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Hut auf: Berlinale-Chef Dieter Kosslick.
© Foto: Kay Nietfeld/Picture Alliance/dpa

Dieter Kosslick: Er brennt für die Berlinale - aber klebt nicht an seinem Stuhl

Er ist ihr Gesicht und ihre Seele: Seit 16 Jahren leitet Dieter Kosslick die Berlinale. Zu lange, sagen jetzt manche.

Der Schal, der Hut, die gute Laune. Wer Dieter Kosslick sagt, hat dieses Bild im Kopf. Die schwäbische Frohnatur, der beste Gastgeber der Welt, Mr. Berlinale auf dem roten Teppich vor dem Festivalpalast am Potsdamer Platz, für jeden hat er ein Pfund Aufmerksamkeit in der Manteltasche. Die Stars, die Regisseure, die Branchenprofis, die Sponsoren, die Autogrammjäger, die Kritiker, das Publikum, die Fans, die auf Freikarten hoffen – Kosslick ist für alle da. Der nasskalte Februar, keine schöne Festivaljahreszeit, Kosslick kämpft um milde Temperaturen und sonnige Gemüter. Vielleicht probiert er deshalb gerne Pointen aus – die manchmal daneben gehen: Wer im Sekundentakt Zuwendung verteilt und das Fabulieren nicht lassen kann, nutzt den Witz seiner Knappheit wegen.

Seit dem 1. Mai 2001 leitet Dieter Kosslick die Internationalen Filmfestspiele Berlin. Sein mehrfach verlängerter Vertrag endet am 31. Mai 2019. Dann ist er 18 Jahre im Amt. Viel zu lang, sagen manche. Abgesehen davon, dass Zeit kein Argument ist – Kosslick lebt in einer Stadt, in der die Verabschiedung des Berliner Theaterveterans Frank Castorf nach 25 Jahren für heftigste Proteste sorgte – und dass Kosslicks Vorgänger Moritz de Hadeln 20 Jahre blieb: Es herrscht Aufbruchstimmung. Die Dynamik langer Amtszeiten bringt das mit sich. Aber es gibt auch strukturelle Probleme. Und vielleicht ja auch personelle.

Der Erneuerungs-Aufruf kommt gerade recht

Kosslicks Dienstherr ist der Bund. Wegen der sich hinziehenden Regierungsbildung wird Monika Grütters als geschäftsführende Kulturstaatsministerin derzeit keine Personalentscheidungen treffen. Noch ist also Zeit da und Luft, um über die Zukunft des Festivals zu diskutieren. Der Erneuerungs-Aufruf der 79 Filmemacherinnen und Filmemacher kommt da gerade recht. Einen Tag nach der von Grütters anberaumten Podiumsdiskussion im Haus der Kulturen der Welt tagt der Berlinale-Aufsichtsrat, am 5. Dezember. Das Gremium hat Kosslick gebeten, seine Ideen für eine mögliche Neustrukturierung vorzustellen. Das wird er tun, wie er am Telefon bestätigt. Seine Person kommt in dem Papier nicht vor, sagt er.
Die Spatzen pfeifen es von den Dächern, dass es künftig eine Gewaltenteilung geben soll – und dass Kosslick wohl genau dies vorschlagen wird. Eine Chefin oder ein Chef für die Filmkunst, eine weitere Person fürs Gesellschaftliche und fürs Geschäftliche – bei den Konkurrenten in Cannes und in Venedig ist das längst üblich. Gerade der Riesentanker Berlinale braucht einen Geschäftsführer oder eine Präsidentin und eine künstlerische Leitung. Zwei neue Namen, zwei neue Gesichter aus der internationalen Festivalwelt: Ohne Findungskommission, wie von den Unterzeichnern des Aufrufs gefordert, sind die wohl kaum aufzutreiben.

Mengenweise Jobs in Personalunion

Sponsoren bei Laune halten, Stars ins wintergraue Berlin locken, das Riesenpublikum – 335 000 verkaufte Tickets plus 160 000 weitere Kinobesuche – durch das Riesenprogramm lotsen, Wettbewerbsentscheidungen mit der Auswahlkommission treffen, diesen Wettbewerb und die elf Nebenreihen mit deren eigenen Chefs koordinieren, inklusive Filmmarkt und Initiativen wie dem Nachwuchs-Workshop „Berlinale Talents“ – das sind mengenweise Jobs in Personalunion. Es hat nicht zuletzt auch Kosslick zerrieben. Auch wenn ihm nach eigener Aussage der Humor selbst dann nicht verging, als er für die Rolling Stones 2008 städtische Bauarbeiten stoppen lassen musste, weil die Stargäste ruhig schlafen wollten.

