Sachsens Filmstadt: Großer Auftritt: Görlitz
Wes Andersons neuestes Werk „The Grand Budapest Hotel“ wird die Berlinale eröffnen. Gedreht wurde der Film in Görlitz. Inzwischen nennt man sich schon Görliwood.
Wäre der Untermarkt ein Schauspieler, er hätte den Oscar verdient. Seine Wandlungsfähigkeit ist jedenfalls beeindruckend. So wie, sagen wir, Leonardo DiCaprio den Romeo und dann den Hochstapler, mal den Junkie und mal den FBI-Chef spielt, so hat der annähernd quadratische Platz mit seinem Kopfsteinpflaster und den alten Bürgerhäusern schon Königsberg, Frankfurt am Main, Venedig und Paris dargestellt.
Es ist kalt an diesem Dienstagnachmittag in Görlitz, und Uwe Stark sucht unter den Arkaden am Rande des Platzes Schutz vor dem Schnee. „Hier können Sie drehen, egal welche Zeit Sie brauchen, denn es gibt Häuser aus verschiedensten Epochen“, sagt der Stadtführer. Wenn der 54-Jährige der Reihe nach auf die Gebäude am Untermarkt deutet und sie beschreibt, wird klar, was er meint. Das eine ist weitgehend gotisch, mit Spitzbogen und Vorhangfenster, das nächste ein Renaissance-Bau mit einem Dachhäuschen im Stil des Barock, bei wieder einem anderen sind Elemente des Historismus aus dem 19. Jahrhundert zu erkennen. Ein über Jahrhunderte gewachsenes Ensemble, kaum zerstört im Krieg, ohne moderne Bausünden und ohne Bürotürme im Hintergrund. Eine perfekte historische Kulisse, wie man sie anderswo aufwendig nachbauen müsste.
Und das gilt eigentlich für ganz Görlitz mit seiner Architektur vom Mittelalter bis zum Jugendstil, auch wenn der Untermarkt, das Zentrum der Alstadt, am beliebsten ist bei Filmemachern. Schon die Defa drehte in der östlichsten Stadt Deutschlands, später kam das Fernsehen – und nun ist Hollywood da. Im vergangenen Jahr entstand hier Wes Andersons „The Grand Budapest Hotel“. Die Komödie handelt von einem Nobelhotel in der Zeit zwischen den Weltkriegen und wird in wenigen Tagen die Berlinale eröffnen.
Uwe Stark hat eine Liste mit allen Filmen, die – mindestens teilweise – in der Stadt in der Oberlausitz gedreht wurden. Er holt sie aus seiner Mappe, die wie eine Filmklappe aussieht. „Ein paar sind Spezialfälle, bloß 20, 30 Minuten lang, aber mehr als 70 gibt es bestimmt, die im Kino oder Fernsehen gelooufen sind“, sagt er in weichem Sächsisch. „Die Vermessung der Welt“ von Detlef Buck gehört dazu, „Der Turm“ mit Jan Josef Liefers oder „Goethe!“ mit Alexander Fehling.
Den internationalen Durchbruch brachte 2003 Jackie Chans (vor allem in Babelsberg entstandene) Action-Komödie „In 80 Tagen um die Welt“. „Ein wunderbarer Dreh“, sagt Starks Kollegin Karina Thiemann, mit der er gemeinsam seit zwei Jahren Spaziergänge auf den Spuren der Görlitzer Filme anbietet. Thiemann kramt ein paar Fotos hervor, die zeigen, wie der chinesische Regisseur den Untermarkt verwandelte: Fensterläden, französische Schilder und jede Menge Blumen machten aus dem Platz ein Klein-Paris. In der örtlichen Brauerei stellte Chan den New Yorker Hafen nach. „Es gab kaum Absperrungen, und in den Drehpausen ist Jackie Chan mit dem Fahrrad durch die Straßen gefahren“, erzählt die Stadtführerin begeistert. Es folgten „Der Vorleser“ mit Kate Winslet und David Kross, und dann Quentin Tarantinos „Inglourious Basterds“. „Da hat Daniel Brühl vom Rathausturm am Untermarkt heruntergeschossen“, sagt Uwe Stark. „Natürlich mit Platzpatronen. Geknallt hat es trotzdem ganz schön.“
Der vorläufige Höhepunkt war im vergangenen Jahr erreicht. Drei Hollywood-Produktionen gastierten nacheinander in der Stadt, nicht nur „The Grand Budapest Hotel“, sondern auch „Die Bücherdiebin“, eine Geschichte, die in der Nazi-Zeit spielt, in den Kinos zu sehen ab März, sowie George Clooneys „Monuments Men“. Letzterer handelt von alliierten Offizieren, die in der Endphase des Zweiten Weltkriegs Kunstschätze retten. Für diesen Film wurden nur wenige Szenen in Görlitz gedreht.
