Deutschland 75 Jahre nach Kriegsende: Die Deutschen müssen ihren instinktiven Pazifismus hinterfragen
Deutschland muss an der Westbindung und der europäischen Integration festhalten: Niemals mehr allein! Niemals ohne Europa! Ein Gastbeitrag.
Joschka Fischer war von 1998 bis 2005 bundesdeutscher Außenminister.
Vor 75 Jahren ereignete sich die weitreichendste Zäsur in der modernen deutschen Geschichte: Im Frühjahr 1945 endete der Albtraum des II. Weltkriegs, den Deutschland und die Nationalsozialisten unter Adolf Hitler über Europa und die Welt gebracht hatten. Die Menschheit hatte ein solch kriegerisches Desaster nie zuvor erlebt
Und es war in Europa allein Deutschland unter den Nationalsozialisten, das diesen Krieg herbeigeführt hatte. Hitler wollte diesen Krieg, von Anfang an.
Diese Niederlage war total. Deutschland kapitulierte bedingungslos, wurde militärisch besetzt, unter den Siegermächten in vier Besatzungszonen aufgeteilt und seine Regierung und der Staat aufgelöst.
Das deutsche Reich hatte nur 74 Jahre seit seiner Gründung Bestand gehabt, dann versank es in Trümmern und unendlich viel Blut und Tränen und beispiellosen Verbrechen. Der Traum von deutscher Macht und Weltgeltung war ausgeträumt, definitiv, für immer.
Diese Niederlage war zugleich eine scharfe Zäsur in der deutschen Geschichte, und ließ – anders als nach 1919 mit der „Dolchstoßlegende“ – in Deutschland keinerlei Ausflüchte mehr zu.
Das Deutschland vor dem Mai 1945 und das Deutschland danach waren zwei völlig unterschiedliche Länder: vorher ein isolierter, waffenstarrender, kriegerischer Militärstaat mit Weltmachtansprüchen, gefürchtet für seine militärische Effizienz und Brutalität; danach ein in die euro-atlantischen Strukturen des Westens eingebundener pazifistischer Handelsstaat im Westen des geteilten Landes, der seine Effizienz nur mehr in der Wirtschaft bewies und sich darin als sehr erfolgreich erweisen sollte; ein geteiltes Land zudem, eine über die Jahrzehnte hinweg halb souveräne europäische Mittelmacht unter Aufsicht der Siegermächte.
Das Nie wieder!“ prägte sich über Generationen tief in das deutsche Unterbewusstsein ein
Der Mai 1945 hatte die Deutschen grundsätzlich verändert. Sie hatten genug von Glanz und Gloria, von Militär und Weltherrschaftsanspruch. Ein allgemeines „Nie wieder!“ trat an deren Stelle und machte aus gefürchteten Kriegern Pazifisten bis auf den heutigen Tag, quer durch das politische Spektrum.
Dieses „Nie wieder!“ prägte sich über die Generationen hinweg tief in das deutsche Unterbewusstsein ein und bestimmt bis in die Gegenwart hinein hierzulande den Umgang mit allem Militärischen, mit allem, was in der Außenpolitik auch nur im Entferntesten nach deutschem Führungsanspruch, nach Weltpolitik, nach strategischen Zielen riecht.
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Instinktiv ist die Mehrheit dagegen, und es fällt schwer, die Deutschen ernsthaft deswegen zu kritisieren, hatten sie doch mehr als zwingende Gründe für dieses Misstrauen, ja auf Grund unserer Geschichte auch ein gewisses Maß an Selbstmisstrauen gegen jede Form von Machtpolitik.
Deutschland hat sich das Vertrauen seiner Nachbarn erworben
75 Jahre sind, historisch gesehen, keine lange Zeit. Vieles hat sich seit dem Mai 1945 verändert: Ein voll souveränes Deutschland wurde 1990 wiedervereinigt, weil es – im Innern beruhend auf einer stabilen Demokratie und einem starken Rechtsstaat, nach außen eingebunden in das Europa der EU und das westliche, transatlantische Bündnis – sich das Vertrauen seiner Nachbarn und ehemaligen Kriegsgegner erworben hatte.
Die Mitte des europäischen Kontinents ist heute, anders als nach 1871, kein kriegsgefährlicher Unruheherd mehr, sondern zu einem Stabilitätsanker für Europa geworden und zu einem ökonomischen Motor der Integration des Kontinents.
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Die deutsche Einheit ging niemals nur die Deutschen alleine an, sondern betraf immer die Stabilität des gesamten Kontinents, weil die nationale Einheit der Nation in seiner Mitte, und genau da liegt Deutschland, recht unmittelbar das Gleichgewichtssystem der europäischen Staaten hegemonial bedrohte.
Mit dieser ihrer Lage wussten die Deutschen, mit Ausnahme Bismarcks, seit der Reichsgründung niemals wirklich umzugehen. Erst mit der Bundesrepublik und Adenauers Westbindung sollte sich das fundamental ändern.
