films; ihr Enthusiasmus verkörpert die unendliche Selbstgewissheit einer überaus endlichen Epoche und zugleich einen allerletzten entlegenen Zufluchtsort des Humanums. Anderson hatte Stefan Zweigs „Die Welt von gestern“ gelesen. Als der Concierge mit seinem Lobbyboy 1932 verreist, spricht er nach einer lebensgefährlichen Passkontrolle die denkwürdigen Worte: „Siehst du, noch gibt es ein Fünkchen Zivilisation in diesem barbarischen Schlachthaus, das man früher die Menschheit nannte. Dafür sorgen wir mit unserer bescheidenen, demütigen … ach, scheiß drauf!“

Was ist ein Lobby-Boy? Zitat Drehbuch Anderson: „Ein Lobby-Boy ist komplett unsichtbar, aber immer in Sichtweite.“ Und eben diese Lobby wird verkörpert vom alten Görlitzer Kaufhaus, die Görlitzer spielen die Gäste.

Die All-Star-Crew selbst zog derweil in das „Hotel Börse“, mitten auf dem Untermarkt. Auf seinem Barock-Portal flegeln zeitlos die Allegorien des Wohlstandes und der Selbsterkenntnis. Das „Hotel Börse“ unterscheidet sich durchaus vom „Grand Budapest Hotel“. Denn es hat gar keine Lobby.

Was für schöne Türscharniere!

Es ist mehr eine gehobene Herberge, auf anspruchsvolle Weise einfach, auf einfache Weise anspruchsvoll. Und was für große, großartige Türscharniere! In einer Zeit, in der Plastik-Fenster die alten Häuser und unsere Augen beleidigen, nur noch überboten durch die Gussmetallabscheulichkeit ihrer Scharniere, kann solch ein Tür- und Fensterzubehör zum Ereignis werden. Auf das Detail kommt es an! Dieses Wissen teilt Anderson mit den Altstadtrestauratoren.

Natürlich gibt es auch keinen Lobby-Boy in der „Börse“, also niemand, der einem die Bedürfnisse vom Gesicht abliest, noch bevor man sie hat. Und das Zimmermädchen ist eher eine Zimmer-Großmutter. Die Börsianer erinnern sich mit einem milden, versonnenen Lächeln ihrer Gäste. Aber etwas Sorgen habe man sich schon gemacht: Wie dünn die alle waren!

„Jungs, ihr müsst aber mehr essen!“

Wollten sie nicht. Mit dem gewöhnlichen Wurst-und-Käse-„Börsen“-Frühstück konnten sie ohnehin wenig anfangen. Das Gelbe vom Ei? Nein, sagt die junge Görlitzerin an der Rezeption ohne Lobby, sie aßen lieber das Weiße.

Irgendwann traf ein Koch aus Italien ein.

Nicht nur das Kaufhaus, auch die längst geschlossene Jugendstil-Stadthalle stellte das Innere des „Grand Budapest“ dar. Und seine Fassade! Das Haus fasst 2000 Menschen und war für Chöre, Orchester und Orgel bis zu einer tausendköpfigen Besetzung eingerichtet. Die Görlitzer hielten das um 1910 für angemessen. Aber damals waren sie auch noch fast doppelt so viele, knapp 100 000.

Die Stadthalle liegt direkt an der Brücke, die über die Neiße in den polnischen Teil der Stadt führt. In Zgorzelec ging die All-Star-Crew am liebsten ins „Przy Jacubie“.

Klaglos räumte auch der Bürgermeister sein Amtszimmer, wenn Anderson es brauchte. Manches konnte man weglassen, aber eines auf keinen Fall: „Mendl’s Törtchen“, ein überaus dekadentes bonbonbuntes vierstöckiges Konditoreierzeugnis. Anderson hatte es wie den ganzen Film in höchster Präzision gezeichnet und wartete auf einen befreundeten Konditor, der es backen sollte. Aber der kam nie. Da fragte er schließlich Anemone Müller-Großmann vom „Café Care“ am Obermarkt.

Eine Straße wird gesperrt? Großartig, ruft der Görlitzer

Bei der Nachricht, dass wieder irgendwo eine Straße gesperrt werden soll, rufen die Görlitzer längst enthusiasmiert: „Ja, großartig! Was drehen wir denn?“ Wenn aber die Gaswerke oder das Tiefbauamt als Absender des Vorhabens kenntlich werden, heißt es: „Nicht schon wieder, das kann doch wohl nicht wahr sein ... !“

Bevor die Stadt vor zwei Jahren Anfang April in eine moderate Post-Budapest-Depression fiel, meldete sie beim Patentamt noch schnell einen Namen an: „Görliwood“. Sicherheitshalber auch gleich „Görlywood“. Das war fünf Minuten vor zwölf. Denn nur eine Woche später versuchte eine Görlitzer Brauerei das gleiche. Wahrscheinlich war es die, die in der „Reise um die Welt in achtzig Tagen“ den New Yorker Hafen gespielt hatte.

Es war schön, als das Kaufhaus und die Stadthalle wieder zum Leben erwachten. Ein Stadthallen-Förderverein hat sich bereits gegründet, und der Lübecker Medizintechnik-Unternehmer Winfried Stöcker, geboren in der Oberlausitz, erwarb noch 2013 das Kaufhaus. Er will es wiedereröffnen, leider hatte er kurz vor Weihnachten ein Benefizkonzert für Asylbewerber im Kaufhaus abgesagt, er gedenke „den Asylmissbrauch“ nicht zu unterstützen. Empörung in der Stadt. Das Konzert fand auf dem Weihnachtsmarkt statt. Wahrscheinlich hatte Stöcker den Film nicht verstanden: Was ist der Grand-Budapest-Lobby-Boy Zéro Moustafa anderes als ein Asylbewerber?

Der Text erschien auf der Dritten Seite des gedruckten Tagesspiegels.

Kerstin Decker

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