„The Grand Budapest Hotel“ jedoch brachte Anfang 2013 für mehrere Monate einen ganzen Reigen an Superstars in die kleine Stadt: Tilda Swinton, Ralph Fiennes, Adrien Brody, Willem Dafoe, Jude Law, Bill Murray ... „So viele auf einmal“, sagt Uwe Stark, „das gibt es selbst in den USA kaum.“ Karina Thiemann besitzt sogar ein paar Fotos, auf denen sich Görlitzer mit Berühmtheiten haben fotografieren lassen, zum Beispiel in einem örtlichen Sportstudio, wo man dann Jeff Goldblum, Owen Wilson oder Edward Norton neben der Hantelbank sieht.
Sie sind stolz in Görlitz, keine Frage. Wenn man mit Thiemann und Stark durch die Straßen spaziert, kann es passieren, dass Bekannte den beiden zunicken und rufen: „Gestern waren wir wieder im Fernsehen, ,Die letzte Instanz’ im ZDF, habt ihr’s gesehen?“ Mittlerweile hat sich die Stadt den Begriff „Görliwood“ patentieren lassen, in der Tourismusinformation werden Postkarten verkauft, auf denen der Name dank einer Montage auf der Landeskrone, dem Görlitzer Hausberg, thront – wie die berühmten Buchstaben auf den Hollywood Hills.
Das neue Selbstbewusstsein, es tut den Leuten gut. Denn Görlitz ist nicht nur außergewöhnlich schön, es teilt auch das Schicksal vieler ostdeutscher Städte: So prächtig die Fassaden hergerichtet sind, so groß sind die Probleme.
Dass Görlitz überhaupt ein solches Schmuckkästchen ist, hat es Tuchmachern und -händlern zu verdanken, die einst Wohlstand brachten. Verkehrsgünstig am Handelsweg Via Regia gelegen, war es als Teil Böhmens „die bedeutendste Stadt zwischen Erfurt und Breslau“, wie Uwe Stark sagt. Eine zweite Blüte erlebte es mit Gründerzeit und Industrialisierung. 1931 erreichte die Einwohnerzahl mit 94 000 einen Höchststand.
Das Ende des Zweiten Weltkriegs bedeutete einen tiefen Einschnitt. Zunächst kamen viele Vertriebene aus Schlesien, die schließlich weiter Richtung Westen zogen. Danach war die Stadt an den Rand gedrängt: buchstäblich und im übertragenen Sinne. Die Neiße, die einst quer durch Görlitz verlief, wurde zur Staatsgrenze. Die östlich des Flusses gelegenen Viertel gingen an Polen und bilden seitdem eine eigenständige Stadt: Zgorzelec. Auch ins sozialistische Nachbarland durften DDR-Bürger nicht ohne Weiteres, und so gab es bis 1989 kaum Austausch mit der anderen Seite. Görlitz, im „Tal der Ahnungslosen“ gelegen, muss sich damals ein bisschen wie das Ende der Welt angefühlt haben.
Und es verfiel. In der DDR wurden zwar die großen Baudenkmäler gepflegt, doch es fehlten die Mittel, die zahlreichen anderen alten Gebäude zu erhalten. Kerstin Gosewisch, 1969 in der Stadt geboren, kann sich noch gut erinnern an das Görlitz ihrer Kindheit und Jugend. Damals wollten die meisten Leute in den Neubaugebieten am Rand wohnen, die Altstadt hatte keinen guten Ruf, die Fassaden dort waren grau, es wurde mit Kohle geheizt, Dächer krachten zusammen. „Es war gruselig“, sagt sie. „Die Wende kam für Görlitz gerade noch rechtzeitig.“
Nach Studienjahren in Magdeburg und Dresden ist Gosewisch wieder in ihren Heimatort zurückgekehrt und heute bei der Stadt offizielle Ansprechpartnerin in Sachen Film. Dem Location Scout von Wes Anderson hat sie Tipps gegeben und Türen geöffnet („Es gab praktisch keinen Stein im Umkreis von 80 Kilometern, den er nicht fotografiert hat“), und während des Drehs war sie eine Art Mädchen für alles: „Manchmal kommen Fragen wie: Wir haben im Rathaus tolle alte Garderobenhaken gesehen, können wir uns die ausleihen? Oder einfach: Wo ist der nächste Baumarkt?“
Auch Kerstin Gosewisch ist Lokalpatriotin. Wenn man nach dem Weg zu ihrem Büro in der Neißstraße fragt, sagt sie: „Das befindet sich im ,biblischen Haus’, das werden sie leicht an der tollen Fassade erkennen“ – deren jahrhundertealte Reliefs zeigen Bibelmotive wie den Sündenfall oder die Geburt Christi. Zugleich ist Gosewisch Profi. Obwohl sie von den Leuten in der Filmbranche schwärmt, ist sie nie auf einer von deren Partys gewesen, nicht mal ein Autogramm hat sie sich geben lassen. Anfragen für neue Filmprojekte gebe es, sagt sie – und weiter nichts. Sie weiß, dass Görlitz’ Glück von den Studios in Babelsberg abhängt, über die Drehs in der Stadt angeschoben wurde und dass Produzenten nicht nur die schöne Kulisse an Görlitz reizt, sondern auch die Filmförderung.
