Furiose Hitler-Ausstellung in Berlin: Im Bunker der Gewissheiten
Hinter dicken Mauern gewährt ein Museum überraschende Einblicke in die NS-Zeit. Warum Schulklassen hier nerven und der Direktor bewaffnet ist.
Zum Beispiel der Artikel aus der „New York Times“, erschienen im November 1922. Er hängt oben im ersten Stock des Bunkers überdimensional vergrößert an der Wand. Cyril Brown, der Korrespondent der Zeitung, beschreibt darin beeindruckend präzise die Gefährlichkeit Adolf Hitlers. Dessen Fanatismus, die Vorliebe für bewaffnete Schlägertrupps, den exzessiven Judenhass.
Brown warnt vor der Popularität des Mannes und vor einem Flächenbrand – elf Jahre, bevor Hitler an die Macht kommen sollte.
Wer den Text mit dem Titel „New Popular Idol Rises in Bavaria“ heute liest, hat Fragen. Wenn dieser Korrespondent so früh so exakt Bescheid wusste, was sagt das über die Beteuerungen derer, die Hitler später gewähren ließen, ihm zur Macht verhalfen oder hinterher von nichts gewusst haben wollten? Man fragt sich aber auch: Wie kann es sein, dass dieser Artikel heute weithin unbekannt ist? Wieso hat den bislang noch keiner ausgekramt?
Solche Momente erlebt man ständig beim Besuch der Ausstellung. „Hitler – wie konnte es geschehen“ heißt sie, eröffnet vor zweieinhalb Jahren im Hochbunker in der Schönebergerstraße in Berlin-Kreuzberg, nicht weit vom Anhalter Bahnhof. Auf 3000 Quadratmetern dokumentiert sie den Aufstieg der NSDAP, die Phase der Gleichschaltung, Krieg und Holocaust bis zu Hitlers Suizid.
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Enno Lenze, der Museumsdirektor, steht im Eingangsbereich des Bunkers und erklärt, wie sie die Ausstellung coronafest gemacht haben. An der Decke hat er UV-C-Lampen angebracht. Sobald abends der letzte den Bunker verlässt, springen sie über Notstrom an und desinfizieren über Nacht ihre Umgebung.
Auf die Idee ist er selbst gekommen. Enno Lenze ist 38, Autor, Consultant, Ex-Verleger des Berlin Story Verlags. Vor allem ist er einer, der gern knobelt und Lösungen findet, so unkonventionell sie sein mögen. Das merkt man auch stark seiner Ausstellung an. Und seinem Umgang mit den Besuchern.
400 000 Menschen waren vergangenes Jahr hier. Sie sahen reihenweise Schautafeln und Exponate, die man in anderen Ausstellungen zum Thema nicht findet. Etwa gleich zu Beginn die Kurve an der Wand, die zeigt, wie oft der Name Hitler heute noch gegoogelt wird. Oder die Phantombilder, die ein New Yorker Maskenbildner 1944 im Auftrag des US-Geheimdiensts entwarf: Hitler mit Brille, mit Vollbart oder mit abrasiertem Haupthaar. Für den Fall, er könnte versuchen zu fliehen. Oder das Brettspiel, das ein Mann beim Ausmisten des Kellers seines verstorbenen Nazi-Großvaters fand: „Juden raus“ heißt es, die Spielfläche erinnert an „Mensch ärgere dich nicht“, dazu der aufgedruckte Ratschlag: „Zeige Geschick im Würfelspiel, damit du sammelst der Juden viel“.
Vom Glück der richtigen Besucher
Konzipiert hat die Ausstellung der Berliner Historiker Wieland Giebel. Lenze sagt, es habe ihn überrascht, was für Besucher kommen. Erwartet hatte er vor allem Zeitzeugen, die ihn dann ansprechen und korrigieren, weil sie alles ganz anders erlebt haben. Das geschieht zum Glück kaum. Stattdessen ist das Publikum sehr gemischt, erstaunlich viele 20- bis 30-Jährige kommen, auch viele Eltern mit ihren Kindern.
