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Kitas, Schulen, Horte: Alles geschlossen. Niemand mehr, der hinsieht.
© imago images/Cavan Images

Jugendämter schlagen Alarm wegen Corona-Lockdown: Kinderleid – und niemand sieht es mehr

Zu Hause aufeinander hocken – für manche Kinder kann es die Hölle bedeuten. Nothelfer kommen kaum noch in schwierige Familien. Ein Report aus Berlin.

Plötzlich ist es still in der Leitung. Anja Schauer schweigt, weil sie nicht mehr weiß, was sie jetzt noch sagen soll. Weil es jetzt ist, wie es ist: Alles noch schlimmer, jetzt, wo die Krise eskaliert: mit Corona, mit den geschlossenen Schulen, mit den geschlossenen Kitas, mit den Kindern und ihren Eltern, die zu viert, fünft, sechst, siebt in ihren 50 bis 60 Quadratmeter Wohnungen hocken. Und keiner mehr da ist, der auf die Kinder schaut.

Anja Schauer ist 40 Jahre alt und arbeitet beim Jugendamt von Marzahn-Hellersdorf, Abteilung Kriseninterventionsteam. Das sind die, die rausfahren, wenn es brennt. Das sind die, die als erstes reagieren, wenn eine Notmeldung reinkommt.

„Wir sollen hier die Stellung halten, sind aber eigentlich nicht mehr existent. Ausgedünnt. Frustriert. Gekündigt. Wir sollen die Kinder schützen, dürfen aber mit Corona nur noch im äußersten Notfall zu ihnen fahren. Wie soll ich entscheiden, was ein äußerster Notfall ist, wenn ich die Kinder, die Wohnung und die Eltern nicht sehen kann?“, fragt Anja Schauer.

Ein Säugling, vier Kinder, drei Erwachsene: einer hat Krätze

Vor ein paar Tagen erst, in Woche 1 des großen Shutdowns, meldete sich ein Mann bei ihnen. Ein Nachbar, der sich große Sorgen machte, weil er das Baby in der Nebenwohnung seit Tagen nicht mehr gehört hatte. Was er stattdessen hörte, war Partylärm, laute Musik, laute Stimmen. Seit zwei Tagen soll das schon so gehen.

Das war ein eindeutiger Fall. Außenkontakt erlaubt. Es könnte um Leben und Tod gehen. Sie rückten aus, verständigten noch die Polizei, betraten die Wohnung und erlebten eine dieser komplizierten Situationen, die so typisch ist für diesen anderen Teil einer Berliner Kinder- und Familienrealität.

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Da war die Familie, Vater, Mutter, das Neugeborene und noch zwei andere Söhne der Mutter. Da war ein anderer Vater mit seinem Sohn aus der Nachbarwohnung. Der wiederum war mit der hochansteckenden Krätze infiziert. Die Erwachsenen waren alkoholisiert. Die Wohnung war chaotisch. Immerhin lebte das Baby noch.

Schulen, Kitas, Horte, alles zu

„Ein Glück hat sich der Nachbar gemeldet“, sagt Anja Schauer. Sie haben das Baby in Obhut genommen und in einer Kriseneinrichtung untergebracht. Die anderen zwei Söhne haben sie zu ihren jeweiligen Vätern gebracht, nachdem sie sich versichert hatten, dass die Verhältnisse bei diesen soweit in Ordnung sind. Doch was wäre gewesen, wenn der Nachbar nicht aufgepasst hätte?

Coronavirus ist Lockdown. Alles steht still, alles wird heruntergefahren, alle sollen zuhause bleiben, vor allem die Kinder und Jugendlichen. Schulen, Kitas, Horte, Kinder- und Jugendeinrichtungen, alles ist zu.

Und es scheint zu funktionieren, Straßen, Spielplätze, Parks, jeden Tag leerer. Das mag für die einen Berliner Familien anstrengend, nervig, herausfordernd und gewöhnungsbedürftig sein.

Für einen anderen Teil der Berliner Kinder kann es die Hölle bedeuten.

