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Alterssitz. Eine vertraute Umgebung ist für viele Senioren genauso wichtig wie eine bezahlbare Miete.
© photocase.de/Jan Werner

Wohnungskündigungen in Berlin: "Ein Umzug wäre der Anfang vom Sterben"

Sie sollen ihre Wohnung in Berlin-Friedenau räumen, nach 45 Jahren. Der neue Eigentümer macht Eigenbedarf geltend. Doch die Hubers kämpfen um ihr Zuhause.

Kleinste Veränderungen stören im Alter, nun muss sie mit einer unmöglichen kämpfen. Luise Huber steht in einer leeren Wohnung, die sie mit sieben anderen Interessenten besichtigt. Die Maklerin sagt, sie müsse eine Mietschuldenfreiheitsbescheinigung abgeben, eine Schufa-Auskunft. Luise Huber hat davon noch nie gehört, versteht kein Wort. „Wo rufe ich denn dafür an?“, fragt sie.

Zuletzt hat Luise Huber 1974 nach einer Wohnung gesucht. Jetzt, im Alter von 76 Jahren, ist sie wieder dazu gezwungen. „Anrufen? Ach was!“, sagt die Maklerin. „Das können Sie ganz einfach online machen.“ Luise Huber hat nicht einmal einen Computer.

So ordentlich sie nach außen wirkt, mit den sorgfältig gekämmten weißen Haaren, den Ohrclips, dem geknoteten Seidentuch um den Hals, so durcheinander ist sie tatsächlich. Seit einem halben Jahr schon. Als der Brief ankam, der alles zunichte machte, was so sicher schien.

Sie wird nervös und schusselig, so war sie früher nie

An jenem Tag im Juli war Luise Huber nicht zu Hause. Ihr Mann Hans nahm das Einschreiben entgegen und las: „Ich kündige das mit Ihnen bestehende Mietverhältnis über die Wohnung (...) wegen Eigenbedarf zum 31.03.2019.“ Als Luise Huber das hörte, konnte sie es nicht glauben. An guten Tagen kann sie das noch immer nicht. An schlechten Tagen überlegt sie, was die Sätze in dem Brief bedeuten, wo sie nächstes Jahr Weihnachten feiert. Dann verliert sie den Appetit. Sie wird nervös und schusselig, was sie zuvor nie gewesen ist.

Wohnen ist in Berlin zu einem der drängendsten sozialen Probleme geworden. Jedes Jahr werden Tausende von Mietwohnungen in Eigentumswohnungen umgewandelt. 2017 zählte der Berliner Mieterverein (BMV) 16.548 Fälle, vier Mal so viele wie zehn Jahre zuvor. Immer mehr Mieter können sich ihre Wohnung nach teuren Modernisierungen nicht mehr leisten – oder müssen ihr Zuhause wegen einer Kündigung verlassen. „Es gibt kein Naturgesetz, das mir das Recht gibt, für immer in meiner vertrauten Umgebung zu bleiben“, sagte kürzlich Carsten Brückner, der Vorsitzende des Eigentümerverband Haus & Grund.

Luise Huber aber verzweifelt an der Vorstellung, ihr Zuhause verlassen zu müssen. „Ein Umzug wäre für mich der Anfang vom Sterben“, sagt sie.

Vier Zimmer, Altbau, in Friedenau - ihr Zuhause

Mit einer Hand auf dem Geländer geht sie nach dem Besichtigungstermin die 30 Stufen von der fremden Wohnung langsam hinunter. Ihr Knie ist wegen eines Skiunfalls schon lange steif. Deswegen hat sie jeden Dienstag Gymnastik. Wird es dick und schmerzt, so wie neulich, humpelt sie rüber zu ihrem Orthopäden, der sie seit 16 Jahren behandelt. Für beide Wege in ihrem vertrauten Kiez in Friedenau braucht Luise Huber höchstens zehn Minuten zu Fuß, so wie für alles Wichtige in ihrem Alltag – Apotheke, Bäcker, Supermarkt. In ihrem kleinen Radius kommt die 76-Jährige zurecht. In einem größeren, fremden Umkreis würde sie das nicht.