Was die einen fürchten und die anderen hoffen: dass Kosslick, der 2019 – einen Tage vor seinem letzten Diensttag – 71 Jahre alt wird, trotzdem noch bleibt und den Weg zum Neustart nicht hundertprozentig freigibt. Am Telefon ist er irritiert über solche Spekulationen: „Für mich ist am 31. Mai Schluss. Ob ich danach noch als Filmhausmeister oder in welcher Funktion auch immer für die Berlinale tätig sein werde, das überlege ich, falls mich jemand fragt.“ Bisher habe ihn niemand gefragt. Ein klares „2019 ist Schluss“ klingt anders. Aber es klingt auch nicht nach sturer Postenverteidigung. Im Frühjahr hatte er auf Meldungen über sein angeblich endgültiges Aus mit dem Satz reagiert: „Bisher hat niemand meinen Vertrag nicht verlängert.“

Er brennt für die Berlinale

Wer Kosslick kennt, weiß: Er klebt nicht an seinem Stuhl. Aber er brennt für die Berlinale, der Abschied fällt ihm zweifellos schwer. Das macht so manchen nervös. Gerade erst ist es ihm gelungen, den Mietvertrag für die zentralen Festivalkinos am Potsdamer Platz um vier Jahre zu verlängern – eigentlich lief der Vertrag 2018 aus, also lebensgefährlich bald. Und wie andere in Berlin denkt Kosslick laut über ein zentrales Filmhaus für die Filmstadt nach, womöglich auch als Festivalzentrale. „Da wäre ich gerne noch dabei“, hatte er im Februar gesagt. Zum Aufruf der 79 meint er, dass er deren Wunsch nach einem transparenten Prozess der Neugestaltung verstehen könne. Ansonsten verweist er auf die Kulturstaatsministerin. Sie ist die Herrin des Verfahrens.

Wie fing es an, als Kosslick 2001 loslegte? Die Berlinale zog zum Potsdamer Platz, weil es ihr rund um den Zoo-Palast zu eng geworden war. Der Mann aus Pforzheim, zuvor Low-Budget-Festivalmacher, EU-Förderlobbyist und Chef der NRWFilmstiftung mit sozialdemokratischer Hamburger Vergangenheit – er war Redenschreiber von Hans-Ulrich Klose, Gleichstellungs-Pressesprecher und kurzzeitig auch „Konkret“-Redakteur – der Mann also, den damals schon alle duzten, krempelte die Ärmel hoch und das Festival um. Professionalisierung, Digitalisierung, Politisierung schrieb er ihm auf die Fahnen – und steigerte nicht zuletzt den Unterhaltungswert.

Zunächst verpasste er dem Festival Charme, vom Logo bis zu den Begrüßungen im Berlinale-Palast. 2002 wurde noch so manchem Regiestar beim Eintritt ins Kino nicht applaudiert, also brüllte Kosslick auch mal selber ohne Mikro in den Saal: „And this is the director of the movie.“ Um bald Lautsprecher-Ansagen und Moderatoren einzuführen. „Ein Festival mit Lockerungsübungen und ernsthaft zugleich“, lautete seine Devise.

Er weitete das Festival aus

Dann lockte er die Deutschen. Die Branche hatte die Berlinale unter de Hadeln zuletzt gemieden, wenn nicht gehasst. Kosslick führte eine eigene Reihe ein, die Perspektive Deutsches Kino, zeigt bis heute vier, drei, zwei einheimische Werke im Wettbewerb. 1516 deutsche Produktionen und Koproduktionen zählt die Berlinale seit Kosslicks Amtsantritt insgesamt.
Schließlich weitete er das Festival aus, führte weitere neue Reihen ein, darunter – als passionierter Vegetarier – das Kulinarische Kino. Heute erscheint die Berlinale so manchem als wucherndes Ungetüm. Das Publikum hat damit wenig Probleme, es kommt in Scharen. Aber die Fachgäste, die Filmschaffenden selber, die Einkäufer, die Medienvertreter aus aller Welt, sie blicken nicht mehr durch. Profilierung statt Nivellierung, Revision der Sektionen, die qualitative Stärkung des Wettbewerbs tut not. Auch Grütters bestreitet das nicht. Weniger Filme zeigen, die aber öfter, eine alte Idee. Sie ist nicht leicht zu realisieren wegen der Furcht der Verleiher, dann an der Kinokasse nichts mehr einzuspielen. „Accept diversity“. „Towards tolerance“. Die politischen Mottos
ließ Kosslick übrigens bald wieder sein. Als Ost-West-Drehscheibe war die Berlinale ohnehin schon zu Mauerzeiten das politischste der großen Filmfestivals, quasi standort-naturgemäß. Kosslick blieb dem Erbe treu, er hat oft Haltung gezeigt und Verantwortung übernommen. Ob mit Solidaritätsaktionen für inhaftierte iranische Filmemacher, mit Angeboten für Flüchtlinge in Berliner Notunterkünften oder diskret in der Hintergrunddiplomatie für schikanierte Künstler und Gäste, Hand in Hand mit dem Auswärtigen Amt. Ein Silberner Bär für den bosnischen Rom Nazif Mujic – und Unterstützung für dessen Asylantrag –, das gibt’s wohl nur auf der Berlinale.

