Berliner Eisbärbaby: Kleine Schnauze, große Hoffnungen
Überwacht von sechs Kameras wächst in Berlin ein Eisbärmädchen heran. Es trägt noch nicht einmal einen Namen – aber schon viel Verantwortung.
Da liegen Mutter und Kind, eng aneinandergeschmiegt, große Schnauze an kleiner Schnauze. Infrarotlicht erhellt die Szene. Ein Knopfdruck, und auf Florian Sicks’ Bildschirm tauchen Statistiken auf: Wann hat das Kleine zuletzt getrunken, wie lange hat es geschrien – in letzter Zeit überhaupt nicht mehr – oder auch nur gemeckert? Klick zurück, jetzt trinkt es, was sich erstaunlich laut anhört, etwa so, als ob ein Auto erfolglos zu starten versucht.
Florian Sicks kann diese Bilder, Töne und Daten nicht nur wie jetzt in seinem Büro im Obergeschoss des Schlosses Friedrichsfelde abrufen, sondern auch jederzeit zu Hause und notfalls mit dem Handy. Eigentlich sind Giraffen sein Spezialgebiet, über deren Stressverhalten hat er seine Doktorarbeit geschrieben. Doch gegenwärtig beschäftigt den 39-Jährigen vor allem dieses Baby: der kleine Eisbär. Geht es ihm gut, ist er gesund, wächst er heran wie gewünscht?
Zu einem Star?
Das weiße Bärenkind, das am 1. Dezember 2018 im Berliner Tierpark Friedrichsfelde geboren wurde, Gattung Ursus maritimus, hat die Wurfhöhle bisher nicht verlassen. Es hat noch nicht einmal einen Namen. Aber schon verbinden sich mit ihm große Emotionen, Hoffnungen – und Geschäftsinteressen.
Was irgendwie kaputtzumachen ist, kriegt Hans klein
Tierkinder sind wichtig für einen Zoo. Sie haben Showpotenzial, weil sie meist agiler sind als die älteren Artgenossen. Stammkunden, die jeden Bewohner kennen, bieten sie Abwechslung. Allein im Tierpark im Osten Berlins wurden im vergangenen Jahr mehr als 600 Säugetiere geboren. Nicht jedes wird zum Publikumsmagneten.
Vor Hans’ Gehege zum Beispiel, steht in diesem Moment niemand. Den hat Pflegerin Andrea Fleischer gerade hinausgescheucht in den neun Grad kalten Februarmorgen. In Friedrichsfelde mögen die als frühlingshaft durchgehen. Aber nicht für einen Brillenbär wie Hans, der eigentlich in den Tropen zu Hause ist. Hans ist ein gutes Jahr alt und so groß wie ein stämmiger Hund. Jetzt macht er sich mit seinen krallenbewehrten Tatzen an dem Knoten zu schaffen, der seine Schaukel zusammenhält.
Tierpflegerin Andrea Fleischer ist seit vier Jahrzehnten dabei, als sie anfing war sie 16. So nahe wie Frau Fleischer kommen nur wenige den Bären hier.
Nichts als Unsinn habe Hans im Kopf, sagt sie mit feinem Lächeln. Und wenn sie ihm unermüdlich neues Spielzeug in seine Schlucht stellt, demonstriert er ähnliche Fertigkeiten wie seine menschlichen Altersgenossen: Was irgendwie kaputtzumachen ist, kriegt Hans klein.
Mikrofone zeichnen noch den kleinsten Seufzer auf
An Wochenenden sammeln sich ein paar Zaungäste. „Doch wenn die da rauskommt“, Andrea Fleischer zeigt zu der augenblicklich verwaisten Felsenlandschaft schräg gegenüber, „bleibt hier keiner mehr stehen.“ Die da: So viel immerhin wissen die Ärzte, Zoomitarbeiter und Berlin jetzt – das weiße Pelztier ist ein Mädchen. Die Hinweise mehren sich, dass es bald der Öffentlichkeit vorgestellt werden könnte, in immer engerer Folge verschickt der Tierpark Fotos und Videoaufnahmen. Täglich darf mit seinem ersten Ausgang gerechnet werden. Sobald die Kleine sicher genug auf den Pfoten ist, um Mutter Tonja zu folgen.
Sechs Webcams beobachten seit dem 1. Dezember jede Regung, Mikrofone zeichnen noch den kleinsten Seufzer auf. Niemand darf in die zwei mal drei Meter große Höhle, einzige Ausnahme bisher waren der Tierarzt, der dem Baby die erste Impfung verpasste, und Andrea Fleischer, die es bei der Prozedur im Arm hielt. Und Tierparkdirektor Andreas Knieriem. Interviewbilder von unmittelbar danach zeigen ihn in beseelter Stimmung. Ein paar Mal nahm er das Wort Herz in den Mund, und dass es einem schon aufgehe. Andrea Fleischer wirkt ansonsten eher resolut, aber wenn sie von ihrer ersten Begegnung mit dem Eisbärkind berichtet, kommt sie nicht umhin, zu sagen, dass das schon sehr süß sei.
