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In der Nähe der Baptist University in Hongkong testet ein Demonstrant ein selbst gebautes Katapult.
© Kin Cheung/AP/dpa

In Hongkong zwischen den Fronten: „Wer will denn in einer Diktatur leben?“

Unser Autor sollte in Hongkong einen Vortrag vor Studenten halten – und erlebte eine Stadt in Aufruhr. Dann ,riet' ihm die Polizei zur Ausreise.

Enno Lenze, 37, leitet das Berlin-Story- Bunker-Museum. Mit der Baptist University in Hongkong ist er seit 2004 verbunden. Er hält dort Vorträge – und im halbjährlichen Rhythmus arbeiten Studenten der Universität als Praktikanten im Museum in Berlin. Als Berichterstatter ist Enno Lenze außerdem immer wieder in Krisengebieten unterwegs, beispielsweise an der Front in Kurdistan, wo gegen den „Islamischen Staat“ gekämpft wird. Über seinen Besuch in Hongkong berichtete er zunächst in seinem privaten Blog.

Kurz sah ich noch Nebel, dann nichts mehr. Hustend ging ich zu Boden. Irgendwer zog mich weg, Flüssigkeit wurde in mein Gesicht geschüttet. Neben mir lag eine Frau mit einem Kind, daneben ein Kinderwagen. Auch sie wurden von Freiwilligen versorgt.

Das war also das berüchtigte chinesische Reizgas – letzte Woche in einer Mall im Hongkonger Stadtteil Tsuen Wan.

Die Hong Kong Baptist University – mittlerweile geschlossen wie die Chinese University und auch die Polytechnische Hochschule – hatte mich eingeladen, vor Studenten über die Lage in Kurdistan zu sprechen, nachdem ich vor zwei Monaten zuletzt dort gewesen war. Meine Idee: beruflich nach Hongkong reisen und privat ein paar Tage dranhängen, Urlaub machen. Natürlich hatte ich die Proteste in Hongkong verfolgt. Natürlich hatte ich auch vor, mit den Studenten darüber zu sprechen. Was ich nicht eingeplant hatte: selbst hineinzugeraten.

Als Unterkunft hatte ich ein Hotel in Tsuen Wan ausgesucht, auch weil es an der MTR, der U-Bahn, liegt. Als ich am Samstag der vergangenen Woche von einem Ausflug nach Macao zurückkam, wollte ich in der Gegend etwas Essen gehen. Es gibt in den Straßen Tsuen Wans neben Shopping Malls auch viele kleine Restaurants und Läden. Nahe der U-Bahn-Station Tsuen Wan standen hunderte Menschen bei einer Trauerveranstaltung. Am Tag zuvor war ein Demonstrant gestorben, der von einem Parkdeck fiel. Es hieß, er sei vor der Polizei geflohen. Sein Name war Chow, er wurde 22 Jahre alt.

"Wer will denn in einer Diktatur leben?"

Als Europäer fällt man in der Masse auf. Leute fragten mich, ob ich wisse, worum es gehe und erklärten mir geduldig alles. Sie lieben ihr freies Hongkong, mit Demonstrationsrechten, mit freiem Internet, mit eigenem Lebensstil. Die Zentralregierung in Peking verachten sie. „Wer will denn in einer Diktatur leben?“, fragten sie. „Das sind Mörder, die ihre Taten mit Gewalt und Zensur verstecken müssen. Sei vorsichtig, die Polizei hier kommt auch vom ‚Mainland’“, warnten sie mich.

Woher die Polizisten kommen, könne man gut sagen, erklärten sie mir: Sprechen sie untereinander Mandarin, sind sie ziemlich sicher aus Festland-China. In Hongkong wird Kantonesisch oder Englisch gesprochen. Seit 1997 gehört Hongkong zu China, ist aber eine Sonderverwaltungszone. China will der ihre Sonderrechte immer schneller entziehen. China sagt: Die Demonstranten „sind Terroristen, die sich unabhängig machen wollen“. Diese Forderung hörte ich nie in Hongkong. Es geht vielen einfach darum, den Status Quo zu behalten.

Nahe der Tsuen-Wan-Station standen an diesem Abend nicht nur junge Menschen, sondern auch Rentner, normale arbeitende Leute in ihrer Businesskleidung, und, vorsichtig am Rand, Familien. An einer Wand konnte man Blumen niederlegen. Davor bildete sich eine Schlange, in der sich alle einreihten. Da, wo die Schlange einen Fußgängerüberweg kreuzte, gab es eine Lücke – um niemanden zu behindern. Neben der Wand stellten Leute Kerzen ab.