Ein strukturelles Dilemma, kein personelles

Highlights unter Kosslick? Sofort fällt einem die Bekanntgabe des Bären für Michael Winterbottoms Flüchtlings-Dokufiction „In This World“ 2003 ein, just zu der Stunde, als draußen am Potsdamer Platz eine halbe Million Menschen gegen den Irakkrieg demonstrierten. Oder der Goldene Bär für Asghar Farhadis Scheidungsdrama „Nader und Simin“ 2011, das im Jahr darauf den Oscar gewann. Plötzlich gehörte der Iran zu Europa – seine Kultur, seine bürgerliche Mitte.

Kein Glamour? Nicole Kidman war da, George Clooney des öfteren, aber nach Cannes und Venedig kommen mehr Stars. Der hysterisch umjubelte Auftritt von Mick Jagger und Co. bei der Eröffnung mit Martin Scorseses Stones-Doku „Shine A Light“ 2008 blieb eine Ausnahme. Was an der Oscar-Problematik liegt. 2002 konnte Kosslick noch Russell Crowe mit „A Beautiful Mind“ im Berlinale-Palast begrüßen, der Film hatte am gleichen Tag acht Academy-Nominierungen ergattert. Seit der Vorverlegung der Oscar-Gala vom März in den Februar ist Schluss mit solchen Coups. Wer Oscar-Filme und ihre Stars nach Berlin locken will, müsste das Festival in den Dezember verlegen. Ein strukturelles Dilemma, kein personelles.

Die Berlinale braucht ein Gesicht

Das Wir-Gefühl und den Human Touch, den Kosslick dem Festival verpasst hat, möchte man nicht missen. Auch wenn er sagt, dass er den Auftritt beim Kinderfilmfest mit Sohn Fridolin, damals noch ein Säugling, nicht wiederholen würde. Der glückliche Vater trug den schlafenden Jungen mit aufs Podium, Fridolin wachte auf und schrie beim Anblick der vielen Kinder. Wer Kosslick alle Jahre wieder vor dem Festivalstart im Büro aufsucht, findet dort jedesmal etwas Persönliches vor.

Nicht nur so etwas wie einen Gymnastikball, sondern Herzblut-Requisiten zum jeweiligen Jahrgang. 2008, als die Stones kamen und Musikfilme das gesamte Programm prägten, lag da Kosslicks E-Gitarre. Eine Fender Stratocaster, mit der er schon als Teenie in seiner Heimatstadt Pforzheim auftrat. Oder in diesem Jahr ein Keramik-Bus mit zwölf schwarzen Aposteln, die vom Teufel kutschiert werden – ein Gastgeschenk aus Mexiko, wo er kurz zuvor die Berlinale präsentiert hatte.

Die Berlinale braucht ein Gesicht, eine Seele, eine Identität. Kosslick hat es verdient, dass er zwei letzte, gute Jahre hinlegen kann. Dass er würdig verabschiedet und nicht zum Opfer seines Erfolgs wird. Dass vor lauter Neustart-Sehnsüchten nicht plötzlich alles passé ist, was die Berlinale ausmacht. Ein bisschen wuchern soll und wird sie auch weiter. Dass das Panorama, die wichtigste Nebenreihe, seinen Chefwechsel im Sommer mit der Einführung einer Dreierspitze aus teils langjährigen Mitarbeitern bewerkstelligte, sieht man mit Sorge. Der Wechsel an der Spitze braucht nicht nur Kontinuität, sondern auch frisches Herzblut.

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