In seine Wohnung ist das Ehepaar Huber 1974 mit einer Warmmiete von 264,80 Deutsche Mark eingezogen, vier Zimmer, Altbau. Heute zahlt es für seine 110 Quadratmeter weniger als 700 Euro. Die Hubers wollen ihren richtigen Namen nicht nennen, weil sie noch hoffen, dass ihr Vermieter, der das gesamte Haus 2007 gekauft hat, seine Entscheidung überdenkt. Ob er das tut, werden die nächsten Tage zeigen. Der Rechtsberater des Mietervereins von Luise Huber hat Widerspruch gegen die Kündigung eingelegt. Nun warten sie.

Was musste Luise Huber für den Widerspruch nicht alles erledigen: Sie holte Atteste von ihrem Arzt – auch für ihren Mann, der wegen diverser körperlicher Gebrechen und einer beginnenden Demenz Pflegegrad 2 hat. Sie gab Wohnungsanzeigen auf und fuhr immer wieder zu ihrer besten Freundin nach Wilmersdorf, suchte dort am Computer auf Immobilienportalen herum. Tippte sie ihr Budget ein, 800 Euro, 900 Euro, schrumpfte das Angebot fast immer auf Null. Wenn nicht, telefonierte Luise Huber, organisierte Besichtigungstermine, kopierte Dokumente. Sie las im Tagesspiegel vom Projekt „Wem gehört Berlin?“ und schrieb einen Brief an den Checkpoint-Newsletter, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen.

Die Langzeitrecherche „Wem gehört Berlin“ ist eine Kooperation des Tagesspiegels mit dem gemeinnützigen Recherchezentrum Correctiv. Auf unserer Plattform wem-gehoert-berlin.de können Sie uns mitteilen, wer Eigentümer Ihrer Wohnung ist, und welche Erfahrungen Sie mit Ihrem Vermieter gesammelt haben. Mithilfe der Daten suchen wir nach unverantwortlichen Geschäftspraktiken und machen den Immobilienmarkt transparenter. Eingesandte Geschichten werden nur mit Ihrer Einwilligung veröffentlicht.

Hoffen auf die Sozialklausel

„Meine Freundin sagt immer: Ein Termin am Tag, das ist, was man in unserem Alter noch schafft“, sagt sie. So ein Tag ist bei Luise Huber lange her.

Das Einzige, das sie und ihren Mann schützen kann, ist die Sozialklausel, Paragraph 574, Bürgerliches Gesetzbuch. Danach kann jemand in seiner Wohnung bleiben, wenn „die Beendigung für den Mieter eine Härte bedeuten würde, die auch unter Würdigung der berechtigten Interessen des Vermieters nicht zu rechtfertigen ist“. Die Kriterien, die dafür gelten, sind eine lange Mietdauer, die Verwurzelung in der Umgebung, Krankheit, und kein auffindbarer Wohnersatz, der angemessen ist.

Auf die Hubers trifft alles zu. Alles hat Luise Huber für den Widerspruch nachgewiesen. Trotzdem haben sie keine Garantie zu bleiben. Mit viel Glück gibt ihr Vermieter Ruhe. Wenn nicht, schickt er ihnen bald eine Räumungsklage zu. In dem Fall ziehen die Hubers vor Gericht.

Luise Huber ist in Berlin geboren, inzwischen hat sie das Gefühl, dass Alte und Arme hier keinen Platz mehr haben. Sie weiß natürlich, dass sie und ihr Mann viel günstiger wohnen als andere Menschen in Berlin. Dass sie mehr Zimmer haben, als sie brauchen, während Wohnraum knapp ist. „Vor zehn Jahren hätten wir das mit einem Umzug auch noch geschafft“, sagt sie. „Aber jetzt wäre es die Höchststrafe für uns.“

Zuhause sitzt Hans Huber auf dem Sofa und erkennt am Knarren des Parketts, dass seine Frau zurück ist.

„Wie war’s?“

„Die Wohnung war nicht so schlecht, aber kleiner als unsere, und ich muss viel einreichen.“

„Aha.“

Hans Huber, 78, trägt zu seinen grauen zotteligen Haaren einen hellgrauen Bademantel und nippt an einem Glas Rotwein. „Ich weiß nicht, ob er das verstanden hat“, flüstert seine Frau. „Er vergisst viel. Gestern fragte er wieder: Wer will hier rein? Was soll das denn?“

"Eher erschieß ich mich, als dass ich ausziehe!"