Natürlich entspricht ein kleiner Eisbär so perfekt wie kaum ein anders Tierbaby dem Kindchenschema: die vergleichsweise kurze Schnauze, die schwarzen runden Knopfaugen auf weißem Grund.
Knut bescherte dem Zoo vier Millionen Euro Umsatz
Vorne im Shop gleich neben dem Tierpark-Eingang hat das Mädchen bereits seine eigene Insel. Ein ganzer Tisch voll mit Schlüsselanhängern, Postkarten, Magneten und Plüschtieren verschiedener Größen. Das Eisbärbaby, versehen mit dem Tierparklogo, ist der Bestseller momentan. Und schon sind sie hier ein bisschen aufgeregt, ob die gelieferte Menge überhaupt ausreichen wird. Brillenbären wie Hans sucht man im Laden vergeblich.
Geordert wurde die erste Charge an Merchandising-Artikeln bereits im September, da hatte sich Eisbärenmutter Tonja noch nicht einmal in die Wurfhöhle zurückgezogen. Ein geschäftliches Risiko, wenn man das Schicksal der letzten beiden Eisbärbabys in Berlin vor Augen hat: Der große Bruder des neugeborenen Mädchens, Fritz, starb im März 2017 mit nur vier Monaten. Die am 7. Dezember 2017 geborene, namenlos gebliebene Schwester wurde nur 26 Tage alt. Die Kindersterblichkeit bei Eisbären ist enorm. Aber bei Wild Republic – der weltweit agierende Spielzeughersteller mit Hauptsitz in den USA ist Pächter der Souvenirläden im Berliner Zoo und im Tierpark – haben sie das Beispiel Knuts vor Augen.
Das berühmteste Eisbärbaby überhaupt bescherte dem Zoo in seinem Geburtsjahr 2007 einen Umsatz von vier Millionen Euro. Noch jetzt würde ab und an gefragt, ob sie nicht Andenken an das früh verstorbene Tier hätten.
Er nennt das Mädchen den „kleinen Hopser“
Auch beim kleinen Eisbär Fritz, der an Leberversagen starb – bis heute haben sie im Tierpark keine Erklärung dafür – war das Interesse bereits groß, standen die Souvenirs bereit, lange bevor die Öffentlichkeit ihn zu sehen bekam. Aber er hatte immerhin schon einen Namen. Das neue Mädchen nennt Tierparkdirektor Andreas Knieriem bislang hilfsweise den „kleinen Hopser“. Über den Namen darf der Sponsor entscheiden, der noch nicht gefunden ist, die Bewerbungen laufen. Hertha BSC hat schon mal seinen Vereinsnamen vorgeschlagen.
Bei Wild Republic wären sie glücklich, wenn der Name schon gefunden wäre. Dann könnten sie ihn auf T-Shirts und Tassen drucken, wenigstens gibt es erste Fotos. 2018 führten im Tierpark-Shop die Roten Pandas lange unangefochten. Als bei den Sumatratigern im Sommer Vierlinge geboren wurden, setzten sich Tiger an die Spitze. Mit der Geburt des jüngsten Eisbärbabys stieg der Eisbär-Umsatz um 240 Prozent.
Zoo, Tierpark und Aquarium sind zusammengenommen ein Großunternehmen: 500 Beschäftigte, 46 Millionen Euro Einnahmen im Jahr 2017, der letzte Jahresabschluss liegt noch nicht vor. Die Pachteinnahmen aus den Shops machen nur ein Prozent davon aus, den größten Anteil erlöst der Eintritt. Hatten alle drei Opernhäuser zusammen um die 700000 Besucher im vergangenen Jahr, die staatlichen Museen des Preußischen Kulturbesitzes 3,5 Millionen, brachten es die Zoos auf fünf Millionen zahlende Gäste.
Vom Eisbären profitiert der Titicacaseefrosch
Die Einnahmen, die Knut seinerzeit dem Zoo bescherte, möchte Direktor Knieriem denn auch in Relation bewertet wissen. Immerhin habe der Zoo bis 2012 Zuschüsse bekommen, die es nach dem Knut-Boom nicht mehr gebe. Ein Teil des Gewinns musste sogar rücküberwiesen werden. Überhaupt, sagt er, möge man doch bitte nicht den Effekt eines einzigen Tieres für das große Ganze überschätzen.
Andreas Knieriem wird nicht müde zu versichern, man wolle auf keinen Fall einen Hype, wie ihn Knut ausgelöst hat. „Schließlich halten wir hier keine Tiere, weil ein bekloppter Zoodirektor das so will.“ Es gehe darum, einen Bezug zu ihrer natürlichen Wildbahn herzustellen – zu zeigen, wie bedroht die sei. Gerade wird mit Millionenaufwand das Raubtierhaus – benannt nach Alfred Brehm – neu gestaltet. Geplant sind Öko-Gemeinschaften mit Pflanzen, Insekten und Großkatzen.