Eisenstangen, Spraydosen, Ketten

Ein paar Straßen weiter kamen etwa zweihundert vermummte Demonstranten mit Eisenstangen, Spraydosen und Ketten in der Hand vorbei. Die Eisenstangen zogen sie mit einem lauten Kratzen über den Asphalt hinter sich her. In wenigen Sekunden hatten sie eine kleine Kreuzung mit umherliegenden Absperrungen, Mülltonnen und beweglichen Verkehrsschildern blockiert und zogen weiter. Das waren also die Proteste, die ich im Fernsehen gesehen hatte.

Gab es anfangs wochentags seltener und weniger Proteste, oft auch nur in den Gegenden, in denen viele junge Menschen wohnen, wird seit einer Woche fast durchgehend demonstriert. Immer passiert irgendwo irgendwas. Am Freitag starb ein 70 Jahre alter Mann, der offenbar einen harten Gegenstand an den Kopf bekommen hatte. Er war zwischen die Fronten geraten, als Demonstranten und Pro-Peking-Aktivisten sich gegenseitig beworfen hatten. Auch die Universitäten der Stadt waren zwischenzeitlich von Studenten besetzt und mit allen Mitteln verteidigte Festungen: Nach Angaben der Polizei wurde einer ihrer Beamten am gestrigen Sonntag vor der Polytechnischen Universität mit einem Pfeil angeschossen. Die Polizei machte sich am frühen Sonntagabend deutscher Zeit bereit, den Campus zu räumen. Einen Tag zuvor waren Soldaten der chinesischen Armee in den Straßen unterwegs. Videos zeigen, wie sie in kurzen Hosen und T-Shirts Barrikaden wegräumen.

Vor der Hongkonger Polytechnik-Universität flüchtet ein Demonstrant, nachdem er ein Molotowcocktail in Richtung der Polizeifahrzeuge geworfen hat.
Vor der Hongkonger Polytechnik-Universität flüchtet ein Demonstrant, nachdem er ein Molotowcocktail in Richtung der Polizeifahrzeuge geworfen hat.
© Ye Aung Thu/AFP

In Hongkong ist es inzwischen kaum noch möglich legal zu demonstrieren. Versammlungen werden verboten, Forderungen, die gegen die Regierung in Peking gehen, schnell als „Aufstand“ eingestuft. Immer wieder werden Demonstrationen gewaltsam aufgelöst. Am Ende ist für Außenstehende schwer zu beurteilen, wer angefangen hat, wer eskaliert hat.

Vermummte legen Kreuzungen lahm

Wenn man nicht legal und friedlich demonstrieren kann, bleiben die Friedlichen zu Hause. Die Gewaltbereiten aber nicht. Diese lassen ihrem Frust freien Lauf und greifen auch chinesische Unternehmen an, beziehungsweise chinesische Lizenznehmer internationaler Marken. Deshalb werden auch Starbucks Filialen demoliert.

Mit Akkuschraubern und Funkgeräten ausgerüstet zogen die Vermummten schnell von Kreuzung zu Kreuzung. Von den höher gelegenen Fußgängerüberwegen aus riefen ihnen andere Leute zu, ob oder von wo sich Polizei näherte. Mit den Akkuschraubern werden Gitter zwischen Bürgersteig und Straße abmontiert. Die sollen eigentlich nur verhindern, dass Menschen eine Kreuzung diagonal überqueren. Sie eignen sich aber auch als Baumaterial für Barrikaden. Selbst zwei zur Seite gelegte Straßenschilder können hier den Verkehr aufhalten. Fast nie steigt einer aus, um sie zur Seite zu schieben. Mal aus Angst, als Unterstützer der Pekinger Regierung zu gelten, mal aus Sympathie für die Demonstranten – so erklären es mir Hongkonger.

So schnell, wie sie gekommen waren, verschwanden die Vermummten. In einer Ecke zwischen Mülltonnen zogen einige die schwarze Kleidung aus und tauschten sie gegen bunte T-Shirts, die sie aus ihren Rucksäcken zogen. Dazu ein Starbucks-Becher und ein Selfiestick – und sie sahen wie normale Leute aus. Umstehende ignorierten, was geschah.

Eimer voller Ziegelsteine

Es kommt auch vor, dass sich die Demonstranten umziehen, aufteilen und zu anderen Gästen eines Cafés mit an den Tisch setzen. Jene, die ich darauf ansprach, bestätigten mir: das ist Taktik. Die Menschen an den Tischen machen einfach mit. Die stille Zustimmung für die Proteste wird auf 75 Prozent geschätzt – genaue Zahlen hat niemand.

