Soziale Unruhen in Frankreich: Frauen bei den Gelbwesten: Die Mütter der Kompanie
Am Samstag wollen die Gelbwesten wieder marschieren, Frauen prägen den Aufstand in Frankreich. Doch die Bewegung braucht eine neue Strategie.
Stéphanie Da Silva hält Abstand. Vom Straßenrand aus beobachtet die 48-Jährige, wie sich dutzende Menschen dichtgedrängt auf den Stufen der Opéra Garnier aufbauen. Im Hintergrund prächtiger Neobarock, davor die Demonstranten, eingepackt in Kapuzenpullis, Schals, Winterjacken – und in knallgelbe Warnwesten. „Macron démission!“, skandiert die Menge, „Macron Rücktritt!“ Es ist der Vormittag des 15. Dezember, und Paris erlebt den „Acte V“, die fünfte Großdemonstration der Gilets Jaunes. Auch Da Silva trägt eine gelbe Weste, aber vielleicht ist sie dieses Mal besonders vorsichtig: Anders als an den vergangenen Wochenenden ist sie allein aus der Nähe von Versailles in die Hauptstadt gefahren. „Mein Mann macht Pause, er hatte keine Lust, sich schon wieder den ganzen Samstag zu verderben“, sagt sie. „Doch ich wollte auf jeden Fall dabei sein.“
Für sie ist es die fünfte Demonstration in Gelb. Und die fünfte Demonstration überhaupt in ihrem Leben.
Die Menge vor der Oper, inzwischen angewachsen auf ein paar hundert Menschen, bewegt sich. Die Leute ziehen nach Norden, Richtung Boulevard Haussmann, und Da Silva folgt ihnen. Ursprüngliche Idee der Proteste war es, nah an den Elysée-Palast zu gelangen, den Amtssitz von Präsident Emmanuel Macron. Von der Opéra Garnier wären das 15 Minuten zu Fuß. Doch schon eine Querstraße hinter dem Gebäude versperren an diesem Tag hohe Eisengitter und Polizisten den Weg. Die Demonstranten gehen bis auf wenige Meter an sie heran, ein paar beginnen, die Marseillaise zu singen, andere stimmen ein. „Allons enfants de la Patrie …“
Am Ende applaudiert sie den Randalierern
Da Silva spricht lauter, erzählt, wie sie sieben Tage zuvor vom Tränengas niedergestreckt wurde, obwohl sie friedlich protestierte. „Ich war so empört darüber, wie man uns behandelt, ich habe sogar applaudiert, als Randalierer eine Ampel umgestürzt haben.“ Ihre Arbeit bei einer Kosmetikkette lässt ihr eigentlich keine Zeit für Politik, und bei der entscheidenden zweiten Runde in der Präsidentschaftswahl vergangenes Jahr gab sie erst gar keine Stimme ab, aber jetzt hat Stéphanie Da Silva die revolutionäre Wut gepackt. Sie blickt in Richtung der anderen Gelbwesten. „Wenn sich eine Gruppe bildet, die Richtung Champs-Élysées zieht, gehe ich da vielleicht auch noch hin.“
Für den Sonnabend sind erneut große Demos angekündigt – obwohl das Parlament gerade einem zehn Milliarden Euro teuren Sozialpaket zugestimmt hat, mit dem Macron die Gelbwesten friedlich stimmen will. So sollen etwa im neuen Jahr Beschäftigte auf Mindestlohnniveau monatlich 100 Euro mehr verdienen. Manche in der Bewegung, die als Protest gegen Steuererhöhungen und wachsende soziale Ungerechtigkeit entstand, hat das tatsächlich besänftigt. Vielen ist es aber nicht genug. Und manche wollen eine ganz andere Republik.
