Tischtennis in der JVA Tegel: Dimo Bilic - der Spielgefährte
Seit neun Jahren trainiert Dimo Bilic eine Tischtennis-Mannschaft in der JVA Tegel. Er hat Ehrgeiz geweckt – und ein Fenster nach draußen gebaut.
Verdammt, den hätte er doch kriegen müssen. „Verdammt“, schimpft der Blonde in der quietschrosa Sporthose dem Tischtennisball hinterher. Benjamin L. heißt er, Benny, 41 Jahre alt, stabil gebaut, Berliner, 2010 verurteilt zu einer lebenslangen Haftstrafe.
Dimitrije Bilic sagt, Benny sei sein bester Mann.
An einem Sonntag im Frühling steht Dimitrije „Dimo“ Bilic im Trainingsanzug in der Sporthalle der Justizvollzugsanstalt Tegel und beobachtet angespannt, was die Spieler links und rechts von ihm an den Platten machen. Neben Bilic steht ein Stuhl, doch er denkt gar nicht daran, sich hinzusetzen. Pock pock, pock pock klacken die Bälle auf den Schlägern und Platten. Daumen hoch für den Mann zu seiner Linken, Schulterklopfen für den zur Rechten.
Dimo Bilic, Profi, 78 Jahre alt, trainiert im zehnten Jahr eine Tischtennismannschaft im Gefängnis. In all der Zeit hat er hier etwa 200 Männern sein Lieblingsspiel beigebracht, kein Schluffi-Pingpong, Turniersport. Er hat sie neugierig gemacht und ehrgeizig. Verdammt!
Zehn Insassen unterschiedlicher Nationalitäten kommen derzeit regelmäßig zum Training, das niemand von draußen einfach so besuchen darf. Die Spieler sind ausgesucht, gefiltert nach viel Können und wenig Aggressionspotenzial. Und nach der Länge ihrer Haftstrafe. Ein halbes Jahr sollten sie noch bleiben müssen, sonst lohnt sich keine Anmeldegebühr beim Verband. Wer offiziell bei einem Spiel wie dem an diesem Sonntag antreten darf, entscheidet natürlich der Trainer. Es ist das letzte Punktspiel der Saison für das Team der JVA. Bilics Männer in ihren blauen Trikots stehen den Herren des TSV Staaken 06 III gegenüber. Es wirkt wie ein ausgeglichener Wettkampf, die Männer alle im mittleren Alter. In kleinen Pausen winkt Bilic seine Spieler heran für taktische Tipps im Flüsterton.
Bilic: „Der ist lauffaul.“
Benny L.: „Kriege ich hin.“
Gemeinsam mit seinem Geschäftspartner soll Benny L. vor rund zehn Jahren den Auftrag gegeben haben, einen vermögenden Makler aus dem Weg zu schaffen. Der „Mord auf der Fischerinsel“ beschäftigte die Berliner Zeitungen wochenlang.
Ein kleines bisschen Freiheit
Sport, das wird er später sagen, sei in Haft immer seine Art gewesen, Ausgleich zu finden, Ablenkung, sich ein kleines bisschen Freiheit zu verschaffen. Schon in Untersuchungshaft in Moabit begann er, Tischtennis zu spielen: Einmal am Tag durfte er für eine Stunde in den Hof, da stand eine steinerne Platte. 2011 kam er nach Tegel und spielte weiter, drinnen, auf richtigen Tischtennisplatten, bei Herrn Bilic. In der Tabelle der Zweiten Kreisklasse D des Berliner Tisch-Tennis Verbands steht seine Mannschaft auf Platz 7. Zwischen dem TSV, dem CTTC oder BTTC fällt JVA in der Abschrift der Tabelle nur jenen auf, die wissen: JVA, dahinter versteckt sich nicht nur ein abgekürzter Berliner Vereinsname.
Das Spiel an diesem Tag ist ein Auswärtsspiel. Theoretisch. Die Gastmannschaft ist in diesem Fall der Gastgeber. Die JVA Tegel ist immer der Gastgeber.