Der Großteil begreife, worum es ihm selbst in dieser Ausstellung gehe, sagt Lenze: das Monströse im Kleinen wie im Großen zu zeigen. Zu vermitteln, dass hier kein Unfall passierte, sondern ein mörderisches, in sich logisches Programm ablief, zu dem systematische Wehrmachtsverbrechen ebenso gehörten wie ein überwältigender Zuspruch der Bevölkerung für das Regime. Vor allem sieht Lenze die Ausstellung als Motivation, in der Gegenwart für das Geschenk der Demokratie zu kämpfen.
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Während der Planung hatte Lenze Angst, die Ausstellung könnte Rechtsextreme anziehen, die Hitler gedenken wollen. „Bei der Gestaltung jedes Raums haben wir überlegt: Könnte ein Rechter hier für ein Selfie posieren und sich freuen?“
Am Eingang prangt ein durchgestrichenes Hakenkreuz an der Infotafel, daneben der Hinweis „Sie betreten einen Erinnerungsort für die Opfer des Nationalsozialismus. Bitte verhalten Sie sich entsprechend.“ Eine weitere Tafel weist darauf hin, dass jeder, der sich respektlos benimmt, rausfliegt – und dass der gezahlte Eintritt dann an Projekte für Geflüchtete oder die jüdische Gemeinde gespendet wird.
Die Rechtsextremen kommen nicht. Zumindest gibt sich keiner zu erkennen. Lenze erinnert sich an einen Gast, der am Eingang nachfragte, warum man hier kein Bier kaufen könne oder, höhö, nicht wenigstens jüdisches Bier.
Lenze erteilte ihm Hausverbot, ebenso dem Mann, der ihn angriff und schimpfte, Lenze gehöre „doch auch ins KZ“. Da zog der Museumsdirektor seinen Teleskopschlagstock und antwortete: „Du bist haarscharf davor, die Charité von Innen zu sehen.“ Den Stock trägt Lenze bei sich, weil er pro Jahr hunderte Mord- und Anschlagsdrohungen erhält, meist übers Internet, „wobei ich nicht verstehe, warum jemand, der mich umbringen will, mir seine Absicht vorher in schlechter Rechtschreibung auf Facebook mitteilt“. Es gibt auch einen privaten Sicherheitsdienst im Bunker, selten Polizeischutz.
Ein Lehrer, der gar nichts verstand
Lenze erzählt von dem Schüler, der beim Klassenausflug im Bunker den Hitlergruß zeigte. Lenze warf die ganze Klasse raus, rief die Polizei und stellte Strafanzeige. Warum das denn, fragte der Lehrer, der Schüler sei doch so jung, der werde am Ende sowieso nicht verurteilt. Was für ein bescheuertes Argument, erwiderte Lenze. Später hat sich der Schulleiter bei ihm gemeldet und entschuldigt. Das Verhalten des Lehrers tue ihm schrecklich leid.
Überhaupt hat Lenze schlechte Erfahrungen mit Schulklassen gemacht, mehr als 1000 waren bei ihm. „Kommt es hoch, haben wir alle drei Monate eine Klasse, die vorbereitet und ernsthaft neugierig wirkt.“
Bei den anderen laufe es so: Die meisten Schüler wüssten beim Eintreffen nicht mal, dass sie jetzt eine Ausstellung erwarte, geschweige denn das Thema. Etwa ein Drittel steht nach zehn Minuten wieder am Eingang. Das ist ungefähr die Zeit, die man für die reine Wegstrecke braucht, ohne eine einzige Tafel zu lesen.
Das tatsächliche Problem seien jedoch gar nicht die Schüler. Sondern deren Lehrer. Lenze sagt, er habe es erst selbst nicht glauben wollen, doch in vielen Gesprächen erfuhr er, dass die Mehrheit der Lehrer überhaupt nicht wisse, an welchem Ort sie hier gelandet seien – und dies auch offen zugebe. „Viele kennen nicht mal die Klasse, für die sie an diesem Tag zur Begleitung eingeteilt wurden.“ Es sei halt irgendein ein Ausflug, sagen sie dann.