Experten versuchen seit Wochen, den Aufstand der Gelbwesten politisch einzuordnen. Die Bewegung, aktuell unterstützt von 70 Prozent der Franzosen, wirkt so amorph wie die Menschenmenge vor der Oper. Keine echten Anführer, kein klares Profil. Mit den Gilets Jaunes versammeln sich die Unzufriedenen, ein großer Teil von ihnen ist Anhänger von Marine Le Pens „Rassemblement National“ oder der Linkspartei „La France Insoumise“, und womöglich noch mehr sind insgesamt unzufrieden mit dem bisherigen Parteiensystem. Ein Demonstrant empört sich: „Erst haben sie gesagt, demonstriert nicht mit denen, das sind alles Rechtsextreme, dann hieß es, macht da nicht mit, das sind Linksradikale. Und zuletzt meinten sie, wir sollten nicht auf die Straße gehen, weil es einen Terroranschlag gab. Alles Unsinn!“
Frauen sind "besonders sichtbar"
Zumindest in Paris kann man auf den Demos unterschiedlichsten Leuten begegnen, Rentnern ebenso wie Studenten mit einem Anarchisten-A auf dem Rucksack, weißen und schwarzen Franzosen. Doch eines fällt auf, hier wie in der Provinz: die starke Präsenz der Frauen. Gerade jener, die wie Stéphanie Da Silva bisher nicht auf die Straße gingen.
Eine Untersuchung französischer Sozialwissenschaftler zeigt, dass etwa die Hälfte der Gelbwesten zum ersten Mal in einer politischen Bewegung aktiv sind – und Frauen unter den Aktivisten fast so stark vertreten sind wie Männer. Für das Projekt wurden bisher etwa 500 Gilets Jaunes im ganzen Land befragt. Die Auswertung läuft noch, einige Ergebnisse liegen vor. „Weibliche Gelbwesten sind genauso entschlossen wie ihre männlichen Mitstreiter“, sagt Tinette Schnatterer von der Hochschule Sciences Po Bordeaux. Zudem seien sie „besonders sichtbar“. Die Forscherin glaubt, das liege unter anderem daran, dass es in der Graswurzelbewegung keine „offiziellen, traditionell oft männlichen Vertreter“ gibt, etwa Gewerkschaftschefs oder Politiker. „Die Abwesenheit von Strukturen zwingt die Medien, ihren Blick auf ,normale’ Aktivisten zu lenken“, sagt Schnatterer. Die Gilets Jaunes organisieren sich über die sozialen Netzwerke.
Aber selbst unter den herausragenden Köpfen finden sich auffällig viele Frauen. Zwar heißt es beim Marquis de Mirabeau, einem Denker und Politiker aus der Zeit der Aufklärung: „Es gibt keine wirkliche Revolution, solange die Frauen nicht dabei sind.“ Tatsächlich spielten diese jedoch in der Vergangenheit meist nur im Hintergrund mit. Nun gehörte die Bretonin Jacline Mouraud mit ihren Youtube-Videos, in denen sie sich über die Erhöhung der Benzinsteuer empörte, zu den Initiatoren der Proteste. Eine andere Wortführerin, die 33-jährige Ex-Bankangestellte Priscilla Ludosky, forderte die Franzosen zuletzt auf, trotz Macrons Zugeständnissen und dem Anschlag in Straßburg weiter auf die Straße zu gehen.
"Ein wenig bricht sich natürlich Müdigkeit Bahn"
Woher rührt die Wut der Frauen? Und was bedeutet sie für die Zukunft der Bewegung?