Bis jetzt war nirgends Polizei zu sehen. An mir liefen schwarz gekleidete Leute mit Eimern voller Ziegelsteinen vorbei. Als sie sahen, dass ich darauf starrte, erklärte einer: „Wir werfen die nicht auf Menschen! Wir wollen niemanden verletzten. Wir werfen die auf die Straße, dann können die Polizisten nicht mehr drüber rennen oder schnell fahren.“

Plötzlich und ganz kurz sah ich an einer Ecke einen Polizisten mit einem Granatwerfer – auch genutzt für Tränengas.

Ich rannte hin, um zu sehen was los ist. Er stand direkt vor einem Eingang der Tsuen-Wan-Station, aus der lautes Geschrei kam. War nicht kurz zuvor noch ganz in der Nähe um den toten Studenten getrauert worden? Später sah ich auf Fotos, dass die Polizei eine Gasgranate in der Station gezündet hatte. Der Polizist gehörte zu einer Gruppe von vielleicht zwanzig Beamten, die nun die angrenzenden Fußgängerbrücken abliefen. Ausgerüstet mit Helm, Schild, Pfefferspray, Granatwerfern, Pumpguns und Pistolen.

Die Polizei droht

Die Polizisten wollten nicht, dass man ihnen folgte. Sie drohten mit Schlagstöcken und Pfefferspray, einer zog seine Pistole. Schnell war eine Gruppe Journalisten und anderer Live-Streamer hinter ihnen, der ich mich anschloss. Sie standen wenig beeindruckt einen Meter vor den bewaffneten Beamten. Hinter den Filmenden sammelten sich Demonstranten, die die Polizisten anbrüllten.

Ich verließ die Fußgängerbrücke. Auf der Straße ist mehr Platz auszuweichen, das schien mir sicherer. „Black Flag“, brüllte jemand. Das heißt, dass Reizgas eingesetzt wird. Die Polizei hält vorher eine schwarze Flagge hoch. Direkt danach wurden die ersten Opfer des Einsatzes vorbeigeschleppt und am Straßenrand versorgt.

Für den Abend hatte ich genug gesehen. Bei Demonstrationen in Berlin und selbst an der Front in Kurdistan kann ich mein Gegenüber einschätzen. Und ich habe eine Regierung und Sicherheitskräfte um mich, die Pressefreiheit ernst nehmen. In Hongkong war ich mir nicht mehr so sicher.

Am nächsten Tag machte ich weiter mit meinem Touristenprogramm. Ich sah mir den Viktorias Peak an – den höchsten Punkt der Gegend. Am Abend war ich auf dem Weg zum Heli-Port am Hafen, als Demo-Sanitäter an mir vorbeiliefen. Ich folgte ihnen.

Wie konnte das so schnell kippen?

Direkt am Fluss, am Tamar Park, fand eine weitere Trauerfreier statt. Tausende hatten sich dort versammelt. Wieder war alles organisiert und ruhig. Es war weit und breit keine Polizei zu sehen. Lediglich die Verwaltungsgebäude gegenüber waren von wenigen Polizisten bewacht. Es waren Dutzende, vielleicht sogar hundert Journalisten da – und ebenso viele Sanitäter. Die Leute waren offen, höflich, sprachen gerne mit mir, waren aber fotoscheu. Sie sagten, ein falsches Foto könne ihre ganze Zukunft ruinieren. Sie hätten große Sorge, dass China bald komplett die Macht übernehmen und sich an allen rächen könne, die auch nur auf einer Demonstration rumgesessen hätten. Die Trauerfeier war genehmigt worden, sie durfte bis 21.30 Uhr dauern.

„Es ist wie bei Cinderella. Du musst bis 22 Uhr weg sein, danach fährt nichts mehr“, sagte ein Mann. Der Nahverkehr wird immer früher eingestellt, um es den Leuten schwer zu machen, zu den Protesten zu kommen – und wieder weg. So machte ich mich bereits gegen 21 Uhr auf den Weg ins Hotel. Weil ich mich verlaufen hatte, kam ich dort erst eine Stunde später an. Auf Twitter und in Live-Videos auf Periscope sah ich, wie die Polizei die Trauerfeier auflöste: Beamte mit Helmen und Schilden rannten hinter Zivilisten her. Ich war fassungslos. Wie konnte das so schnell kippen?

Für den nächsten Tag hatte ich mir vorgenommen, eine Mall zu besuchen. In der ersten standen Leute vor einer gerade zerschlagenen Starbucks Filiale und fotografierten. Ein Sicherheitsmann sagte mir: „Die Polizei kommt bestimmt gleich. Geh weg!“ Das tat ich. Es gab ja noch andere Malls. Doch kaum war ich in der nächsten drin, begann ein Riesengeschrei und die Leute rannten panisch in eine Richtung. Ich rannte mit. Dann kam der Nebel.