Im Grunde verhält es sich so wie bei entlegenen Kriegsschauplätzen. Gibt es keine Bilder, interessieren die Lebensbedingungen weit entfernt lebender Tiere so gut wie gar nicht. Es geht also um Empathie, über die Knieriem Informationen vermitteln will. Vom Sumatratiger etwa leben in Freiheit noch etwa 350 Exemplare. Vier Neugeborene im Tierpark sind für den Genpool da eine ganze Menge.
„Mit Tieren wie diesen“, glaubt Knieriem, „kann ich erreichen, dass sich die Leute mit dem bedrohten Regenwald auf Sumatra beschäftigen“. Im Idealfall könnten Artenschutzprogramme initiiert werden. Auch für andere Arten. „Wenn wir nur solche Tiere hielten, für die sich das Publikum hier interessiert, bräuchten wir nur die klassischen.“ Elefant, Giraffe, Löwe – oder eben Eisbär. Vom Eisbären profitiert gewissermaßen der Titicacaseefrosch.
Mag sein, dass sie keinen Hype entfachen wollen. Aber natürlich täte ein Magnet dem Tierpark gut, der in seiner Randlage gegenüber dem Zoo mitten in der City deutlich weniger Publikum anzieht.
„Die beiden produzierten skurrile Bilder“
Hans fummelt immer noch an seiner Schaukel herum, und wenn er aufrecht steht, sieht er aus wie ein dunkelbrauner Teddy. Er wurde ohne Webcam groß. Ist es nicht ein bisschen ungerecht, dass ihm so wenig Beachtung entgegengebracht wird? Es sei eben so, dass sich die Leute vor allem für das interessierten, was sie kennen, sagt Andrea Fleischer. „Aber glauben Sie mir, Hans ist das vollkommen egal.“ Ihr auch. Eigentlich ist sie sogar ganz froh, dass nicht so viele Menschen mit ihren Fingern an die Scheibe zur Brillenbärschlucht patschen. Sie muss die nämlich putzen.
Grundsätzlich ist schwer vorhersehbar, wer ein Star wird. Nicht einmal das Bärchen ist ein Garant für großes Publikumsinteresse, behauptet Knieriem. Denn Knuts Erfolgsgeheimnis waren nicht nur die Knopfaugen – sondern das Gesamtpaket: Ein Baby, von der Mutter verstoßen, per Hand aufgezogen von seinem Pfleger. „Die beiden produzierten skurrile Bilder“, sagt der Direktor Knieriem, der damals das Treiben von Hannover aus beobachtete.
Es gibt Tierschützer, die wollen überhaupt keine Eisbären mehr im Zoo sehen. Ihr Argument ist, dass das Raubtier in Freiheit Reviere von 150 000 Quadratkilometern hat. Halb Italien. Es gibt Zoos wie den in Wuppertal, die haben beschlossen, ihre Eisbären abzugeben, weil ihre Gehege zu klein waren und den Polarraubtieren nicht genug Rückzugsmöglichkeiten bieten konnten. Eisbärenhaltung ist aufwendig und teuer. Allein das Lieblingsspielzeug des Eisbärenpapas Wolodja, eine künstliche Eisscholle, kostet um die 1000 Euro. Zur Zeit ist Wolodja in Holland, wo er sich wieder paaren soll. Die Scholle hat er mitgenommen.
Das kleine Bündel ist außerordentlich anfällig
Giraffen, erklärt Bärenkurator Florian Sicks, während er am Bildschirm Eisbärin Tonja und die Hoffnungsträgerin beobachtet, bringen ein Jungtier zur Welt, das im Grunde weitgehend fertig ist. Wenn nötig bereit zur sofortigen Flucht. Eisbären haben keine natürlichen Feinde. Höchstens im Moment der Schwäche, wie ihn eine schwere Geburt mit sich bringen würde. So hat die Natur entschieden, dass Eisbärenmütter ein hilfloses Bündel so gut wie schmerzlos zur Welt bringen.
Diese Erfahrung, gepaart mit reichlich Hormonausstoß, begünstigt den zärtlichen, liebevollen Umgang der Mutter mit ihrem Kind und erlaubt es ihr, sofort kampfbereit zu sein, wenn ein anderer Bär den Frischling als leichte Beute betrachtet.
Der Haken freilich ist, dass das kleine Bündel, das da zur Welt kommt, außerordentlich anfällig ist. In freier Wildbahn überstehen nur etwa 15 Prozent der Eisbärjungen die ersten zwei Jahre, schätzen Experten. Schaffen die Kleinen diese Frist, werden sie vier oder fünf, kann ihnen kaum mehr einer etwas anhaben.
Dann ist das kleine Eisbärmädchen vielleicht gar nicht mehr in Berlin, das ausgewachsene Tier längst weitergereicht.
Immerhin, schon jetzt registriert die Frau an der Kasse ein gestiegenes Interesse an den Jahreskarten.