Wer hinein will, durchs Tor II, schließt draußen Wertsachen hinter windschiefen Türchen ein, geht durch ein schweres Tor, gibt den Ausweis ab, geht durch ein zweites Tor, „immer am Zaun entlang, hinten holt Sie jemand ab.“ Die Sporttaschen der Spieler werden kontrolliert, nur das Nötigste darf mit hinein in den Sportbereich, der sich vom ersten Anschein her kaum von gewöhnlichen Trainingsmöglichkeiten unterscheidet. Ein Flur mit Vitrinen voller Trophäen, Fotos der Mannschaften an den Wänden, Bänke für alles, was beim Umziehen liegenbleibt. Die hohen Mauern draußen, die sieht man von hier drinnen nicht.
Auf einer der Turnbänke in der Halle nehmen wenige Zuschauer Platz. Männer, die so breit sind wie hoch, die ohne Frage lieber an Geräten Gewichte stemmen, als kleine weiße Bälle über ein Netz zu schlagen oder anderen dabei zuzusehen; die aber nach Abwechslung lechzen wie alle hier.
Bilic, schlank und so hochgewachsen, dass ein Großteil der Menschheit schon aus natürlichen Gründen zu ihm aufschauen muss, genießt den Respekt der Gefangenen, die er hier regelmäßig anfangs zweimal, mittlerweile einmal die Woche zum Training besucht. Ende März dieses Jahres ist er vom Berliner Innensenator für sein Engagement mit der Ehrenplakette für besondere Verdienste um die Förderung des Sports ausgezeichnet worden. Seine Spieler in Tegel hatten ihn sogar mal fürs Bundesverdienstkreuz vorgeschlagen.
Warum sie da sind, fragt er nie
Die Ehrung macht seine Arbeit auch außerhalb der Gefängnismauern sichtbar. Das bedeutet ihm viel. Drinnen aber ist vor allem wichtig, dass er tatsächlich immer wiederkommt. Von allen guten Geistern verlassen sind sie also nicht wirklich, die schweren Jungs, einer ist da. Und der ist ihnen, in all seiner weißhaarigen Eminenz, auch Klagemauer.
„Ich frage nie nach dem Grund, warum die Männer im Gefängnis sind“, sagt Dimo Bilic. Er weiß es trotzdem bei jedem einzelnen. Weil sie es ihm ohnehin irgendwann erzählen; weil er zuhört, ohne zu urteilen. Spricht er sie an, dann immer in der Höflichkeitsform. Er macht das auch, um Distanz zu wahren.
Bilic: „Das war ganz klug, dass Sie den Ball im Spiel gehalten haben.“
Benny L.: „Da habe ich ein bisschen Glück gehabt.“
Dimo Bilic wurde am 14. März 1941 in Sarajevo geboren, der jüngste von drei Brüdern. Als kleiner Junge spielte er so viel Schach, dass seine Mutter voller Sorge war: Das Kind wird verrückt! Ein Onkel schenkte ihm den ersten Tischtennisschläger, da war er elf, und bald begannen die Brüder, den Küchentisch stundenweise zur Tischtennisplatte umzufunktionieren. Den einen Ball, den sie hatten, hüteten sie. Zerbrach er in kleine Stücke, klebten sie ihn mit Azeton. So erzählt es Dimo Bilic an einem Vormittag in seinem Wohnzimmer. Die Mutter sei beruhigt gewesen – endlich bewegte sich das Kind. Dem wiederum fiel auf: Tischtennis, das ist Schach mit anderen Mitteln. „Man muss überlegen, wie man den Gegner austricksen kann.“
Schnell gewann er gegen die älteren Brüder. Als der Vater in der Zeitung von einer Meisterschaft in Sarajevo las, zu der erstmals Schüler zugelassen wurden, meldete Dimo Bilic sich sofort an – und gewann. Der Preis war ein Schläger.
Die Gegner loben das Niveau
Bilic mag die Männer in Tegel. Er sagt er habe keine Vorurteile. Doch natürlich vergisst er nicht, wo er ist und mit wem er es zu tun hat. Die Fluktuation in seinem Team ist groß, immer mal wieder wird einer entlassen. Die Konzentrationsfähigkeit mancher Spieler könnte besser sein – das ist eine Gewöhnungsfrage und vielleicht auch eine danach, wie viele Drogen man in seinem Leben schon genommen hat. So viel trainieren wie draußen kann hier drinnen auch niemand. Die Gegner an diesem Tag loben trotzdem das Niveau der Tegeler. Angst, sagen sie, haben sie nicht. Mitleid auch nicht.