Vor der Tür sah ich kurz darauf Polizisten mit Gasmasken und den üblichen Waffen in unsere Richtung rennen. Offenbar war die Mall so gut wie umstellt. Ein chaotisches Katz-und-Maus-Spiel mit jeder Menge Unbeteiligter.

Flopflopflop - so klingen die "Pepper-Balls"

Am Abend war ich verabredet, in der Nähe der Tsuen-Wan-Station einen deutschen Journalisten zu treffen. Auf dem kurzen Weg dahin kamen mir Leute entgegengerannt, sie riefen: „Black Flag! Run!“ Dabei sah ich nur ganz am Ende der Straße, etwa 50 Meter entfernt, Gas. So schlimm kann das nicht sein, dachte ich. Einen Atemzug später wusste ich es besser. Auch diese kleinen Mengen sorgten für einen Hustenanfall und tränende Augen. Ein Kind mit Gasmaske lief vorbei und lachte mich aus.

Wir gingen in die entgegengesetzte Richtung. Doch auch dort kam Reizgas aus den Nebenstraßen. Wir liefen, bis wir ein offenes Restaurant fanden. Während wir darin aßen, flog Reizgas über die Straße. Die Bedienungen machten routiniert die Türen zu und sagten: „Hey, kein Problem, einfach weiteressen!“

Anschließend fuhren wir nach Kowloon, um einen Bekannten zu treffen. Auf der berüchtigten Nathan Road, wo es in den vergangenen Wochen immer wieder zu größeren Ausschreitungen kam, fuhr ein ziviler Mini-Van mit offener Tür. Von drinnen schoss ein Polizist „Pepper-Balls“ in die Menge. Das sind Paintball-Waffen, die statt Farbkugeln Pfefferspray-Kugeln schießen. Das charakteristische „Flop“ vom Abschuss erkennt man gut. Hier war es ein „Flopflopflopflopflopflopflopflopflopflopflopflopflopflopflop“. Warum und auf wen er schoss? Unklar. Vom Bürgersteig aus flog etwas gegen einen der Polizeibusse.

Mit Pumpgun in der Shoppingmall

Am nächsten Tag wollte ich in einer Mall Bubble Tea kaufen – und es kam die Polizei. Selbst wenn diesmal weit und breit niemand zu sehen war, gegen den sie vorgehen konnten. Es gab keinen Protest und keine großen Menschenmengen.

Mit Gasmasken, Granatwerfern, Pumpguns liefen sie am helllichten Tag mitten durch die Shoppingmall. Neben ihnen Leute in zivil, vermutlich ebenfalls Polizisten, mit Gasmasken und Kameras. Sie filmten alle umstehenden Menschen. Ich machte mit dem Handy ein paar Bilder – und wurde sofort aus nächster Nähe gefilmt und fotografiert. Genau wie alle anderen, die ein Foto gemacht hatten.

Ein uniformierter, aber nicht vermummter Beamter, kam zu mir und fragte auf Englisch, wer ich sei und was ich hier warum machte. Dabei filmte der „Zivilist“ mit Gasmaske mich die ganze Zeit weiter. Ein Polizist sagte mir, dass ich sofort alle Aufnahmen einzustellen hätte. Ebenfalls die Berichterstattung. Kurz zuvor hatte ich neben einem Journalisten mit Helm und Weste gestanden, vielleicht kam er deswegen darauf, ich könnte ebenfalls Reporter sein.

Journalisten berichten von Drohungen

Er erklärt mir, dass sie wüssten, wer ich sei und ich abzureisen hätte. Mein Rückflug nach Deutschland sollte in der Nacht starten, ich hatte aber überlegt, ihn angesichts der Lage in Hongkong zu verschieben. Der Polizist erklärte mir, dass ich in große Probleme geraten würde, träfe man mich tags darauf noch einmal an. Auch andere Journalisten haben mir von Drohungen berichtet, manchmal ziele die Polizei im Gefecht auch auf sie.

Rechtlich hat die Polizei in meinem Fall natürlich nicht zu entscheiden. Aber wer sollte mich hier vor Willkür schützen? Die Polizei? Die Regierung von Hong Kong? Die Regierung in Peking?

Lokale Journalisten erklärten mir, die Einheit, die mich kontrolliert hatte, seien „Raptoren“ gewesen, die nicht für Diplomatie bekannt sind. Alle rieten mir, Hongkong zu verlassen. Nicht, weil sie die Lage besser einschätzen konnten, sondern weil sie es eben auch nicht konnten. Am Morgen war ein junger Mann in den Bauch geschossen worden. Für mich war es Zeit zu gehen.

Enno Lenze

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