In Wuhan hat sich die Gewalt verdreifacht

Länder, in denen der Shutdown schon länger dauert als in Deutschland, haben das bereits erfahren müssen. Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung warnt in einem Schreiben eindringlich davor. Aus der Quarantäne-Stadt Wuhan gebe es Hinweise, dass die Fälle von Gewalt in der Familie sich während der Zeit des dortigen Eingeschlossenseins verdreifacht hätten. Auch aus Italien und Spanien gebe es „ähnliche, erschreckende Zahlen“.

Ob Mädchentreff oder Frauenhaus, Jugendamt, die Arche, Schulsozialarbeiter und Familienhelfer, wo man in Berlin auch fragt, überall besteht die große Sorge, dass die nächsten Wochen extrem schwierig werden für die Kinder, Jugendliche, Frauen und Familien, die sie betreuen. Zuhause aufeinander hocken, über Tage und Wochen, das gab es so noch nie.

Sie stecken mittendrin und können nicht weg

„Da kann es nur eine Frage der Zeit sein, bis der Druck im Kessel steigt, bis es eskaliert und die Kinder stecken mittendrin und können nicht weg“, sagt Anja Schauer vom Krisenteam. Und so, wie in den Krankenhäusern die Pfleger und Ärzte versuchen, schlimmeres zu verhindern, versuchen auch die Sozialarbeiter ihre Kids und ihre Familien durch diese Zeit zu bringen.

Anja Schauers zweiter Fall für den Krisendienst in der ersten Woche des großen Shutdowns: Eine Gewaltmeldung, die aus der Woche davor liegen geblieben war, eine Putzfrau hat die Polizei informiert, weil sie eine Misshandlung an Kindern bemerkt haben will. Die Polizei fährt hin und meldet das dem Jugendamt.

All das landet auf Anja Schauers Schreibtisch. Normalerweise würde sie die Familie nun selber kontaktieren, sich alles anschauen. Das geht nicht mehr.

Gespenstische Ruhe

Ihr bleibt nichts, als mit der Polizei zu telefonieren und sich auf deren Einschätzung zu verlassen. Die gibt an, dass die Familie ihnen ordentlich und zuverlässig erschien. Der Gesundheitsdienst bestätigte, dass es sonst keine Vorgeschichten gab. Das muss für den Kinderschutz in Corona-Zeiten genügen. Fall vertagt.

Und dann legte sich eine gespenstische Ruhe, so beschreibt sie es, über das Krisenteam von Anja Schauer. Normalerweise klingeln die Telefone, kommen die Emails, ein Fall nachdem anderen erreicht sie. Manchmal so viele, dass sie gar nicht wissen, was sie zuerst machen sollen. Gemeldet von Kitas, Schulen, Schulsozialarbeitern, all jenen also, die die Kinder jeden Tag sehen, Veränderungen bemerken, blaue Flecken registrieren.

Dieser Tage gehen nur wenige Meldungen beim Jugendamt ein. Das meiste spielt sich im Verborgenen ab.
Dieser Tage gehen nur wenige Meldungen beim Jugendamt ein. Das meiste spielt sich im Verborgenen ab.
©  Patrick Pleul/ dpa

Seit Dienstag ist es, als ob die Leitungen gekappt wurden. Andere Jugendämter beobachten den gleichen Effekt.

Eine Welle der Eskalation

Das kann jetzt zwei Dinge bedeuten. Erstens könnten all die bisherigen Probleme und Gefährdungen mit einem Mal verschwunden sein. Oder aber es sieht sie keiner mehr.

„Eine Vierjährige kann und wird nicht anrufen“, sagt Anja Schauer. „Ich befürchte“, sagt sie, „dass wir in zwei, drei Wochen hier eine große Welle der Eskalation haben werden.“

Das ist nur das eine Problem. Das andere ist, dass nur noch die akuten Krisen bearbeitet werden können. Die meisten Berliner Jugendämter, wie auch die anderen Behörden, laufen in dieser Pandemie-Zeit auf Notbesetzung, die meisten anderen Aufgaben der Regionalen Sozialen Dienste wurden eingestellt.