Meist spricht er nicht darüber, glaubt, seine Frau werde schon alles regeln. An anderen Tagen will er einen Platz im Heim, falls sie nicht bleiben dürfen. Oder den Tod. „Eher erschieß ich mich, als dass ich ausziehe!“, sagt er dann.

Wie es ihm heute geht? „Ich konnte nicht gut schlafen. Hab überlegt, wie ein Umzug mit all meinen Büchern gehen soll.“ Die dunklen Holzregale in seinem Zimmer reichen drei Meter hoch bis zur Decke. Hinter den vielen, vielen Buchrücken stehen noch einmal so viele. Vor den Regalen türmen sich Stapel von Zeitschriften. Es riecht muffig und süß, nach Pfeifentabak, altem Papier und Staub.

All die Bücher einpacken und mitnehmen? In der Wohnung, die sich seine Frau gerade angesehen hat, würde nur ein klitzekleiner Teil hinein passen. Wegschmeißen? Kommt für Hans Huber, der als Taxifahrer arbeitete und eigentlich doch Schriftsteller werden wollte, nicht in Frage. Zurücklassen kann Hans Huber auch nichts. Er musste in seinem Leben zweimal fliehen. Mit fünf Jahren aus der ehemaligen Tschechoslowakei, mit 13 von Weimar nach Westberlin. Seitdem hängt er an dem, was er hat.

„Vielleicht stürzt ein Regal vorher auf mich nieder“, sagt er und lächelt, als wäre das etwas Gutes.

Erste Schritte, Schürfwunden, Liebeskummer - alles passierte hier

Ihr Sohn kommt hin und wieder vorbei, aber um das Wohnungsdrama kümmert sich Luise Huber bislang allein. Als sie 1974 in die Vierzimmerwohnung zogen, war ihr Sohn ein halbes Jahr alt. Die ersten Worte, die ersten Schritte, Schürfwunden, Liebeskummer, etliche Geburtstage – alles passierte in diesen Räumen. Sein ganzes Heranwachsen. Die Kita, in die er ging, war bloß 200 Meter entfernt. Später ging er in die Friedrich-Bergius-Schule, direkt daneben.

„Hatte er mal wieder seinen Schlüssel vergessen, machte ihm eine Nachbarin mit einem Dietrich auf“, erzählt Luise Huber. Als das Rentnerpaar seine Badewanne vor zwei Jahren nicht nutzen konnte, durfte es bei der Familie über sich duschen, die im Urlaub war. Luise Huber hat auf andere Kinder im Haus aufgepasst, von denen Fotos am Küchenschrank kleben. Sie gießt bei Nachbarn Blumen, nimmt Pakete an. Kämen die Hubers zwei Tage nicht aus der Wohnung, würde jemand klopfen. So nah sind sich Nachbarn, die einander lange kennen.

In jungen Jahren mag der Mensch Veränderungen. Luise Huber hat nach der Schule in Paris und London gelebt, wollte die Welt sehen. Als sie sich als Stewardess langweilte, studierte sie Lehramt. Mittlerweile schätzt sie das Gewohnte. Es irritiert sie, wenn ein Traditionsgeschäft schließt und eine Billigkette eröffnet. Wenn wieder ein großer Wohnklotz errichtet wird und dafür eines jener kleinen Friedenauer Häuser abgerissen wird, in denen einst auch Günter Grass wohnte. Oder wenn sie beim Bäcker hört, dass bald nicht nur ihre Bankfiliale schließen soll, sondern auch die Post drei Straßen weiter. Da war Luise Huber ganz entsetzt und hatte noch am nächsten Tag Bauchweh. Wie oft seit dem Brief.

Hinter ihrer Tür blieb alles, wie es war

Ihr Mann, der sei noch schlimmer. Gar nichts darf neu sein. „Das muss doch nicht sein“, schimpfte er, als sie ein einziges Mal die Küche anders einrichten wollte. „Das moderne Zeug ist bloß Plunder!“

Seit die Hubers in ihrer Wohnung leben, ließen sich drei Ehepaare in dem Haus scheiden. Kinder wurden erwachsen und zogen aus. Doch hinter ihrer Tür blieb alles, wie es war. Sucht sie ihre Lupe, weiß Luise Huber, die liegt unten links im Wohnzimmerregal. Muss ihr Mann nachts ins Bad, findet er den Weg im Dunkeln. Alles ist an seinem Platz. Einen anderen wollen die Hubers nicht mehr.