Kerstin Gosewisch hofft, dass der Rummel um „Görliwood“ keine falschen Hoffnungen nährt. Zwar kommen immer mehr Touristen – seit 2001 sind die Übernachtungszahlen kontinuierlich gestiegen –, zwar gibt es mit Siemens und Bombardier zwei starke Arbeitgeber und neuerdings eine wachsende Callcenter-Branche. Doch die Bevölkerungszahl ist in den vergangenen Jahrzehnten so massiv gesunken, dass Görlitz heute viel zu groß ist für die, die noch da sind. Hinzu kommt die starke Überalterung.
Kurz vor der Wende gab es 78 000 Einwohner, nun sind es 54 000. Gebäude stehen leer, Hausbesitzer haben Schwierigkeiten, ihre Wohnungen zu vermieten. Anders als um 1900 herum sind es keine preußischen Pensionäre, sondern westdeutsche Rentner, die die Stadt als hübsches, günstiges Domizil entdecken. Jetzt im Winter, wenn gerade keine Filmcrews mit mehreren hundert Menschen im Schlepptau in den Hotels übernachten und abends die Restaurants bevölkern, wirkt die Stadt selbst in manchen zentral gelegenen Ecken verlassen.
Ein Zeichen des Niedergangs war bis vor kurzem das Jugendstilwarenhaus am Marienplatz, dort, wo die Altstadt ins Gründerzeitviertel übergeht. Errichtet wurde es 1913, in der DDR war es HO-, dann Centrum-Warenhaus. Abgesehen von der kleinen Parfümerie im Erdgeschoss steht das imposante Gebäude seit der Pleite von Hertie 2009 leer. Seit Neuestem aber ist es wichtiger Bestandteil der Film-Tour von Karina Thiemann und Uwe Stark. Denn in dem Kaufhaus entstanden große Teile von „The Grand Budapest Hotel“ – allerdings streng abgeschirmt. Noch immer ist wenig über die genaue Geschichte des Films bekannt.
Hinter verriegelten Glastüren kann man heute einen Blick in den dreigeschossigen Lichthof werfen und auf die zwei Lüster, die vom Glasdach hängen. Im Schaufenster informieren Plakate über die Geschichte des Hauses, das schon als Kulisse für einen Thälmann-Film aus den 80er Jahren und für „Rosenemil“ von 1992 diente – in beiden Fällen doubelte das Görlitzer Warenhaus sein einstiges Vorbild, das im Krieg zerstörte Wertheim am Leipziger Platz in Berlin. „In der gleichen alten Straßenbahn, die bei Thälmann durchs Bild fuhr, saß 20 Jahre später übrigens Kate Winslet im ,Vorleser’“, erzählt Uwe Stark.
Dank der Dreharbeiten zu „The Grand Budapest Hotel“ hat das Kaufhaus jetzt einen neuen Eigentümer. Der Lübecker Unternehmer Winfried Stöcker, 1947 bei Görlitz geboren und später mit der Familie in den Westen gegangen, ist über Presseberichte auf das Gebäude aufmerksam geworden. Er will das Geschäft bald wieder eröffnen, vorher wird hier wohl noch „Die Weihnachtsgeschichte“ gedreht. Im Schaufenster hängt schon Werbung für Stöckers Firma Euroimmun, die Labordiagnostika herstellt.
Kann das funktionieren? Die Kaufkraft in der Stadt, deren Arbeitslosenquote bei über 13 Prozent liegt, ist nicht gerade hoch. „Die Löhne hier sind niedrig“, sagt Robert Bienas, Jahrgang 1979, freier Fotograf, der sein Leben meist mit Jobs außerhalb von Görlitz finanziert, als Nächstes mit Messebau in Basel. Bienas war einer von hunderten Komparsen bei „The Grand Budapest Hotel“, Anderson hatte ihn auf der Straße angesprochen – vor allem wegen Bienas’ Bernhardinerhündin Emilia, die auch mitspielen durfte.
Bienas wohnt in einem Haus aus der Gründerzeit, das der Vermieter ihm und anderen für wenig Geld überlässt – damit es überhaupt genutzt wird, statt leer zu stehen und zu verwahrlosen. Dort wurden auch schon Konzerte und Lesungen abgehalten. „Der Dreh mit Anderson war ein tolles Erlebnis“, sagt Bienas. Nicht nur, weil er die Filme des Texaners mag. Sondern auch, weil mit den Filmleuten eine andere Atmosphäre nach Görlitz kam: jünger, kosmopolitischer. Für ein paar Monate war Görlitz so, wie Robert Bienas es sich immer gewünscht hat.
Björn Rosen
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