Viele Fälle bleiben liegen

An und für sich macht das auch Sinn: Kräfte schonen, Infektionen vermeiden, um für die schlimmsten Krisen bereit zu sein. Doch das bedeutet auch, dass bis auf das Nottelefon viele der anderen Schreibtische nicht besetzt sind, kaum noch Beratungen möglich und die Hilfekonferenzen ausgesetzt sind. Laufende Akten und bestehende Fälle bleiben liegen.

„Wer soll das alles aufarbeiten, wenn die Arbeit nach Corona wieder normal weitergeht?“, fragt Anja Schauer. Insgesamt trifft die Corona-Krise ein Jugendamt in Krise, dem es seit Jahren an Mitarbeitern fehlt und deren übriggebliebenen Sozialarbeiter stark überlastet sind.

Die zuständige Senatsverwaltung sagt, berlinweit seien die Familien- und Erziehungsberatungsstellen telefonisch zu erreichen. In Einzelfällen auch mit persönlicher Beratung.

Eine Reise mit unsicherem Ausgang

„Es war ein furchtbares Gefühl, die Kinder nach Hause und gleichzeitig auf eine Weltreise mit unsicherem Ausgang zu schicken“, sagt Bernd Siggelkow, Gründer und Leiter der christlichen „Arche“ in Berlin über den letzten Dienstag, Dem Tag, als alle Einrichtungen schließen mussten.

Normalerweise versorgen sie in ihren Einrichtungen viele tausend Kinder nach der Schule mit einem Mittagessen, mit Nachmittagsprogrammen und mit Hausaufgabenhilfe. Vor allem aber sind sie da und hören zu, sind eine Art zweite Familie für die Kinder geworden.

Sofort hätten sie sich hingesetzt und überlegt, was sie stattdessen tun könnten. Sie haben einen Live-Chat für die Kinder eingerichtet. Auch können sich die Kinder per Face-Time direkt an einen Betreuer wenden.

In Verbindung bleiben, die Kinder beschäftigt halten

Die Hausaufgabenhilfe geht digital weiter. Dann startet jeden Morgen um 9 Uhr die Whatsapp-Gruppe. Hunderte von Nachrichten rattern da täglich durch.

Dort stellen sie Challenges rein: Wer sein Zimmer aufräumt oder ein Dinner für seine Familie kocht, bekommt einen Helferpunkt. Wer genügend davon gesammelt hat, bekommt ein Pokal, den sie persönlich bis vor die Tür bringen. Die Kinder wiederum senden Fotos und Bilder. In Verbindung bleiben, die Kinder beschäftigt halten, Krisen erkennen, das versuchen sie hier.

Jede Familie wird zweimal in der Woche angefahren. „Wir rufen 15 Minuten vorher an und warnen die Eltern vor, damit die Kinder nicht rausstürmen und uns nicht umarmen. Das geht ja nicht, wegen der Kontaktsperre. Dann stellen wir haltbare Lebensmittel vor die Tür, also Nudeln und Konserven, mal Gemüse, aber auch Waschmittel und Klopapier. Wir reden mit den Eltern und Kindern. Zeigen, dass wir da sind. Schauen, so gut es geht, dass alles in Ordnung ist“, sagt Siggelkow.

Einer Mutter bleiben acht Euro für zehn Tage

Der Arche-Leiter beobachtet, dass es den Eltern vor allem an Geld fehlt, um mit den Corona-Begleitumständen klarzukommen. Die Kinder essen nun alle Mahlzeiten zu Hause, dafür muss extra eingekauft werden. Dann sind viele der preisgünstigen Produkte in den Discountern ausverkauft und nur die teureren Windeln zu haben. „Eine Mutter sagte mir, dass sie nur noch acht Euro für die nächsten zehn Tage hätte“, sagt Siggelkow.

Da kommt bei ihm in all der Hektik eine Nachricht von einem Mädchen rein: Ihr gehe es gut, endlich habe ihre Mama Zeit für sie, spiele mit ihr, helfe auch noch bei den Hausaufgaben. Ein Lichtblick.