Wie sollten sie sich den auch leisten? „Rentnerpaar 76/78 J. sucht zum 1.4.2019 3-Zi.-Whg., ca. 90 m2, HP oder Aufzug, bis 800 Euro Miete“. So lautete ihre erste Anzeige. Gemeldet hat sich niemand. In derselben Spalte boten ein „junges zuverlässiges Paar“ und „zwei leitende Angestellte“ für eine ähnlich große Wohnung fast das Doppelte. 1500 Euro sind aber alles, was die Hubers im Monat an Geld zur Verfügung haben. Allein wegen der gestiegenen Mietpreise fragt sich Luise Huber, wie sie etwas finden soll, wenn sie tatsächlich aus ihrem vertrauten Zuhause muss.

Der Berliner Mieterverein gibt der Bundesregierung eine Mitschuld daran, was die Hubers durchmachen. Während sämtliche Politiker sich über die Wohnungskrise empören, habe die Große Koalition im Entwurf für ein neues Mietrecht erneut auf eine Verbesserung des Kündigungsschutzes verzichtet. Ihr seien „die Sorgen der älteren Mieter egal“, kritisiert BMV-Geschäftsführer Reiner Wild. Er fordert, dass die Eigenbedarfsregel auf Verwandte ersten Grades beschränkt werden muss. Außerdem sollten Mieter besonders geschützt werden, wenn sie länger als zehn Jahre in ihrer Wohnung leben und älter als 70 sind.

Sie weiß, dass es böse enden kann

Luise Huber hat von Geschichten gehört, die ihrer eigenen ähneln – und die am Ende gut ausgegangen sind. Wegen Eigenbedarfs sollte ein altes Paar nach 20 Jahren aus seiner Wohnung. Der 87-jährige Ehemann litt – wie Hans Huber – unter anderem an einer beginnenden Demenz. Nach Aussage seiner Frau sei ein Umzug nicht zumutbar gewesen, weil er in ein Pflegeheim und sie getrennt von ihm leben müsste. Der Vermieter reichte dennoch eine Räumungsklage ein. Das Amtsgericht Bühl und das Landgericht Baden-Baden gaben dem statt. Erst der Bundesgerichtshof (BGH) hob die Urteile 2017 auf.

In der Begründung heißt es: „Macht ein Mieter – wie hier – derart schwerwiegende gesundheitliche Auswirkungen eines erzwungenen Wohnungswechsels geltend, müssen sich die Gerichte bei Fehlen eigener Sachkunde mittels sachverständiger Hilfe ein genaues und nicht nur an der Oberfläche haftendes Bild davon verschaffen.“

Luise Huber weiß aber auch, dass es böse enden kann, so wie bei Jürgen Rostock. Er lebte seit 1990 in einem Wohnhaus in Mitte und litt mit 81 Jahren an einer Herzschwäche. Trotzdem verlor er Ende 2017 den Prozess gegen seine Vermieterin – und starb kurz darauf.

Soll sie die Regale also langsam durchsehen? Damit anfangen, ihre Kleidung auszusortieren? Sie bräuchten ganz neue Möbel, weil ihre meterhohen Schränke, die Mahagoni-Kommode im Flur, das rote in der Mitte durchgesessene Sofa viel zu klobig sind.

„Man verliert im Alter doch schon genug“, sagt Luise Huber und beginnt zu weinen. In ihrem Kiez hat sie mehr als die Hälfte ihres Lebens verbracht. Hier fühlt sie sich sicher, selbstständig. Hier hat sie nicht allzu weit entfernt ihre beste Freundin, die sie seit 50 Jahren kennt. Was, wenn das bald nicht mehr so ist? Die Rentnerin wäre mit ihrem Mann, der wegen seines Rückenleidens kaum mehr vor die Tür geht, auf einmal allein.

Das Grab ihrer Mutter könnte sie nur noch selten besuchen. Die hatte zwar nicht in Friedenau gewohnt, liegt aber seit vier Jahren auf dem Friedhof Stubenrauchstraße begraben. Luise Huber dachte, sie könne noch lange zu dem Grab gehen, mit dem Rad, später vielleicht mit dem Rollator. Und irgendwann wollte sie mit ihrem Mann dort ruhen. So sicher war sie sich, für immer zu bleiben.

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