„Ich mag es, mich mit anderen zu messen und besser zu werden“, sagt Benny L. Dann lacht er und sagt: „Ich war aber auch mal deutlich besser.“ Seit Februar dieses Jahres ist er im offenen Vollzug im Südwesten Berlins, nach Tegel kommt er nur noch für die Punktspiele und in einen Verein kann er erst demnächst wechseln, weil es Transferfenster gibt, an die sich Spieler und Vereine halten müssen. Wenn er am Abend nicht mehr ganz so zeitig in seiner Zelle sein muss, wird er dann irgendwann auch regelmäßig an abendlichen Trainingseinheiten seines neuen Vereins teilnehmen können. „Ich bin schon ehrgeizig“, sagt er.
Konzentriert und schnell spielt er seinem Gegner in der Sporthalle die Bälle zurück, er zwingt ihn zu Fehlern, zielt auf die Körpermitte, damit der andere ins Schwitzen kommt, überlegen muss: Vorhand, Rückhand?
„Beharrlichkeit“, das habe Dimo Bilic ihm in den Trainingsjahren im Gefängnis beigebracht, sagt Benny L. „Nicht gleich aufgeben, wenn es mal schlecht läuft.“ Aus dem Mund eines Verurteilten hat der Satz ein bodenloses Echo. „Dankbarkeit“, sagt L. noch, auch das habe er gelernt. „Herr Bilic denkt, dass, wenn man Gutes tut, auch Gutes zurückkommt.“
Dimo Bilic, der dieser Stadt so dankbar ist für alles, was er in ihr werden durfte, dass er etwas zurückgeben möchte. Der sich dafür Strafgefangene erwählte. Nicht aus Mitleid, aber weil er in ihnen Menschen sieht mit einem Recht auf menschlichen Kontakt – und aufs Tischtennisspielen.
Mulmiges Gefühl beim ersten Besuch
Er selbst hat so viele Medaillen und Pokale bei internationalen Turnieren gewonnen, bei ihm zu Hause ist ein ganzes Zimmer dafür reserviert. Zehn Jahre lang fand sich sein Name unter den der besten zehn auf der jugoslawischen Rangliste, auch bei der Weltmeisterschaft in Sarajevo 1973 war er am Start. Da hatte er die Schule längst abgeschlossen, war als studierter Volkswirt bei einem großen Motorenbauer angestellt. Die Firma unterhielt geschäftliche Beziehungen mit Mercedes-Benz und wenn er doch nur in den gemeinsamen Sitzungen mal verstünde, was die Kollegen auf Deutsch erzählten …
Als er am 23. August 1973 mit einer Maschine der jugoslawischen Fluggesellschaft JAT in Schönefeld landete, waren die einzigen Worte, die Dimo Bilic auf Deutsch sagen konnte: „Guten Tag“. Er zog, vermittelt durch einen Spielerfreund, in ein Ausländerwohnheim in Wedding, als Bundesligaspieler für Hertha BSC. Nebenbei: Goethe-Institut, Deutschkurs, kleine Fortschritte, Frust. „Ich habe am Tag 20 Mal geweint“, sagt Bilic, der rührselige. „Aber zurückgehen und eingestehen, dass es nicht geklappt hat? Niemals!“ Er blieb, arbeitete als Trainer, holte seine Frau dazu. Anfang der 90er war das ihr Glück, denn in ihrer Heimat brach Krieg aus.
2011, mittlerweile pensioniert von seiner Tätigkeit als pädagogischer Mitarbeiter (und Schach- und Tischtennistrainer natürlich) an der Berliner Bröndby-Oberschule, las Bilic ein Interview mit dem linksradikalen Politaktivisten Dieter Kunzelmann, der kurz in Tegel einsaß. Spielte der nicht auch Tischtennis? Ihm kam eine Idee.