Keine Ausweichmöglichkeiten

Doch Siggelkow sagt: „Bisher sind die meisten Familien in der Not noch zusammengeschweißt. Das gibt mir Hoffnung. Doch mit jedem neuen Tag wird es herausfordernder. Der Frust wird größer, auch weil kein Ende in Sicht ist. Wir sagen den Eltern, dass es klar ist, dass auch mal der Kragen platzen kann, aber dann bitte gleich bei uns durchrufen. Gerade weil es keine Ausweichmöglichkeiten gibt und man zu acht auf 80 Quadratmetern schnell an seine Grenzen gerät.“ Nachts bleibt ein Nottelefon besetzt.

Der Leiter von Familie e.V. ist nur schwer zu erreichen. Ein Gespräch jagt das andere, seine Mitarbeiter seien sehr verunsichert. 20 Minuten am Telefon kann er jetzt aber noch dazwischen quetschen.

Sie versuchen gerade Wege zu finden, wie sie ihre Familien nun betreuen und wie sie in Notfällen agieren sollen. Was dürfen sie jetzt noch und was nicht? „Es fehlt an einheitlichen Vorgaben von der Senatsverwaltung“, sagt Jürgen Schmieder-Pethke.

Sie fangen an, sich Atemmasken zu basteln

Normalerweise stehen die Familienhelfer im ständigen Kontakt zu den Familien und treffen sie ein bis zweimal die Woche. Sie sind der Schutzschirm. Sie müssen regelmäßig schauen, ob es den Kindern gut geht oder ob sich die nächste Krise anbahnt. Gleichzeitig sollen sie den Familien dabei helfen, als Familie wieder zu funktionieren.

„Vieles, was wir sonst machen, geht jetzt nicht mehr. Wir telefonieren mit den Familien oder machen Videoberatungen. Aber das ist nicht dasselbe. Wenn wir den Eindruck haben, dass es brennt, haben wir uns in der letzten Woche mit den Familien noch im Park getroffen. Doch ob wir das diese Woche noch dürfen, wissen wir nicht.“

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Bei einem wirklich gravierenden Verdacht gehen sie kurz mit nach oben: „Wohnung sehen, Kinder sehen und wieder raus.“ Das ist das Vorgehen, dass sie sich selber gegeben haben, um den Kinderschutz aufrechtzuerhalten. Schutzkleidung hätten sie dafür nicht bekommen. Sie fangen jetzt an, sich selber Atemmasken zu basteln.

Ebenfalls auf und gleichzeitig geschlossen hat der Mädchentreff „Cafe Pink“ in Schöneberg. „Wir halten hier die Stellung, sind für telefonische Beratungen jederzeit bereit“, sagt Nina Weiß. Und gleichzeitig weiß sie und schmerzt es sie, dass die Mädchen, die es jetzt am dringendsten brauchen würden, gar nicht anrufen können. „Die Schule und unser Treff sind die Orte, an denen sie vor der Kontrolle aus der Familie sicher sind. Da geht es um die Themen Zwangsverheiratung, aber auch um sexuelle oder gravierende körperliche Gewalt, um psychischen Druck und Kontrolle.“

Einfach anrufen? Das wäre zu gefährlich

Diese Mädchen würden teils heimlich zu ihnen kommen, um für ihre Abschlüsse zu lernen, um die Computer zu nutzen, um sich Schritt für Schritt und Tag für Tag den Sozialarbeiterinnen anzuvertrauen. Manche der Mädchen begleiten sie hier von der Grundschule bis zum Studium.

Einfach zu Hause anrufen, fragen wie es geht, das wäre zu gefährlich. Die Eltern oder Geschwister könnten das mitbekommen. Manche der Mädchen hätten ein heimliches Zweithandy, dass sie jetzt aber vorsichtshalber in der Schule gelassen hätten.

„Es sind diese Mädchen, um die ich mir jetzt die allergrößten Sorgen mache. Zusammen eingesperrt mit denjenigen, die sie am meisten einengen wollen. Ich frage mich die ganze Zeit, ob ich den Mädchen alles gesagt und beigebracht habe, was sie machen sollen, wenn es eskaliert.“

Sie machen sich Sorgen um einen jungen Menschen? Die Hotline-Kinderschutz arbeitet mehrsprachig, rund um die Uhr und auf Wunsch anonym: Tel. 030 61 00 66

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