Am Tag nach dem „Acte V“ liegt Nebel über dem nördlichen Pariser Umland. Goussainville ist eine halbe Stunde Zugfahrt vom Zentrum der Stadt entfernt, gefühlt befindet sich der Ort in einem anderen Land, die Cafés rund um den Bahnhof sind am Sonntagmorgen voll mit Männern am Tresen und vor Spielautomaten. In einer Seitenstraße mit Einfamilienhäusern parkt der Kleinwagen von Muriel Gautherin, hinter der Frontscheibe liegt eine gelbe Weste, am Rückspiegel hängt eine französische Fahne. Die 53-Jährige sitzt im Wohnzimmer ihres vietnamesischstämmigen Lebensgefährten. Die zwei reden über die gestrigen Demos, sie haben den Samstagvormittag auf den Champs-Élysées verbracht. Das Paar ist von Beginn an bei den Gilets Jaunes dabei, hat sich auch an Autobahn-Blockaden beteiligt. „Es waren jetzt weniger Teilnehmer, ein wenig bricht sich natürlich Müdigkeit Bahn“, sagt Gautherin. „Die Bewegung braucht eine neue Strategie. Dass wir nicht mit einer Stimme sprechen, ist ein Problem, und wir müssen uns besser von Randalierern fernhalten.“
Muriel Gautherins Blick auf die Entwicklung ihres Landes entspricht dem sehr vieler Franzosen. Sie arbeite als Fußpflegerin, erzählt sie, verdiene nicht schlecht. Doch am Ende bleibe ihr immer weniger Geld zum Leben. Auf Reparaturen in der Wohnung müsse sie verzichten und schon für kleine Anschaffungen Kredite aufnehmen, zum Urlaub ins Ausland fahren könne sie nicht. Die Mittelschicht, die über bescheidenen Wohlstand verfügt, würde durch hohe Steuern ausgepresst und erhielte immer weniger dafür zurück. „Voilà, und das begann nicht erst mit Macron, dessen Politik ist bloß der Auslöser!“, sagt Gautherin, gut gelaunt und sehr aufgeregt zugleich. „Sein Vorgänger Hollande konnte seine Verachtung für Leute wie mich immerhin noch verstecken. Macron schafft das nicht. Wäre er früher auf die Bewegung zugegangen, anstatt sie zu ignorieren, hätte er die ,Gilets Jaunes’ in der Tasche gehabt.“
Sarkozy enttäuschte sie maßlos
Große Hoffnung setzte sie einst auf den Konservativen Nicolas Sarkozy, Präsident von 2007 bis 2012. In dessen Wahlkampf waren Migration und Sicherheit zentrale Themen; sie beschäftigen auch Gautherin: „Hier bei uns in der Gegend werden immer wieder Autos abgefackelt.“ Er enttäuschte sie maßlos. Seit ein paar Jahren macht sie ihr Kreuz nun weiter rechts, bei Marine Le Pen. Die Politikerin verstieß ihren Vater aus der von ihm gegründeten Partei und verpasste dieser ein sozialeres Programm, das wie zugeschnitten wirkt auf Menschen wie Muriel Gautherin. Es machte den populistischen Rassemblement National zur stärksten politischen Kraft in Frankreich. „Den alten Le Pen hätte ich nie gewählt, der ist ein gefährlicher Verrückter.“
Die Gelbwesten-Bewegung hat ihren Ursprung nicht zufällig oft in jenen Gegenden, in denen auch der Rassemblement National hohe Wahlergebnisse erzielt – in der „France périphérique“, wie es der Geograph Christophe Guilluy nennt. Dem Frankreich jenseits der globalisierten Metropolen, in denen das reiche Bürgertum und die Einwanderer leben.
