Gefängnisse in Berlin: JVA Tegel soll ausbruchssicher werden
Berlins Justizsenator Behrendt will nach den Ausbrüchen aus der JVA Tegel Maßnahmen ergreifen. Mitarbeiter kritisieren diese als "puren Aktionismus".
Jetzt wird genau gezählt, jetzt können die Leute nicht einfach kommen und gehen wie früher. Jetzt wird in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Tegel genau dokumentiert, wer bei der Freistunde den Hof verlässt und wann er wieder kommt. Der eine muss auf die Toilette, der andere hat in seiner Zelle Zigaretten vergessen, es gibt genügend Gründe, zu verschwinden. Kurz zumindest.
Hamed Mouki ist ganz verschwunden, er ist immer noch auf der Flucht. Der Libyer hatte wegen Diebstahls und Erpressung seine Zelle in Tegel, er verschwand vor drei Wochen wahrscheinlich erst aus der Freistunde, dann, festgeklammert unter einem Lkw, ganz aus der JVA.
Deshalb wird jetzt genau gezählt. Aber das ist nur eines von vielen Details. Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne) reagierte auf die Flucht mit einem ganzen Maßnahmenkatalog. Der wichtigste Punkt: 50 neue Angestellte, Einsatz: zeitlich befristet. Sie sollen vor allem in Tegel eingesetzt werden. Und Behrendt? Ist zufrieden.
Zwei langjährige Mitarbeiter der JVA Tegel aber sagen: „Das ist purer Aktionismus“ und: „Das ist wilde Hysterie. Dieser Katalog bringt letztlich gar nichts.“
Einige der neuen Mitarbeiter sollen zum Beispiel „die Außenlinie kontrollieren“. Also das Areal der JVA Tegel entlang der Außenmauer. „Was für ein Schwachsinn“, sagt Helmut Becker*, seit mehr als 20 Jahren in der JVA beschäftigt. „Das ist schon deshalb sinnlos, weil die JVA nicht bloß eine mehrere Meter hohe Mauer, sondern davor extra noch einen ebenso hohen Zaun mit Signalanlagen und Nato-Stacheldraht hat.“ Dieser Zaun wurde vor ein paar Jahren gebaut. Der letzte Ausbruch über die Mauer fand 2002 statt. Seither gab es auf diesem Weg keinen Ausbruch mehr. „Bevor einer überhaupt bis zur Mauer kommt, ist er längst gefasst.“
Neue Mitarbeiter ohne Kompetenzen
Ein Kernproblem, sagt Jörg Kunze*, 34 Jahre JVA-Tegel-Erfahrung, sei der Status der neuen Mitarbeiter. Sie sind nur Angestellte, keine Beamte. Sie dürfen keine hoheitlichen Aufgaben übernehmen, sprich: sie dürfen zum Beispiel keinen körperlichen Zwang ausüben. „Aufgaben sind beispielsweise die Aufsicht und das Absuchen von Freistundenhöfen“, sagt ein Sprecher des Justizverwaltung des Senats.
Aufsicht? Ist ja schön und gut, sagt Kunze, es gebe bloß schon ein Problem, wenn ein Päckchen über die Mauer fliege und von einem Gefangenen aufgehoben werde. „Wenn der neue Mitarbeiter das sieht, darf er das Päckchen nicht wegnehmen. Stattdessen muss er einen beamteten Kollegen alarmieren.
Aber bis der da ist, ist das Päckchen im Zweifelsfall längst weg, bei einem anderen Gefangenen zum Beispiel, das geht ruckzuck.“ Solche Bedienstete könnten eigentlich auch niemanden zum Arzt begleiten, weil sie dem Gefangenen bei Bedarf gar keine Handschellen anlegen dürfen.
Selbst die Zählung bei den Freistunden überzeugt Kunze nicht. „Damit haben sie ein Loch geschlossen, aber es gibt noch viele andere.“ Ein Gefangener könne zum Beispiel auf dem Weg zum Betrieb verschwinden. Wenn er nicht auftauche, werde das zwar vom betreffenden Meister vermerkt. „Aber da kommt dann ein Kumpel des Gefangenen und sagt: Der musste aufs Klo, der kommt gleich. Dann hat der Meister ein Dutzend andere Aufgaben, und bis der sich daran erinnert, dass da einer ja noch fehlt, ist der Gefangene längst weg.“
Der Mangel an beamteten Bediensteten muss behoben werden
Der Maßnahmenkatalog sieht auch vor: „Reduzierung des Lkw-Verkehrs auf das unbedingt Nötige und strenge Überwachung der Lkw während des Aufenthalts auf dem Anstaltsgelände .“ Da schüttelt Kunze nur den Kopf. „Der Lkw-Verkehrs ist schon aufs Nötigste reduziert, ich weiß gar nicht, was da noch weiter reduziert werden könnte.“
Und eine strenge Überwachung der Lkw? „Das geht in der Theorie, in der Praxis nicht. Da steht doch niemand stundenlang neben den Lkws. Und wenn, dann quatscht ihn einer an und lenkt ihn ab.“ Am sinnvollsten, sagt Kunze, wäre eine Kfz-Grube, wie sie Werkstätten haben, damit sie unter einem Fahrzeug arbeiten können. Dann könnte man einen Lkw genau untersuchen, nicht bloß mit Spiegeln wie jetzt. Aber so etwas gibt es in Tegel nicht.
Zu den Maßnahmen der Senatsverwaltung gehören auch: „rotierende Schichtzusammensetzungen und wechselnde Einsatzorte beim Pfortenpersonal“. Da kann der JVA-Routinier Helmut Becker nur müde lächeln. „Es gibt nicht so viele Leute, dass man die Schichten oft neu zusammenwürfeln kann. Wir haben ein Sieben-Tage-Schicht-System, da musst du auch auf Ruhezeiten achten.“
Für den Mangel an beamteten Bediensteten kann Justizsenator Behrendt nichts, diese Sparmaßnahmen müssen seine Vorgänger politisch verantworten. „Aber solange dieser Punkt nicht gelöst ist, helfen auch schnelle Maßnahmen wenig“, sagt Becker. Der geflohene Libyer narrte die Bediensteten, indem er eine Attrappe in sein Bett gelegt hatte, die zuerst niemand erkannte.
„Dass die Bediensteten dies übersehen haben“, sagt Becker, „liegt auch daran, dass sie beim Auf- und Einschluss keine Zeit mehr haben. Anders ist die Masse von Gefangenen nicht mehr zu bewältigen.“ Es sei nicht unüblich, dass auf zwei Stationen nur ein Bediensteter Dienst mache.
Also muss die JVA Tegel auch weiter auf Glückstreffer hoffen, so wie vor wenigen Jahren, als ein Ausbruch kurios scheiterte. Ein Gefangener hatte sich in einem Lieferwagen versteckt, der Brot aus der JVA-eigenen Bäckerei abtransportiert hatte. An einer Ampel versuchte der Flüchtige aus einer Dachluke des Justiz-Lieferwagens zu klettern. Und damit war die Flucht zu Ende. Denn hinter dem Lieferwagen wartete zufällig ein Auto, an dessen Steuer eine besondere Frau saß: eine Mitarbeiterin der JVA Tegel, die gerade Feierabend machte.
*Name geändert
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