„Ich bin einfach an die Pforte gegangen und habe gefragt, ob sie einen Tischtennis-Trainer brauchen können“, sagt Bilic. Man leitete ihn weiter. Drei Monate und viele Formulare später betrat er zum ersten Mal in seinem Leben ein Gefängnis, bei sich seinen Schläger und ein paar Bälle. „Ich hatte ein mulmiges Gefühl“, erinnert er sich. Doch Angst haben heißt nicht, dass man sich ihr nicht stellen könnte. Während des Krieges im ehemaligen Jugoslawien brachte Dimo Bilic höchstselbst Hilfsgüter in seine umkämpfte Heimatstadt. Über die Jahre ist nichts vom anfänglichen Unwohlsein im Gefängnis geblieben. Die Männer wissen: „Mit mir kann keiner einen Deal machen“, sagt Bilic.
Kein Vorfall. In all den Jahren nicht
Manchmal erlebt auch seine Mannschaft, wie die Begeisterung über einen Sieg zusammenschweißt. Dann spüren die Männer, hier ja vom Leben nur zufällig zusammengeführt, plötzlich ein erhebendes „Wir“. Für kurze Zeit.
Heiko Gardt, „Jahrgang Matthias Sammer“ und ebenfalls ehemaliger Leistungssportler, ist einer der drei Sportbeamten, die Bilic bei seiner Arbeit unterstützen. Der ausgebildete Sportlehrer war im normalen Strafvollzug tätig, bevor er 2000 in den Sportbereich wechselte – ein paar Jahre bevor Herr Bilic dort zum ersten Mal auftauchte. Gardt warnte ihn, die Erwartungen an die Spieler nicht zu hoch zu hängen. Und er gab ihm praktische Tipps: „Distanz wahren, sich nicht hofieren lassen und Trainer ist Trainer – dessen Ansagen gelten.“ Dimo Bilic lernte: Wenn zum Aufwärmen Springseil gesprungen wird, anschließend die Seile zählen!
In all den Jahren sei es zu keinem Vorfall gekommen, sagen Gardt und Bilic. Wenn man den ein oder anderen vor Wut auf den Boden geschmetterten Schläger nicht zählt. Die Männer wissen aber auch: Wer sich nicht benimmt, setzt aufs Spiel, dass er weiter mitmachen darf.
Heiko Gardt formuliert das so: „Beim Anstaltssport ist es unabdingbar, dass klare Regeln – die auch für die einzelnen Sportarten nötig sind – von uns Sportbeamten vorgegeben und von den Inhaftierten eingehalten werden.“ Will heißen: „Die sollen schon lernen, dass sie sich ein Stückchen einpegeln müssen.“
Routine und Zeitrechnung
Antoni S., Teamältester, Ersatzspieler, sitzt an diesem Sonntag auf dem Platz des Schiedsrichters. Konzentriert verfolgt er das Spiel der Männer vor sich, seine hellen Augen wandern hin, her, hin, her. Pock pock, pock pock. S. lebt schon lange im Gefängnis, seit drei Jahren nun in Tegel, auch er ein Lebenslänglicher. 2025, wenn alles nach Plan läuft, darf er vielleicht raus. Dann ist er knapp 70.
„Für mich war Tischtennis kein richtiger Sport“, sagt Antoni S. lachend. Draußen, damals, trainierte er Fußballmannschaften, er leitete Eltern-Kind-Turnen und ließ sich zum Nordic-Walking-Übungsleiter ausbilden. Lange her. Tischtennis war für ihn Knastsport, nichts als Zeitvertreib. Dann traf er Dimo Bilic – und sein Ehrgeiz erwachte. Er bestellte sich einen guten Schläger, begann, die gegnerischen Mannschaften, die in die JVA kamen, um Rat zu fragen. „Welchen Belag soll ich für meinen Schläger wählen, was meint ihr?“ Heute hält ihn das Training nicht nur fit, es ist für ihn lieb gewonnene Routine und Zeitrechnung zugleich: Jede gespielte Stunde ist eine Stunde weniger bis 2025.
Die Staakener gewinnen das Turnier entschieden. „Bleiben Sie noch“, fragt Dimo Bilic, „und spielen mit meinem Team ein bisschen, einfach so?“ Na klar! Er stellt diese Frage nach jedem Spiel und meistens haben die von draußen nichts dagegen. Alle verteilen sich an die drei Platten in der Halle und spielen noch ein halbes Stündchen – bis die anberaumte Zeit für den Spieltag vorüber ist.
„Für die Männer“, sagt Dimo Bilic, „ist das wie ein Fenster nach draußen.“