Und doch gehe es bei den Gilets Jaunes wenig um links oder rechts, sagt Muriel Gautherin, es sei eben keine dogmatische, sondern eine sehr pragmatische Bewegung – was auch mit dem hohen Anteil der Frauen zu tun habe. „Wenn ich mit Leuten auf den Demos ins Gespräch komme, reden wir nicht über Politik, sondern über unsere alltäglichen Sorgen.“ In vielen Familien, besonders in der Provinz und in der Arbeiterklasse, führen Frauen den Haushalt, wachen über die Ausgaben und kaufen für die Familie ein. „Die kriegen den Tisch nicht mehr ordentlich gedeckt oder können den Sprit nicht mehr bezahlen, um ihre Kinder von der Schule abzuholen. Ich merke auch, dass es viele alleinerziehende Mütter unter den Demonstrantinnen gibt, für die sind die Probleme noch größer.“
"Wir protestieren hier für uns, aber eben nicht nur"
So sieht es auch Stéphanie Da Silva, obwohl sie politisch eine ganz andere Meinung hat. Die Stichwahl zwischen Macron und Le Pen 2017 erschien ihr wie eine „zwischen Pest und Cholera“. „Im Familienleben haben wir Frauen die Macht“, sagt Da Silva. „Das Geld reicht nur mehr zum Überleben, wir haben einfach die Nase voll.“ Andere Frauen beim „Acte V“ berichten davon, wie sie in ihren Berufen als Krankenschwester oder Lehrerin soziale Probleme ganz nah erleben. Zum Beispiel, wenn es zunehmend Patienten gibt, die auf staatliche Stütze angewiesen sind, oder Schüler, die hungrig zum Unterricht kommen. Die Älteren erklären, dass es ihnen selbst zwar gut gehe, sie sich aber große Sorgen um ihre Kinder und Enkel machten. „Wir protestieren hier für uns, aber eben nicht nur“, sagt eine.
Die Tageszeitung „Figaro“ hat beobachtet, wie weibliche Gelbwesten an Straßensperren zwar eine traditionelle Rolle einnehmen, etwa indem sie Kaffee servieren, Kuchen backen und Weihnachtsbäume dekorieren – aber zugleich deutlich ihre Stimme erheben. Forscherin Tinette Schnatterer spricht von der „starken sozialen Dimension“ der Bewegung. Ihre Einschätzungen klingen so, als würde den Gilets Jaunes trotz zuletzt gesunkener Teilnehmerzahlen bei den Demos noch lange nicht der aktivistische Atem ausgeht. Oft berichten die Befragten, wie allein sie sich früher fühlten. „Zu sehen, dass sich viele Leute in der gleichen Situation befinden, hat zu einem neuen Selbstbewusstsein geführt. Das betrifft gerade die Frauen“, sagt Schnatterer. „Eine weitere Stärke ist, dass ganze Familien zusammen aktiv sind.“ Zuletzt hat es auch Schülerstreiks gegeben – an anderen Schulen als in der Vergangenheit. „Das legt nahe, dass hier die Kinder der Gelbwesten auf die Straße gehen.“
Viel Bitterkeit - und neue Forderungen
Schöpft die Bewegung neue Kraft? Oder ist winterliches Wetter auch in Frankreich die Konterrevolution, wie es der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk kürzlich im Magazin „Le Point“ ausdrückte.
Vor der Oper weht während des „Acte V“ ein schneidend kalter Wind. An Stéphanie Da Silva laufen ein paar Demonstranten mit Weihnachtsmannmützen vorbei. Da Silva ist sicher, dass es weitergehen wird, auch nach den Feiertagen. „Ich glaube nicht, dass es dieses Jahr ein Fest wird wie sonst, schon gar nicht für die, die sich keine großen Geschenke leisten können“, sagt sie. „Die Bewegung hat viel Bitterkeit zum Vorschein gebracht.“ In den vergangenen Wochen sind unter den Gilets Jaunes Forderungen nach mehr direkter Demokratie immer lauter geworden. Von Volksinitiativen nach Schweizer Vorbild ist die Rede, gar von einer neuen Verfassung und einer Sechsten Republik. Da Silva wäre für den Moment schon zufrieden, gäbe es einen neuen Präsidenten. „Weihnachten? Das bedeutet nichts!“, sagt sie. „Wenn Macron zurückträte, das wäre Weihnachten für uns.“
Und Muriel Gautherin erwähnt den Geburtstag des Präsidenten am 21. Dezember. „Mal sehen, wir werden ihm sicher ein schönes Geschenk machen.“