Die deutschen Eliten waren mit Deutschlands Stärke überfordert
Deutschlands Stärke und seine geopolitische Zentrallage überforderte ganz offensichtlich die deutschen Eliten. Rechnet man dann noch die schnelle und radikale Industrialisierung nach 1871 und den kulturellen Schock, den diese Entwurzelung auslöste, hinzu, dann wird das deutsche Problem sichtbar.
Der Übergang von einer Vielzahl machtloser agrarischer Kleinstaaten zu der die europäische Hegemonie beanspruchenden industriellen und militärischen Vormacht im Zentrum Europas ging viel zu schnell, zumal der „verspäteten Nation“ (Helmut Plessner) das Wertefundament der Aufklärung fehlte und endete schlussendlich in Überforderung. Was folgte war Machtbesoffenheit und der Absturz in den Abgrund bis hin zum 8.Mai 1945.
Erst als Deutschland völlig am Boden lag, zerstört und militärisch besetzt, kam die historische Wende, die Abkehr von einem verbrecherischen, extremen Nationalismus. Die Deutschen hatten immer große Schwierigkeiten mit ihrer Stärke umzugehen.
Als sie schwach waren, wirklich am Boden lagen, gelang ihnen aber ein echter Neuanfang unter der Aufsicht verständiger und weit blickender Siegermächte im Westen und der anhaltenden Bedrohung durch die Sowjetunion aus dem Osten.
Die Westbindung war Adenauer wichtiger als die Wiedervereinigung
Es war der erste Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, Konrad Adenauer, der die bestimmende Richtungsentscheidung zu Beginn der fünfziger Jahre durchsetzte, nämlich die Westbindung der Bundesrepublik, die dann später zur Nato-Mitgliedschaft und zur Teilnahme an der europäischen Integration in Gestalt der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft führte.
Die Westbindung – für Adenauer war sie wichtiger als die Wiedervereinigung – beendete die unselige Alleinstellung Deutschlands zwischen Ost und West und machte die junge deutsche Demokratie zum Teil des Westens mit seiner Werteordnung, während die Integration Westdeutschlands in die euro-atlantischen Strukturen dessen wiedererstehende wirtschaftliche Macht fest in eine westeuropäische Friedensordnung eingebunden hatte.
In den Jahrzehnten der Bonner Republik gewöhnten sich die Westdeutschen an eine sanfte Patronage durch ihre Schutzmacht, die USA. Diese war für die harten, ja, auch unangenehmen Fragen der Weltpolitik und die Abwehr von Sicherheitsrisiken zuständig, Westdeutschland konnte sich auf die zivile Seite, auf seine Wirtschaft konzentrieren.
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Mit der Präsidentschaft Donald Trumps findet diese sanfte Patronage ein jähes Ende. Die Schutzgarantie der USA für Europa gilt nur noch „vielleicht“. Was aber ist eine solche Schutzgarantie wert? Nicht viel. Die Europäer – und gerade auch Deutschland – werden zukünftig sehr viel mehr zu ihrem eigenen Schutz in einem außenpolitisch gefährlichen Umfeld beitragen müssen als in der Vergangenheit, denn die Schutzmacht von der anderen Seite des Atlantiks will nicht mehr.
Kann sich Deutschland von seinen pazifistischen Instinkten lösen?
Beim Schutz Europas wird es vor allem, Kraft ihrer Größe und ihres Wirtschaftspotential, auf Deutschland und Frankreich ankommen. Ohne diese beiden Großen in der EU wird es keine ernsthafte europäische Verteidigung geben können.
Aber geht das mit Deutschland? Kann sich das Land von seinen pazifistischen Instinkten lösen, denen es – wie gesagt – aus guten Gründen folgt, ohne nicht erneut große Risiken zu gehen?
Trump zwingt Europa zur verstärkten Verteidigung seiner eigenen Sicherheit. Diese kann ohne Deutschland nicht funktionieren. Mit der Abschwächung oder gar dem völligen Wegfall des amerikanischen Schutzes werden sich für Deutschland wieder Fragen stellen, die seit dem Frühjahr 1945 andere für uns beantwortet haben.
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Hier tut sich für unser Land ein ernster Zielkonflikt zwischen seinem historisch begründeten Pazifismus und der Sicherheit Europas und Deutschlands auf: Kann Deutschland an der Sicherheitsfrage Europa scheitern lassen? Ich meine: Nein.
Die europäische Einigung gemeinsam mit der Westbindung ist für uns zu wichtig und solange ein solcher Schritt Deutschlands fest eingebunden in die euro-atlantischen Strukturen geschieht, ist mir deswegen auch nicht bange. Allerdings müssen als eherne Grundsätze für das Land in der Mitte Europas gelten: Niemals mehr allein! Niemals ohne Europa! Niemals mehr außerhalb des Westens!
Joschka Fischer
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