Der Luftschutzbunker, der die Ausstellung beherbergt, wurde 1942 gebaut. Durch einen Tunnel war er mit dem Anhalter Bahnhof verbunden, sodass Fahrgäste bei Bombenalarm hier Schutz suchen konnten. Ein Foto zeigt, wie die Menschen im Bunker zunächst auf Holzbänken saßen, als wären sie in der Kirche. „Die Bänke wurden bald geklaut“, sagte Lenze, „wegen Feuerholz.“
Manche Besucher fragen ihn heute, ob es sich hier um den sogenannten „Führerbunker“ handele. Jenen also, in dem Hitler seine letzten Tage verbrachte. Der lag einen Kilometer nördlich, wurde in den 1980ern endgültig zerstört. Lenze hat das winzige Arbeitszimmer Hitlers dort bei sich im Keller nachgebaut. Um den Mythen entgegenzuwirken, es sei ein Marmorpalast mit goldener Wendeltreppe gewesen oder Hitler habe dort auch noch den letzten Schutzsuchenden bei sich aufgenommen. „Wir wollten anschaulich zeigen, wie jämmerlich der Diktator endete. Dass er nicht mal den Raum verlassen konnte, ohne den Stuhl von der Tür wegzuschieben.“
Die Liebe der Deutschen zu ihrem Diktator
Wer es bis hierhin schafft, hat auch bei ausgeprägter Vorbildung sicher etliches Neues erfahren. Zum Beispiel, wie viel Tantiemen Hitler für „Mein Kampf“ erhielt (zehn Prozent). Was der Richter ihm attestierte, als sich Hitler nach seinem gescheiterten Putschversuch 1923 verantworten musste („rein väterlichen Geist und edelsten Willen“). Wie viele Deutsche noch hinter ihm standen, als er aus Frankreich zurückkam (90 Prozent).
Lehrreich sind auch die Interviews der Deutschen, die 1933 dem US-Soziologen Theodore Abel erklärten, warum sie Nationalsozialist wurden. Und die Zitate aus Soldatenbriefen („die Juden werden gänzlich ausgerottet, liebe Heidi, mach dir keine Gedanken darüber, es muss sein“).
[Niemals vergessen! Wo Berlin der Opfer des Nationalsozialismus gedenkt, mit Stolpersteinen und kleineren Gedenkorten in Kiezen und Ortsteilen, können Sie hier auf einer interaktiven Karte sehen: tagesspiegel.de]
Es erstaunt, wie wenig Platz Lenze dem zivilen Widerstand gegen Hitler im Bunker einräumt. Eine einzige Tafel, zwei Quadratmeter groß, weist auf die Weiße Rose, die Edelweißpiraten und Dietrich Bonhoeffer hin.
Ist Absicht, sagt Enno Lenze. Es soll verdeutlichen, wie „unglaublich wenige es waren und wie unglaublich begrenzt sie agieren konnten“. In Relation zur Gesamtbevölkerung sei der Widerstand hier aber immer noch überproportional groß dargestellt. „Im Grunde hätten wir nur ein Din-A4-Blatt in die Ecke tackern dürfen.“
Und dann Raum 29, der, exemplarisch, großformatige Fotos des Pogroms von Lemberg 1941 zeigt. Wie Juden auf der Straße gequält, totgeprügelt, verbrannt wurden. Museumspädagogen rieten Lenze von diesem Raum ab. Wenn er die Opfer so groß zeige, überwältige er seine Besucher, das sei nicht wertfrei. Lenze zwinge den Besuchern eine Meinung auf. Der sagt: „In meinen Augen kann man Opfer nicht groß genug zeigen.“
Er hat den israelischen Botschafter Jeremy Issacharoff bei dessen Besuch dazu befragt. Issacharoff hatte vorab mitteilen lassen, er habe für den Rundgang eine Stunde, blieb dann vier. Auf die Frage, ob die Bilder in Raum 29 zu brutal, vielleicht respektlos gegenüber den Opfern seien, antwortete der Botschafter: na im Gegenteil! Ihn störe eher, dass derartige Bilder vielerorts nicht gezeigt würden, weil man glaube, diese Realität seinen Besuchern nicht zumuten zu können.
Auch Vertreter der jüdischen Gemeinde und Opferverbände hätten den Raum und seine Drastik ausdrücklich begrüßt. „Wenn also alle, die mir in dieser Frage wichtig sind, das Konzept richtig finden und nur Museumspädagogen es ablehnen“, sagt Lenze, „dann kann ich sehr gut damit leben.“